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Titel: Jean Monnet: Der „Gründervater Europas“ – die erneuerte Legende
Datum: 27. April 2021 um 11:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Europapolitik, Europäische Union, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
„Der Mann im Schatten. Die unglaubliche Geschichte des Jean Monnet“ – so der Titel der ARD-Sendung in der Nacht vom 26. auf den 27. April 2021. Der ehemalige luxemburgische Premierminister und spätere Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, lobte Monnet als „europäischen Visionär“, der als Macher hinter den Kulissen alle alten Nationalismen überwunden habe, allein durch seine Gabe, auch bei den wichtigsten Politikern wie Eisenhower, Churchill und Adenauer, „Vertrauen zu schaffen“. Doch diese mit schönen alten Filmaufnahmen wieder aufgewärmte Legende über den „Gründervater Europas“ zeigt ein geschöntes „Europa“, das in Freund und Feind geteilt wurde und wieder wird und die populistischen Versprechen auf Frieden, Wohlstand und Demokratie von vornherein nicht erfüllen konnte. Die wichtigsten US-Akteure wie US-Außenminister John F. Dulles und CIA-Chef Allen Dulles werden in der ARD-Sendung nie genannt. Dazu ein Auszug aus dem Buch von Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr (Köln 2020). Die Quellenangaben wurden weggelassen. Von Werner Rügemer.
Monnet, geboren 1888 in Cognac/Frankreich, verkaufte zunächst als Unternehmer Cognac mit den Marken Martell und Henessy in alle Welt. In der Reparationskommission des 1919 gegründeten Völkerbundes und von 1920 bis 1923 als dessen stellvertretender Generalsekretär befreundete er sich mit dem dort ebenfalls tätigen, regierungsnahen Wall Street-Anwalt John F. Dulles, der nach dem 2. Weltkrieg US-Außenminister wurde und Bruder des Wall Street-Anwalts Allen Dulles war, der nach dem 2. Weltkrieg CIA-Chef werden sollte: Mit beiden wird Monnet dann die Geschicke Europas prägen.
Banker in den USA
So fand er den Einstieg als Unternehmer und Banker in den USA. Große Gewinne machte er hier als Alkoholhändler während der Prohibition, die zwischen 1920 und 1933 illegalen Handel beförderte. Seine Firma Hudson Bay Company verkaufte Alkohol auch an Indianer. Mit den Gewinnen gründete Monnet 1929 in San Francisco die Bank Bancamerica. Er vertrat gleichzeitig die US-Zentralbank Federal Reserve bei der französischen Zentralbank Banque de France.
In den 1930er Jahren finanzierte er zusammen mit der London-New Yorker Investment-Bank Lazard Eisenbahnlinien für die feudal-kapitalistische Regierung von General Tschang Kaischek in China, der auch von der US-Regierung, Mussolini und Hitler unterstützt wurde: Generäle der US-Army wie auch der Hitler-Wehrmacht – von Seeckt und von Falkenhausen – dienten als Militär- und Industrieberater; IG Farben, Heinkel, Rheinmetall, Messerschmidt und Krupp rüsteten Tschiangs Armee auf genauso wie dies US-Rüstungskonzerne taten. 1935 gründete Monnet mit Dulles in New York die Bank Monnet Murname: Die ganze Welt wurde Geschäftsgebiet.
„De Gaulle muss zerstört werden!“
1938 organisierte Monnet US-Kredite, damit Frankreich US-Kampfflugzeuge kaufen und die eigene Flugzeugindustrie modernisieren konnte. 1939 initiierte er eine französisch-britische Kommission, um für den absehbaren Krieg gegen Deutschland Rüstungsgüter zu beschaffen, vor allem in den USA. Im Auftrag der britischen Regierung unter Winston Churchill koordinierte er von 1940 bis 1943 in der Roosevelt-Regierung die britischen Kreditaufnahmen und Rüstungskäufe in den USA.
1943 organisierte Monnet als Hochkommissar Roosevelts für die französischen Kolonien Nordafrikas – Algerien, Tunesien, Marokko – die Integration des dort stationierten französischen Militärs unter dem faschistischen und antisemitischen General Henri Giraud in das einmarschierende britische und US-Militär.
Monnet unterstützte nach außen hin die einflussreiche Widerstandsbewegung „Freies Fankreich“ von General de Gaulle. Monnet brauchte das in der Öffentlichkeit als einen Nachweis seiner Anti-Hitler-Einstellung, hasste aber de Gaulle wegen dessen Konzept der nationalen Souveränität Frankreichs. Zudem vermied Monnet durch seine formale Unterstützung de Gaulles die Aufwertung der noch stärkeren und populäreren Résistance der Linken. Seine wirkliche Einstellung zeigte der zukünftige „Gründungsvater Europas“ nur heimlich. Er forderte am 6. Mai 1943 aus Algier die US-Regierung auf: Mit de Gaulle ist keine Verständigung möglich, er ist ein Feind der „europäischen Konstruktion“ und des „europäischen Wiederaufbaus“: Er muss deshalb „zerstört werden“.
