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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Schuldenbremse: Bankrotterklärung der Mainstream-Ökonomik
Datum: 22. April 2021 um 14:38 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Finanzpolitik, Schulden - Sparen
Verantwortlich: Redaktion
Wissenschaft, so haben wir das einst gelernt, ist der immerwährende Versuch, die Welt zu verstehen. Die große Mehrzahl der Ökonomen hat sich von diesem Konzept verabschiedet, was sich nirgendwo besser als an der Diskussion der Schuldenbremse zeigen lässt.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte: Der jüngste ifo-schnelldienst (ifo-schnelldienst 4/2021) hätte ihn erbracht: Das, was die große Mehrzahl der Ökonomen betreibt, hat nichts mit Wissenschaft zu tun. Der Vorgang ist leicht zu verstehen: Ein Institut, das weitgehend vom Staat finanziert wird und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollte, lädt 13 Autoren zu einer Diskussion über die Schuldenbremse ein – und zwar unter dem Obertitel „Zur Diskussion gestellt“. Von Heiner Flassbeck mit freundlicher Genehmigung von Makroskop.
Dieser Artikel ist zuerst auf Makroskop erschienen. Die NachDenkSeiten freuen sich, ihn mit freundlicher Genehmigung des Autors und von Makroskop ihren Lesern zur Verfügung zu stellen.
Doch was wurde in Wirklichkeit zur Diskussion gestellt? Offenbar geht es bei der Schuldenbremse um die Frage, ob der Staat in einer bestimmten, uns durchaus bekannten deutschen Wirtschaft jenseits von Ausnahmesituationen wie dem Corona-Schock einen Einnahmeüberschuss (einen Überschuss der staatlichen Einnahmen über die Ausgaben erzielen soll, was wir meist „Sparen“ nennen oder Unter-den-Verhältnissen-leben), oder umgekehrt, einen Überschuss der staatlichen Ausgaben über die Einnahmen (was wir „Schulden machen“ nennen oder Über-den-Verhältnissen-leben).
Was müsste einem Wissenschaftler in den Sinn kommen, der sich mit der Volkswirtschaft beschäftigt und zu den Schulden des Staates Stellung beziehen soll? Die Volkswirtschaft einzubeziehen, kann wohl nur bedeuten, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, auf welche Weise die Einnahmen und die Ausgaben des Staates sowie der Saldo mit den Ausgaben und Einnahmen der anderen Sektoren der Volkswirtschaft korrespondieren – oder auch nicht. Weder die Einnahmen des Staates noch seine Ausgaben lassen die anderen Sektoren unberührt.
Hinzu kommt, in einer Marktwirtschaft gibt es einen Sektor, der kein festes Einkommen bezieht, weil er am Ende aller Anpassungsprozesse steht und das Einkommen erhält, das übrigbleibt, wenn alle vertraglich fixierten Einkommen abgegolten worden sind. Das ist der Unternehmenssektor. Sein Einkommen, der Gewinn, ist ein Residualeinkommen. Das, was der Staat in Sachen Schulden tut, schlägt sich folglich zumindest unmittelbar in den Unternehmensgewinnen nieder. Weiß man zudem als Volkswirt, dass das Nettogeldvermögen und die Nettoschulden der Welt immer genau gleich null sind (weil niemand über seinen Verhältnissen leben kann, wenn nicht gleichzeitig ein anderer unter seinen Verhältnissen lebt) ist die Aufgabe, die sich bei der Diskussion der Schuldenbremse stellt, klar umrissen.
Das alles aber weiß offensichtlich keiner der vom ifo-Institut eingeladenen Volkswirte einschließlich der Volkswirte aus den eigenen Reihen, die das Institut zu Wort kommen lässt. Sucht man in den gesamten Texten nach „Finanzierungssalden“ ist das Ergebnis Null, bei „Unternehmensgewinnen“ ebenso und von „Leistungsbilanzüberschüssen“ hat scheinbar noch nie jemand etwas gehört. Ist das Nachlässigkeit, ein Versehen oder hat das System? Kann es sein, dass die Volkswirte ihr eigenes Untersuchungsobjekt aufgegeben haben und als Betriebswirte oder Haushaltsexperten herumdilettieren?
