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Titel: Heuchelei hat Hochsaison

Datum: 26. April 2021 um 11:27 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Strategien der Meinungsmache
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Die Protestaktion „#allesdichtmachen“ sei eine Verhöhnung derer, die jeden Tag an ihre Grenzen gehen, um auf den Intensivstationen das Leben Covid-19-Erkrankter zu retten. Diesen Satz hörte und las man in den letzten Tagen häufiger. Da bleibt einem wirklich die Spucke weg. Wo waren denn die moralinsauren selbsternannten Anwälte der Pflegekräfte vor Corona? Hat einer der Empörten sich eigentlich jemals für die Situation in den deutschen Krankenhäusern interessiert, wenn es nicht darum ging, die Corona-Politik der Bundesregierung zu verteidigen oder gar schärfere Maßnahmen zu fordern? Die Instrumentalisierung von Pflegekräften für die eigenen Belange hat mittlerweile ein Maß erreicht, das kaum mehr erträglich ist. Die Heuchelei hat Hochsaison. Ein Kommentar von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der niederträchtigste aller Schurken ist der Heuchler, der dafür sorgt, dass er in dem Augenblick, wo er sich am fiesesten benimmt, am tugendhaftesten auftritt.
– Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.)

Um es vorwegzunehmen: Bitte verzeihen Sie mir den sicherlich emotionalen Tonfall dieses Kommentars. Aber ich bin bei diesem Thema – wie man so schön sagt – familiär vorbelastet. Meine Frau arbeitet selbst als Krankenschwester mit Corona-Patienten. Ja, die Situation auf den Stationen ist prekär. Aber das ist sie nicht erst seit Corona. Die desolaten Arbeitsbedingungen in den deutschen Krankenhäusern sind seit mehr als zehn Jahren bekannt. Dass Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern sowohl physisch als auch psychisch an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und oft darüber arbeiten, ist keine Folge von Corona, sondern der traurige Normalzustand. Die Politik weiß das und auch die Leitartikler und die dauererregte und empörte Twitter-Gemeinde weiß das. Wirklich interessiert hat dies jedoch niemanden. Hin und wieder wird die Pflegekatastrophe zwar mal kritisch zur Kenntnis genommen, doch schon einen Wimpernschlag später muss man ja die nächste Sau durchs virtuelle Dorf treiben. Sorry, liebe Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern – wir sind zwar ganz doll solidarisch, haben aber Wichtigeres zu tun. Aber wir sind in Gedanken bei euch.

Mit den Privatisierungen fing es vor rund 20 Jahren an. Dann wurde die Situation von Jahr zu Jahr schlimmer. Schon vor fünf Jahren sagte mir meine Frau, dass man nun am absoluten Limit arbeite. Früher betreute eine Pflegekraft im Normalbetrieb 10 Patienten, heute sind es 20 und wenn mal wieder eine Kollegin ausfällt, können es auch mal 40 sein. Und die Kolleginnen fallen oft aus. Die psychische und physische Überbelastung fordert natürlich ihren Tribut. Tränen, Verzweiflung und Zusammenbrüche sind an der Tagesordnung. Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Doch gerade die, die sich jetzt auf das höchstanzunehmende Ross setzen und von einer Verhöhnung der Pflegekräfte schwadronieren, glänzten eher durch Wegschauen.

Dabei war doch die „arme Krankenschwester“ in den letzten Jahren in der politischen Debatte allgegenwärtig. Kein Wahlkampf, kein Fernsehduell, in denen die Kandidaten nicht die Krankenschwestern – gern mit dem Attribut „alleinerziehend“ verbunden – für ihre Zwecke instrumentalisiert hatten. Passiert ist jedoch nichts. Sobald die Wahlzettel in die Urnen geschmissen wurden, verschwand die „arme Krankenschwester“ wieder in der medialen und politischen Versenkung und auf den Stationen wurde die Situation immer prekärer. Ist diese Instrumentalisierung der Pflegekräfte etwa keine Verhöhnung?

Und dann kam Corona. Plötzlich rückten die Pflegekräfte einmal mehr in den politischen und medialen Fokus. Es ginge darum, einen Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern; gerade so, als sei der Kollaps nicht längst die Normalität. Es wurde geklatscht und es wurden Maßnahmen verabschiedet, die jedoch nichts mit dem Gesundheitssystem zu tun hatten. Auf die naheliegende Idee, die Krise als Chance zu begreifen und endlich die politischen Weichenstellungen auf den Weg zu bringen, um die Situation in den Krankenhäusern nachhaltig zu verbessern, kam jedoch „erstaunlicherweise“ niemand. Danke für den Applaus. Danke für nichts.

Es gibt wohl keinen anderen Berufsstand, der permanent derart schäbig instrumentalisiert wird. Ausgangssperren, Schulschließungen, der dauerhafte Shutdown von Kultur und Gastronomie? Ja, das tut uns ja auch weh, aber denken Sie doch bitte an die fleißigen Pflegekräfte auf den Intensivstationen, die Überschichten schieben und bis an ihre Grenzen belastet sind. Das, liebe Meinungsmacher, sind sie ohnehin. Auch wenn es Corona nicht gäbe. Und es gäbe doch auch eine naheliegende Antwort auf diesen Notstand. Hat eigentlich irgendeiner dieser Dauerempörten auf Twitter schon mal eine radikale Gesundheitsreform gefordert? Eine Rekommunalisierung der privatisierten Häuser? Einen Pflegeschlüssel, der seinen Namen verdient und dessen Verletzung hart sanktioniert wird? Eine echte Anpassung der Löhne für die „Coronaheld*innen“? Ein nationales Ausbildungsprogramm, um den Personalmangel zu beseitigen? Nein? Warum nicht?

Es ist bigott, eine Berufsgruppe, die einen ansonsten nicht die Bohne interessiert, in dieser Art und Weise zu instrumentalisieren. Es ist heuchlerisch, sich mit seinen eigenen Forderungen nach harten Maßnahmen ausgerechnet hinter dem Pflegepersonal zu verstecken. Und es ist hochgradig schäbig, die prekäre Lage der Krankenhäuser, die eine direkte Folge des neoliberalen Wahnsinns ist, als „Argument“ ins Spiel zu bringen, um Kritiker der Regierungspolitik moralisch zu diskreditieren.

Man glaubt es kaum, auch Krankenschwestern und Ärzte sind allen voran Menschen. Menschen, die Kinder haben. Menschen, die gerne in den Urlaub fahren würden. Menschen, die selbst und gerade wegen ihres stressigen Jobs nach Ablenkung, Kultur und Leben lechzen. Menschen, die genauso wie wir alle unter undifferenzierten, überzogenen und zum Teil widersinnigen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung leiden. Also Menschen, die von der Protestaktion der Schauspieler nicht verhöhnt, sondern angesprochen wurden.

Meine Frau fand die Videos übrigens klasse und hat sich sehr gefreut, dass „endlich wer den Mund aufmacht“ – sie hat sie übrigens nach einer Zehnstunden-Schicht geschaut, weil wieder einmal eine Kollegin ausgefallen ist. Den Vorwurf, die Schauspieler hätten ausgerechnet sie verhöhnt, kann sie nicht einmal im Ansatz nachvollziehen. Aber vielleicht erklären ihr die meinungsstarken Twitter-Heuchler das ja mal näher. Sie ist schließlich nur eine arme Krankenschwester und kann natürlich nicht verstehen, was in den Köpfen der Schriftgelehrten so vor sich geht.

Titelbild: Brookie Cookie/shutterstock.com


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