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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände
Datum: 21. April 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundestag, Erosion der Demokratie, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
Verantwortlich: Redaktion
Der Ausnahmezustand schützt nicht unsere Freiheit, sondern ist (immer) eine Einübung für deren Abschaffung. Die aktuelle Diskussion über eine “Novellierung” des Ausnahmezustandes, der ganz sicher nicht das Virus besiegt, dafür den Föderalismus und den Anspruch auf Begründetheit von Maßnahmen (wie die einer Ausgangssperre), ist eine Einladung, sich mit der Geschichte der Ausnahmezustände zu beschäftigen. Der Textauszug aus dem nun erhältlichen Buch “Herrschaft der Angst” komprimiert die Geschichte der Ausnahmezustände in Deutschland auf das Ermächtigungsgesetz 1933 und den Ausnahmezustand in Corona-Zeiten und nimmt sich heraus, diese zu vergleichen. Anstatt (eigene/passende) Affekte und Assoziationen zu bedienen und zu nutzen, geht es in dem Beitrag darum, herauszuarbeiten, was vergleichbar ist und welche Bedeutung die je spezifischen Bedingungen haben. Von Wolf Wetzel
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Wer noch ganz viel Galgenhumor aufbringen kann, der könnte die Ankündigung einer Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Affentempo für einen Promotion-Gag halten, um dem Mitte April erscheinenden Buch „Herrschaft der Angst“ eine passende Kulisse zu bieten. Einen Zusammenhang kann man jedoch definitiv ausschließen.
Ausschließen kann man auch, dass die beabsichtigte Verschärfung des Ausnahmezustandes etwas mit der Bekämpfung der Pandemie zu tun hat. Nach einem Jahr Lockdown kann man wissen, dass die massiven Einschränkungen vor allem politischen und ökonomischen Prämissen folgen, die mit dem tatsächlichen Infektionsgeschehen ganz wenig zu tun haben. Wer den Privatbereich bis zum Nullpunkt zum Stillstand bringt und den Produktionssektor auf Hochtouren hält, schützt nicht die Menschen, sondern die Weltmarkt/-machtposition Deutschlands.
Das nun auf dem Weg befindliche vierte Infektionsschutzgesetz ist also keine Antwort auf mangelnde Verordnungen und ungenügende Einhaltung derselben, sondern eine Konsequenz aus einer Politik, die mit ständig neuen Verordnungen und Sanktionen die Ausbreitung des Virus zu verhindern vorgibt, nur nicht dort, wo die Bedingungen für ein Infektionsgeschehen geradezu optimal sind. Die Absurdität, die einem Monty-Python-Film sehr nahekommt, dass man auf einer Bank im Freien nicht lange sitzen darf und mit einem Bußgeld sanktioniert werden kann, aber acht Stunden an der „Werkbank“ in geschlossenen Räumen arbeiten „darf“, ist eigentlich mit normalem Menschenverstand nicht mehr nachvollziehbar. Das Ganze wird nur noch dadurch getoppt, dass sich (Groß-)Unternehmen seit Beginn der Pandemie erfolgreich gegen verbindliche Verordnungen wehren, die sie genauso behandeln wie ein Café oder ein Kino. Wenn die Pandemie so gefährlich ist, wie sie uns beschrieben wird, Regierung und Großunternehmen gleichzeitig dafür sorgen, dass einschneidende Maßnahmen im Produktionsbereich ausbleiben, dann ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, wo die „Coronaleugner“ ihre Zentrale haben.
Der folgende Text ist um die Jahreswende 2020/21 geschrieben und bietet eine gute Möglichkeit, zu überprüfen, ob die darin gemachten Annahmen und Schlussfolgerungen den Ereignissen standhalten, ob sich also der Vorwurf des Alarmismus blamiert oder jene, die den Ausnahmezustand für eine volksganze Solidaritätskundgebung auszugeben versuchen.