Wilhelm Lautenbach hat es schon vor fast hundert Jahren erklärt
Die Tatsache, dass das Geldvermögen einer geschlossenen Volkswirtschaft immer Null ist, liefert den Schlüssel zu einer eindeutigen und absolut unbestreitbaren Analyse. Alle Überschüsse und alle Defizite inklusive des Gewinns der Unternehmen, auf den es nach allgemein herrschender Auffassung für die gesamte Dynamik der Volkswirtschaft und damit letztlich auch für die staatlichen Schulden ankommt, ist nur in diesem logischen Korsett angemessen zu analysieren.
Diese Erkenntnis haben im Gefolge der Weltwirtschaftskrise mehrere Ökonomen nahezu gleichzeitig entwickelt. Einer davon war Wilhelm Lautenbach, der hoher Beamter des Reichswirtschaftsministeriums während der großen Krise von 1929/30 und danach war. Er hatte in großer Klarheit erkannt, dass die damals und heute herrschende Lehre einen entscheidenden logischen Defekt aufwies: Sie analysierte die Wirtschaft auf eine Weise, die unterstellte, dass Angebot und Nachfrage nicht nur für das einzelne Unternehmen und den einzelnen Haushalt unabhängig voneinander gegeben sind, sondern auch für die Gesamtwirtschaft. Das aber konnte nicht stimmen, folgerte Lautenbach, weil man leicht zeigen kann, dass es für den Unternehmenssektor auf keinen Fall gilt.
Lautenbach teilte das gesamte Einkommen (E) der Volkswirtschaft in Unternehmereinkommen (EU) auf der einen Seite und Nichtunternehmereinkommen (EN) auf der anderen auf. Da das gesamte Volkseinkommen (auf der Nachfrageseite) nur aus Konsum (V) und Investition (I) bestehen kann, schrieb er:
EU + EN = E = I + V
Lautenbach folgerte daraus: „Da aber das Einkommen der Nichtunternehmer pari passu mit der Produktion unmittelbar gegeben ist, eben durch die Höhe der Entschädigungen, die die Unternehmen an die Nichtunternehmer zahlen, während das Unternehmereinkommen gerade unbestimmt ist, erst auf dem Markt festgestellt wird, so hat es einen Sinn, diese Gleichung nach EU aufzulösen“. Nach einigen einfachen Umformungen entsteht:
EU = I + VU – SN
Das bedeutet, dass das Einkommen der Unternehmer immer gleich ist dem Wert der Investition zuzüglich des Verbrauchs der Unternehmer selbst, aber abzüglich der Ersparnisse aller Nichtunternehmer, also auch der des Staates. Staatliches Sparen schlägt sich unmittelbar als Verminderung des Gewinns der Unternehmen nieder und staatliche Ausgabenüberschüsse (Schulden) vergrößern die Gewinne der Unternehmen. Wer über staatliche Schulden redet, ohne diesen Zusammenhang zugrunde zu legen, bleibt vollkommen irrelevant.
Offensichtlich ist es so, dass jede Ausgabenkürzung, wo immer in der Volkswirtschaft sie vorgenommen wird, gleichartige negative Auswirkungen auf die Gewinne der Unternehmen hat. Ob es die privaten Haushalte sind, der Staat, die Unternehmen selbst oder die gleichen Akteure in den Ländern, die mit uns Handel treiben (das Ausland), immer führt eine Kürzung der Ausgaben einer dieser Gruppen bei gleichbleibenden Einnahmen dazu, dass die Gewinne der Unternehmen sinken.
Die Unternehmen nutzen und schaden sich selbst
Besonders eklatant ist das im Falle der Unternehmen. Reagieren die Unternehmen auf Ausgabekürzungen anderer Sektoren mit eigenen Ausgabekürzungen, was den Normalfall darstellen dürfte, verschlechtern sie unmittelbar die Situation aller Unternehmen weiter, weil ihre Kürzungen nichts anderes bedeuten als Einnahmeausfälle für andere Unternehmen.
Dieses Phänomen kann man in seiner grundsätzlichen Bedeutung kaum überschätzen. Das heißt nämlich, dass es für das marktwirtschaftliche System ohne Intervention des Staates keine Möglichkeit der Selbststabilisierung im Falle eines negativen Nachfrageschocks gibt. Eine einmal ins Rollen gebrachte Lawine ist nicht mehr zu stoppen. Umgekehrt gilt, dass investierende und sich verschuldende Unternehmen die Situation aller Unternehmen ständig verbessern, ohne dass es dafür eine „natürliche“ Grenze gäbe. Der Zyklus der Konjunktur mit seiner offenkundigen Neigung, in beiden Richtungen zu „überschießen“, findet hier eine systematische Erklärung.