1943: Konzept für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
1943, als der Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland absehbar war, konzipierte Monnet im Auftrag Roosevelts für die Nachkriegszeit – im Kontext des „Victory Program“ – die „Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft“: Die im Krieg entwickelten Produktions-, Handels- und Kreditbeziehungen der USA mit Europa sollten auf Friedensbedingungen umgestellt und erweitert und der US-Führung unterstellt werden. Dabei sollte das „Vereinte Europa“ nur eine Wirtschafts-Gemeinschaft sein, also keine selbständige politische Gemeinschaft.
Die USA mussten wegen dessen öffentlichen Renommés General de Gaulle nach der Befreiung Frankreichs 1944 eine provisorische Regierung bilden lassen, unter Einschluss von Ministern aus der Résistance, darunter Kommunisten. Aber die USA anerkannten diese Regierung nie und brachten schon 1946 de Gaulle zum Rücktritt. Sie platzierten Monnet in die neue, „christlich“ geführte Regierung als Leiter der neu geschaffenen Planungsbehörde: Er organisierte die „Modernisierung“ der französischen Wirtschaft, vielfach mithilfe von US-Krediten. Monnet behielt diese Funktion bis 1950, unter wechselnden Regierungen.
So wurde Monnet der mächtigste Mann in Frankreich, ohne ein Ministeramt zu haben. Er war der Verbindungsmann zwischen US-Regierung, Wall Street, der Marshall-Plan-Behörde in Paris und der Regierung. Er arbeitete mit dem 1948 vom CIA-Chef Allen Dulles gegründeten American Committee on United States of Europe (ACUE) zusammen. In dieser vielfach mit US-Akteuren vernetzten Funktion hatte Monnet schon vor dem Marshall-Plan für die Modernisierung der französischen Stahlindustrie einen 550 Millionen Dollar-Kredit mit den USA ausgehandelt.
1950: Konzept für die Montanunion
1950 präsentierte der französische Außenminister Robert Schuman den „Schuman-Plan“ – Schuman hatte kein Wort daran selbst geschrieben. Der Plan stammte von Monnet: Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, EGKS, kurz Montanunion genannt, sollte der erste Schritt sein hin zu „einer viel breiteren und tieferen Gemeinschaft von Völkern, die lange Zeit unter blutigen Trennungen gelitten haben“.
Den Kern der EGKS bildeten allerdings diejenigen, die nicht unter den beschworenen „blutigen Trennungen“ gelitten, sondern im Weltkrieg unter NS-Regie zusammengearbeitet hatten: (west)deutsche Konzerne, so die Thyssen-Hütte, Krupp, Mannesmann, Preussag, Salzgitter (= die Ex-Hermann Göring-Werke), Klöckner, Hoesch, Saarstahl, Dillinger Hüttenwerke, Otto Wolff, Gutehoffnungshütte und diverse Unternehmen des Flick-Konzerns. Aus Frankreich waren beteiligt z.B. die Unternehmen der de Wendel- und Schneider-Gruppe, etwa Usinor und Sidelor, aus Luxemburg ARBED, aus den Niederlanden Hoogovens, aus Belgien Cockerill und Usines Gustave Boel. In Italien sollte diese Industrie erst aufgebaut werden.
Super-Bürokratie mit US-Vätern
Monnet wurde 1952 als „Hochkommissar“ der erste Chef der Montanunion. Er war mit den für die Neugestaltung Europas verantwortlichen US-Akteuren persönlich befreundet. Mit dem Wall Street-Banker John McCloy, damals Hoher Kommissar für die Bundesrepublik und Schatzmeister der ACUE, mit dem Banker und US-Außenminister Dean Acheson. Mit seinem früheren Banker-Kollegen und nunmehrigen US-Außenminister John Foster Dulles stimmte er sich ab, mit dem neoliberalen Chefideologen und weltweit bestbezahlten Vielfach-Journalisten Walter Lippmann war er im Austausch. Durch seine Beziehungen zur Wall Street konnte er Sonderkredite für die EGKS aushandeln, die von der US-Regierung garantiert wurden.