Der (drohende) Gesundheitsnotstand, der ausgerufene Corona-Ausnahmezustand seit März 2020 kostet nicht nur Menschenleben, sondern auch Nerven, Freundschaften und Erkenntnisdrang. Wer glaubte, dass das eben nur ein Gewitter ist, also auch wieder schnell vorbeizieht, hat sich getäuscht. Der ersten (Pandemie-)Welle folgt die nächste, und mit dem starren, angstgeweiteten Blick auf die nächste Welle wird das, was zuvor „nur“ Verordnungen waren, in ein Gesetz implantiert: man kann auch sagen, niet- und nagelfest gemacht. Das 3. Gesetz zum Infektionsschutzgesetz wurde am 18. November 2020 im Bundestag verabschiedet, mit den Stimmen der Großen Koalition (CSU/CDU und SPD). Die Partei DIE LINKE stimmte dieses Mal dagegen. Die Begründung war ziemlich lau: Man müsse bei derart massiven Grundrechtseinschränkungen das Parlament miteinbeziehen bzw. die legislative Macht des Parlamentes zurückholen.
Aber was ändert sich an den massiven Grundrechtseinschränkungen, wenn der Bundestag diese mehrheitlich absegnet? Geht es nicht darum, zumal als Linke, Grundrechtseinschränkungen zu widersprechen, die erkennbar und nachweislich nicht der Gesundheit dienen und hochgradig wenig mit medizinischer Evidenz zu tun haben? Wenn man das so – unausgeführt und grob – dahinschreibt, spürt man das Schnaufen und Stöhnen im Nacken.
Aber es kommt noch schlimmer: Auf Demonstrationen der Querdenker*innen tauchte immer wieder einmal der Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 auf. Die Reaktionen von rechts bis links waren staatstragend und von extrem dünner Substanz.
Dann hat auch die AfD diesen Vergleich in den Bundestag eingeschleust und am Tag der Abstimmung mit Schildern auf die Bildschirme gebracht. Daraufhin war es ganz aus – mit einer ruhigen Betrachtung. Jetzt ging es nicht mehr um den Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933, sondern um die AfD. Plötzlich waren alle Antifaschisten.
Selbstverständlich ist es heuchlerisch, wenn sich die AfD zur Schutzpatronin der Rechtlosen aufschwingt. Darüber kann und muss man sich aufregen, kurz, um genug Luft für die Frage zu holen:
Warum lässt sich die Linke den Kampf um Grund- und Schutzrechte aus der Hand nehmen? Warum führt sie nicht die Debatten, den Widerspruch an? Dazu gehören auch Vergleiche. Erst dann kann man erklären und begründen, was an diesem Vergleich unangemessen ist, was an einem Vergleich erkenntnisreich ist, um endlich die Sprachlosigkeit zu beenden, die die Linke zurzeit auszeichnet. (…)
Ausnahmezustände zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus
Aber, und das ist sehr wichtig zu beachten: Ausnahmezustände werden sehr unterschiedlich erlebt.
Es gab und gibt Ausnahmezustände, die in das Leben aller eingriffen bzw. eingreifen: Das gilt für das Republikschutzgesetz (1922), für das Ermächtigungsgesetz (1933) genauso wie für das Infektionsschutzgesetz (2020).
Anders sieht es bei den Antiterrorgesetzen in den 1970er Jahren und in Folge von 9/11 aus: Im ersten Fall waren meist nur Linke betroffen oder jene, die man für Sympathisanten hielt. Der Kreis der Betroffenen war also überschaubar. Wer kein Linker war, hatte im Normalfall nichts zu befürchten, hat kaum etwas bemerkt. An dessen Alltag änderte sich nicht viel.
Das Infektionsschutzgesetz 2020 hingegen ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es hat ein Ziel, das alle vorbehaltslos begrüßen: den Schutz unserer Gesundheit, unseres Lebens, ein geradezu rührendes Anliegen. Und es trifft nicht eine bestimmte, eingrenzbare Gruppe, sondern die ganze Bevölkerung, alle, auch wenn die Einschränkungen und Verbote auf sehr unterschiedliche Lebenswirklichkeiten stoßen. Tatsache bleibt, dass sich die Eingriffe und Verbote auf alle auswirken, dass sie in das Leben aller erheblich eingreifen: Cafés, Restaurants, Kinos, Theater, Freizeiteinrichtungen sind für alle geschlossen. Das öffentliche Leben ist nur noch eine Ruine.