Für die Interventionen der Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit war diese Erkenntnis von enormer Bedeutung. Es bedurfte nicht unbedingt dauernder Eingriffe mit höherer staatlicher Verschuldung, sondern es genügte in der Regel, durch eine antizyklische Maßnahme die Richtung zu ändern, in der die Unternehmen die Anpassung an eine sich ändernde Einnahmesituation vornehmen. In der neuen Welt, wo die Unternehmen praktisch immer sparen (siehe Schaubild weiter unten), wie das in den meisten Ländern der Welt seit über zehn Jahren der Fall ist, ist der Staat allerdings permanent gefordert, neue Schulden zu machen, weil es sonst niemals aufwärts geht.
Auch „das Ausland“ respektive die dort agierenden Gruppen können mit der Kürzung ihrer Ausgaben (mit vermehrtem „Sparen“) die Situation der inländischen Unternehmen verschlechtern und umgekehrt mit mehr Ausgaben für Importe die inländischen Unternehmen zu eigenen Investitionen anregen. Es zeigt sich an diesen schlichten Überlegungen, dass der repräsentative Haushalt, von dem die herrschende neoklassische Theorie glaubt, dass er mit seiner Entscheidung über mehr oder weniger Sparen aus einem gegebenen Einkommen, die Weltwirtschaft lenkt, eine geradezu lächerliche Figur ist. Das Gleichgewichtsdenken allgemein trägt in kaum zu überschätzender Weise zur allgemeinen Verwirrung bei. Für die Wirklichkeit komplexer arbeitsteiliger Wirtschaften, wo die Unternehmen sich an anonymisierte Signale über Einnahmen und Ausgaben anpassen müssen, ist das Gleichgewicht keine Annäherung an die relevanten Zusammenhänge, sondern eine Ablenkung.
Alle staatlichen Handlungen, die ein Ausgabendefizit zur Folge haben, sind grundsätzlich nicht geeignet, eine Volkswirtschaft zu stabilisieren, weil die Nachfrage der Unternehmen, die Auslastung ihrer Produktionskapazitäten und ihre Gewinne sinken. Weil die Unternehmen daraufhin mit ihrer Anpassungsreaktion an sinkende Gewinne die Gewinne der Unternehmen insgesamt noch einmal verringern, besteht jederzeit die Gefahr einer kumulativen Verstärkung des Abschwungs.
Umgekehrt gilt, dass jede bewusste Herbeiführung eines Ausgabenüberschusses, sei es von der Seite des Staates, des Auslands oder der Unternehmen selbst, die Nachfrage- und Gewinnsituation der Unternehmen unmittelbar verbessert. Das wiederum schafft die Möglichkeit, dass die Unternehmen die positiven Impulse zu einer weiteren Vergrößerung ihres Ausgabenüberschusses veranlassen, was dann zu einem kumulativen Aufschwungsprozess führen kann.
Wir beobachten hier also eine starke Asymmetrie. Je nachdem, ob ein Ausgabenüberschuss oder ein Einnahmenüberschuss am Beginn eines dynamischen Prozesses steht, entwickelt sich die Wirtschaft in Richtung Einkommenssteigerung oder Einkommenssenkung. Die neoklassische Vermutung, man könne auch in einer komplexen Wirtschaft durch einen Einnahmenüberschuss, durch „Sparen“, durch Gürtel-enger-Schnallen mithilfe von „nichtkeynesianischen Effekten“ einen Wachstumsschub initiieren, ist von vorneherein vollkommen unsinnig und gefährlich.
Wilhelm Lautenbach hat den Kern der Geschichte in seiner unnachahmlich knappen Art in die Worte gefasst: „Die Nachfrage der Unternehmer ist nicht eine Funktion ihres Einkommens, sondern ihr Einkommen ist eine Funktion ihrer Nachfrage“ (S.22). Bei John Maynard Keynes findet man diese bedeutende Einsicht in einer eher beiläufigen Bemerkung schon in der „Treatise on Money“ aus dem Jahre 1930. Wolfgang Stützel hat übrigens versucht, diesen (ihn offensichtlich schockierenden) Satz in einer Fußnote, die sich über mehrere Seiten zieht, zu erklären. Das ist ihm nicht gelungen, man kann aber klar herauslesen, dass auch er, der Herausgeber des Lautenbachschen Buches (Zins/Kredit und Produktion, Mohr Siebeck 1952), diesen zentralen Satz weder inhaltlich noch im Sinne seiner großen wirtschaftspolitischen Bedeutung verstanden hat.