Das bürokratische Leitungsgebilde unter Monnet hieß „Hohe Behörde“. Diese Bezeichnung wurde aus den USA übernommen (High Authority). Die Funktionsbezeichnung „Hochkommissar“ wurde aus seiner Funktion als Hochkommissar der US-Regierung während des Krieges in Nordafrika weitergeführt. Die Begriffe drücken das autoritäre, antidemokratische Selbstverständnis aus. Die Leitungsbeamten waren für 6 Jahre ernannt, wurden höher bezahlt als die Regierungschefs der Vertragsstaaten, waren steuerlich begünstigt, hatten exterritorialen Status und waren von strafrechtlichen Ermittlungen ausgenommen.
Der Gründungsvertrag wurde von Monnet entworfen, die Ausformulierung lag bei der US-Kanzlei Cleary, Gottlieb, Friendly & Ball. Die war eine regierungs- wie bank- und konzernnahe Wirtschaftskanzlei. Miteigentümer Ball war George W. Ball, Jurist und Banker, Berater im Marshall-Plan, schließlich stellvertretender US-Außenminister.
Die autoritäre Super-Bürokratie hatte ihren Sitz im Großherzogtum Luxemburg. Dessen Herrscherfamilie hatte während des Krieges in Nordamerika gelebt und enge Beziehungen zur Roosevelt-Regierung geknüpft. Der Ministaat, politisch als parlamentarische Monarchie organisiert, von der US-Army befreit, die auch den Grundstein für den europaweit ausstrahlenden Privatsender Radio Luxembourg legte, entwickelte seine nach dem 1. Weltkrieg begonnene Funktion als Finanzoase nun weiter. Hierher wurde auch der Sitz der Montanunion verlegt.
Europaweites Management billiger Wanderarbeiter
Die Hohe Behörde koordinierte in Absprache mit den Regierungen der beteiligten Staaten die grenzüberschreitende Beschaffung von Arbeitskräften. Das war in den Artikeln 68 und 69 des EGKS-Gesetzes geregelt. Die Facharbeiter sollten sich grenzübergreifend frei bewegen können, ihre Facharbeiterabschlüsse sollten harmonisiert werden. Für die schnelle Migration der Niedrigqualifizierten sollten die nationalen Regierungen die Einwanderungsgesetze umgestalten.
So holte die Montanunion aus den armen Regionen von Nicht-Mitgliedsstaaten billige Wanderarbeiter, zunächst mit kurzfristigen Arbeitserlaubnissen, insbesondere nach Frankreich, Belgien, Luxemburg und ins Ruhrgebiet.
Dabei spielten auch außen- und militärpolitische Gesichtspunkte eine Rolle. In die Bundesrepublik Deutschland wurden auch dann Arbeitskräfte geholt, wenn Arbeitslosigkeit herrschte und Millionen Ostflüchtlinge integriert werden mussten. So kam das Einwanderungsgesetz mit Spanien auch deshalb zustande, weil Diktator Franco wegen der Mitgliedschaft in der NATO umworben wurde und aufruhrverdächtige Arbeiter loswerden wollte.
Das weit entfernte Südkorea war wegen des Krieges und des dortigen Ausbaus der US-Präsenz wichtig, auch von dort wurden Arbeitskräfte geholt. Ebenso wurde das NATO-Gründungsmitglied Portugal belohnt – Diktator Salazar wollte seine armen und für den „Kommunismus“ anfälligen jungen Männer zumindest zeitweise loswerden.
Bilanz: Die Montanunion als Keimzelle der EU
Die EGKS wurde in vielfacher Hinsicht zur Keimzelle der Europäischen Union:
Bruch der Versprechen auf Frieden, Wohlstand und Demokratie
Die Montanunion war ein antidemokratisches Projekt. Die Rechte und Interessen der privaten Kapitaleigentümer waren die Leitlinie. Die universellen Menschenrechte, die Arbeitsrechtse der ILO und das Völkerrecht wie von der UNO nach dem 2. Weltkrieg beschlossen, blieben unbeachtet. Diktaturen wie Spanien, Portugal und die Türkei waren selbstverständliche Kooperationspartner.
Das in der EGKS begonnene Management des ArbeitsUnrechts und der Arbeitsmigration wird weiter ausgebaut mit der Folge wachsender Verarmung großer Teile der abhängig Beschäftigten, in den reichen westlichen Gründungsstaaten selbst wie in den Peripherie-Staaten, die neu in die EU aufgenommen werden oder Anwärter-Status haben. „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ ist die Parole: Der Arbeitskräftebedarf und die Arbeitsbedingungen werden durch die Konzerne definiert und durch die EU verrechtlicht und koordiniert.
Gleichzeitig entwickelte sich mit der EGKS und um ihrem bis 1954 agierenden Chef Monnet im abgeschirmten kleinen Großherzogtum Luxemburg „eine Elite hoher europäischer Funktionäre, deren Rolle sich mit den Römischen Verträgen 1957 weiter entfalten sollte“, so der Monnet-Biograf Eric Roussel.
Titelbild: Screenshot ARD
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