Es macht also einen großen Unterschied, ob man Ausnahmezustände gegen einen real existierenden Widerstand, gegen eine machtvolle Opposition durchsetzt bzw. durchsetzen will oder ob ein Ausnahmezustand „begrüßt“ wird, also im Großen und Ganzen das Vertrauen derer genießt, denen man Schutz verspricht. (…)
Ermächtigungsgesetz – „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933
Auch diese „Ermächtigung“ brauchte einen Anlass und hatte ihn gefunden: Den Reichstagsbrand, der in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933 gelegt wurde. Am Tatort wurde Marinus van der Lubbe festgenommen. Ohne jegliche Beweise und Möglichkeiten der Überprüfung von Mutmaßungen wurden „die Kommunisten“ für diesen Anschlag verantwortlich gemacht.
Wie dieser Anschlag aufgenommen wurde, beschreibt Sebastian Haffner als konservativer, großbürgerlicher Beobachter so:
„Also die Kommunisten hatten den Reichstag angezündet. Soso. Das war schon möglich, das war sogar sehr glaublich. (…) Nun vielleicht hat es wirklich ein ‚Fanal‘ für die Revolution sein sollen, und das ‚entschlossene Zupacken‘ der Regierung hatte die Revolution dann verhindert. So stand es in der Zeitung, und es ließ sich hören. Komisch allerdings auch, dass die Nazis sich gerade über den Reichstag so aufregten. Bis dahin hatten sie ihn immer ‚Quatschbude‘ genannt, und jetzt auf einmal war es wie eine Schändung des Allerheiligsten…“ (S. 118)
Ob dieser Anschlag der NSDAP gerade recht kam oder ihr eigenes Werk war, spielt hier keine Rolle. Tatsache ist, der Anschlag kam wie gerufen. Denn danach lief alles wie am Schnürchen, Hand in Hand zwischen bürgerlichen und faschistischen Fraktionen. Für das, was im wahrsten Sinn des Wortes passieren konnte, ist also nicht nur die NSDAP verantwortlich, sondern auch alle bürgerlichen Parteien, die der NSDAP die Wünsche von den Lippen ablasen.
Der Brand war noch nicht gelöscht, da nutzte der Reichspräsident zum x-ten Mal den § 48 der Weimarer Verfassung und erließ die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ (Reichstagsbrandverordnung). Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft gesetzt.
In dieser entscheidenden Phase der Weimarer Republik bildete die NSDAP mit den Deutschnationalen (DNVP) eine Minderheitsregierung. In ihr war alles vertreten, was die NSDAP zu einem faschistischen Ideologiemix zusammenfasste: Monarchistische, völkische, deutschnationale, reaktionäre und militaristische Gruppierungen und Gesinnungen.
Gestützt wurde die Minderheitsregierung durch die Präsidialmacht des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der alles tat, um der NSDAP den Weg zur Diktatur zu ebnen. Man war bereits geübt. Zuerst schaltete man den gemeinsamen Feind aus, die KPD. Reichspräsident Paul von Hindenburg nutzte den erklärten Notstand und sprach ein Verbot der KPD aus und die NSDAP nutzte diesen staatlichen Flankenschutz für die Eskalation ihres Terrors gegen Linke.
Ein weiteres Puzzle auf dem Weg zur legalen Etablierung der Diktatur der NSDAP waren die Reichstagswahlen vom 5. März 1933: Die Mischung aus Terror und Legalitätsschwüren hatte Erfolg: Die NSDAP kam mit einem Plus von 10,8 Prozent auf 43,9 Prozent und war damit stärkste Partei. Die SPD kam auf 18,3 und die KPD auf 12,3 Prozent der Stimmen.
Zum ersten Mal in der Weimarer Republik war damit eine parlamentarische Mehrheit aus Faschisten und Deutschnationalen gegeben. Die amtierende Minderheitsregierung unter dem Reichskanzler Hitler konnte somit weiterregieren.