Anzumerken ist noch, dass die Tatsache, dass ex post, also nach dem Ende aller Anpassungsprozesse dennoch alle Ausgabendefizite durch Ausgabenüberschüsse genau ausgeglichen werden, keinerlei Bedeutung für die Frage hat, ob der Prozess, der zu dieser ex post-Gleichheit führte, effizient oder ineffizient war. Denn es ist entscheidend, ob der zwischen den ursprünglich getroffenen Entscheidungen liegende (ungleichgewichtige) Prozess und dem ex post Resultat ein Aufschwung oder ein Abschwung stattfand, ob also im Laufe des Prozesses die gesamtwirtschaftlichen Einkommen gestiegen oder gesunken sind und ob Arbeitsplätze geschaffen oder verloren wurden.
Beeindruckend ist auch, dass die Unternehmensverbände dieser Welt nicht verstanden haben, in welcher Weise und in welchem Ausmaß ihre Mitglieder sich dadurch schaden, dass sie zu Netto-Sparern geworden sind. Wie die Finanzierungssalden für Deutschland in der Graphik zeigen, war das systematische Sparen der deutschen Unternehmen in den vergangenen zwanzig Jahren nur möglich, weil fast immer das Ausland die Rolle des Schuldners übernommen hat. Im Jahr 2020 musste allerdings wieder einmal der Staat die Lücke in der Nachfrage schließen, die von den Unternehmen und den privaten Haushalten mit dem Anstieg ihrer Sparquote geschaffen wurde.
Damit ist die Frage nach der Zukunft der Schuldenbremse für Deutschland abschließend und eindeutig geklärt. Wenn es dem Staat nicht gelingt, die Unternehmen wieder in die Rolle des Schuldners zurückzudrängen, muss er selbst diese Rolle übernehmen, es sei denn, er will Merkantilist bis ans Ende aller Tage bleiben und erwartet, dass die Handelspartner diesen massiven Verstoß gegen alle Handelsregeln klaglos und ohne Gegenwehr akzeptieren.
Warum lernen die deutschen Volkswirte nicht?
Ich muss noch eine kurze Anmerkung nachschieben. Es ist mehr als bemerkenswert (skandalös wäre vermutlich das richtige Wort), dass schon in dem 1952 posthum erschienenen einzigen Buch von Wilhelm Lautenbach (Lautenbach ist 1948 schon gestorben) die Ablenkungsmanöver der deutschen Ökonomen in vollem Gange waren. Wilhelm Röpke, einer der immer noch als bedeutend angesehenen Ordoliberalen schrieb im Vorwort zu dem Buch, er hätte gerne gewusst, ob Lautenbach (den er offensichtlich persönlich kannte) sich der „außerordentlichen Bedingtheit“ der keynesianischen Lehre, ihrer „engen Grenzen“ und „der schweren Gefahren ihres Missbrauchs“ bewusst gewesen sei. Schließlich habe sich die „einzigartige Situation der großen Depression, von der Lautenbach und Keynes ausgegangen waren, völlig umgekehrt…“.
Was ist wohl an der obigen Aussage von Lautenbach über die Unternehmereinkommen „außerordentlich bedingt“? Es ist eine vollkommen unbedingte, immer und jederzeit geltende Gesetzmäßigkeit, die sich aus der Tatsache ergibt, dass die Ausgaben einer Gruppe in der Volkswirtschaft immer die Einnahmen der anderen Gruppen sind und die Unternehmen insgesamt in einer Marktwirtschaft das Residualeinkommen erzielen.
Diese Erkenntnis ist, wie die vollständige Vernachlässigung der Finanzierungssalden zeigt, bis heute nicht in die herrschende liberal-neoklassische Ökonomik vorgedrungen und genau deswegen hat man die Dynamik einer Marktwirtschaft nicht einmal im Ansatz verstanden, obwohl man von nichts anderem als der Marktwirtschaft redet. Genau deswegen kann diese gesamte Denkschule keinen geeigneten wirtschaftspolitischen Vorschlag machen und richtet mit ihrer kleinteiligen und falschen Sichtweise großen Schaden an. Nach fast hundert Jahren des Missverstehens ist es an der Zeit, die zentralen Einsichten anzuerkennen oder offen zu sagen, dass es um Wissenschaft und objektive Erkenntnis gar nicht geht.
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