Dann war die NSDAP wieder am Zuge. In der Tradition bürgerlicher Regierungen reichte sie im Reichstag ein weiteres Ermächtigungsgesetz ein. Das war kein Paukenschlag mehr, sondern die Wiederholung Hitlers Ansinnen vom Januar 1933, als die NSDAP eine Minderheitsregierung anführte. Bereits damals war klar, dass es nicht um den Schutz der Republik ging, sondern um die Beseitigung eines gemeinsamen politischen Gegners:
„Bereits in der ersten Sitzung seines Kabinetts — am Nachmittag des 30. Januar 1933 — wurden die Aussichten erörtert, wie ein Ermächtigungsgesetz vom Reichstag zu erlangen sei. Dabei äußerte Hugenberg (Vorsitzender der DNVP und in dieser Zeit Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung, d.V.), ‚nach der Unterdrückung der KPD sei die Annahme eines Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag möglich‘.“ (s.o. S. 199)
Dass nun die NSDAP an der Reihe war, den zweiten gemeinsamen Feind von bürgerlichen und faschistischen Kreisen auszuschalten, die Weimarer Verfassung, ergab sich von selbst. Alle hatten sich längst daran gewöhnt, dass die Weimarer Verfassung eigentlich kaum noch zählte:
„Der Gedanke, die Reichsregierung für eine bestimmte Frist zu ermächtigen, Rechtsvorschriften mit Gesetzeskraft zu erlassen, war daher der neueren deutschen Verfassungsentwicklung nicht fremd. In der Lage des Winters 1932/33 bedeutete die Vergebung solcher Ermächtigungen an die Exekutive auch deswegen nichts Außerordentliches mehr, weil der parlamentarische Gesetzgeber ohnehin durch die Notverordnungspraxis in den Hintergrund getreten war. Im Jahre 1930 waren noch 98 Reichstagsgesetze verabschiedet worden. 1931 wurden bereits 42 Notverordnungen des Reichspräsidenten erlassen gegenüber 34 Reichstagsgesetzen; 1932 ergingen 60 Notverordnungen, aber nur fünf Reichstagsgesetze.“ (Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, Hans Schneider, S. 198/99)
Dass der Übergang zwischen bürgerlicher Demokratie und Diktatur bereits fließend war, unterstreicht auch der gefeierte und hochgeschätzte Staatsrechtler Carl Schmitt. Nicht erst für die Nazis war er in Sachen Rechtfertigung aktiv. Bereits 1932 hatte er Pläne ausgearbeitet, „mit denen eine zeitlich begrenzte legale Diktatur des Reichspräsidenten errichtet werden sollte. Carl Schmitt argumentierte in der unruhigen Endphase der Weimarer Republik mit dem englischen politischen Philosophen Thomas Hobbes. Der hatte im 17. Jahrhundert in seiner Schrift ‚Leviathan‘ den Grundsatz formuliert: Auctoritas, non veritas facit legem. (Autorität, nicht Wahrheit macht die Gesetze)“ (Carl Schmitt. Ein umstrittener Denker, Michael Reitz, SWR 2019) ….
Infektionsschutzgesetz 2020
„Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“.
Am 18. November 2020 ist im Bundestag in Windeseile das, was seit Monaten „außerparlamentarisch“ per Erlasse beschlossen wurde, in das Gesetz miteingeflossen und damit normalisiert worden:
„Untersagt werden darf laut der neuen Vorschrift eine ganze Menge: Sport- und Kulturveranstaltungen, Übernachtungen, Alkoholkonsum, Gastronomiebetrieb oder Gottesdienste. Ausgangsbeschränkungen dürfen für den öffentlichen wie den privaten Raum angeordnet werden, darüber hinaus Abstandsgebote und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Im Prinzip wird damit alles explizit genannt, was es seit Beginn der Pandemie an Maßnahmen so gibt und aufgrund der Generalklausel verboten wurde. Für den Fall, dass etwas vergessen wurde, bliebe die alte Generalklausel im neuen Gesetz erhalten: § 28 IfSG gilt weiterhin fort und kann dann im Zweifel auch für weitere, nicht ausdrücklich aufgezählte Corona-Maßnahmen herhalten.“ (Neue IfSG-Grundlage für Corona-Maßnahmen “Verfassungswidrig und voller handwerklicher Fehler” von Hasso Suliak/Redakteur Legal Tribune Online, Rechtsanwalt)
Im Bundestag stimmte eine Mehrheit aus SPD und CSU/CDU zu. Die FDP, die AfD, die Grünen und die Partei DIE LINKE stimmten dagegen.
Dass dieses Nein der Partei DIE LINKE ganz praktisch auch ein Ja sein kann, ist daran abzulesen, dass die Länderregierungen mit linker Beteiligung im Bundesrat zugestimmt haben.
Für viele Linke ist der Ausnahmezustand ein guter. Sie begrüßen ihn. Sie sind Musterschüler bei der Einhaltung der Beschränkungen und halten es ausdrücklich für eine Form der „Solidarität“, wenn sie da mitmachen. Ein Teil der Linken geht in diesem Zusammenhang auf die Straße und macht noch mehr: Er schlägt sich demonstrativ auf die Seite von Regierung und Mainstreammedien und benutzt ein gemeinsames Vokabular: Da ist fast ausschließlich von „Covidioten“ oder „Verschwörungstheoretikern“ und „Aluhutvertretern“ die Rede, wenn sie sich den Querdenker*innen-Demos in den Weg stellen. Und sie unterstellen den Querdenker*innen eine Nähe zum Faschismus. Diese Nähe beweist man in der Regel nicht durch inhaltliche Übereinstimmungen mit faschistischen Ideologien. Meist reicht es diesem Verdacht, wenn man Reichsflaggen und Nazis in den Demonstrationen ausmacht.
Wenn also das Urteil über die Menschen, die den Querdenker*innen-Demos folgen, so glasklar ist, wenn man sie zu halben Nazis macht oder zu solchen, die mit ihnen „Hand in Hand“ gehen, dann bleibt doch immer noch die Frage unbeantwortet, ob dieser Teil der Linken nur noch Regierungspolitik betreibt und wenn nein: Warum bringt sie nicht ihre eigene Kritik auf die Straße? (…)
Anstatt also den Querdenker*innen zu beweisen, wie blöd sie sind, wäre doch eine ehrliche Selbstreflektion fruchtbarer und glaubwürdiger. In welchem Verhältnis stehen die Grundrechtseinschränkungen zu den Kosten der Krise?
Ist es ein Zufall oder hat es System, wenn alles für die „Wirtschaft“ gemacht wird und der Rest „bluten“ soll? Was ist daran unterstützenswert, wenn die Regierung klar und deutlich sagt, dass sie jetzt alles tun wird, um die Wirtschaft am Laufen zu halten und wir dafür mit einem Lockdown bezahlen?
Es kommt einem Offenbarungseid der Linken gleich, wenn man sich für einen begründeten Widerspruch gegen diese Corona-Maßnahmen bei liberalen Journalisten und Staatsrechtlern umschauen muss – obwohl das eigentlich vonseiten der Linken kommen müsste.
Im November 2020 schrieb u.a. Heribert Prantl einen Kommentar für die Süddeutsche Zeitung, in der er die „Verzwergung“ und Selbstentmächtigung des Parlaments als „eine untergesetzliche Parallelrechtsordnung“ kritisierte. Daran habe auch die am 18. November 2020 verabschiedete dritte Fassung nichts geändert: „Das dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung: verfassungswidrig – wie schon das erste und zweite.“
Und das ist Heribert Prantl hoch anzurechnen: Er nimmt eine Einordnung vor, die eigentlich die mehr oder weniger schweigsame Linke erröten lassen müsste:
„Die coronale Verzwergung des Parlaments wird nicht beendet. Es ist makaber: Im Verteidigungsfall, dann also, wenn Deutschland militärisch angegriffen wird, hat das Parlament nach den berüchtigten Notstandsgesetzen mehr Rechte als heute nach den Pandemie-Regeln.“ (Veni. Vidi. Virus, Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 14./15. November 2020)
Man muss daran erinnern: Der Kampf gegen die Notstandsgesetze gehört zur Gründungsgeschichte der Linken in Deutschland. Sie hat nicht nur die APO auf den Plan gerufen, also die Notwendigkeit einer außerparlamentarischen Opposition (APO), sondern auch die Erinnerung an die faschistische Machtergreifung 1933, der mit den Ermächtigungsgesetzen ein „legaler“ Weg zur Diktatur geebnet wurde. (…)
Quo vadis?
Wenn man auf die hier besprochenen Ausnahmegesetze und Notverordnungen zurückblickt, dann richtet sich – hoffentlich – das Augenmerk auf das, was sie angerichtet haben, was davon (zum Teil bis heute) geblieben ist, obwohl sich kaum noch jemand an den Anlass erinnert.
Dennoch hat es ein Ausnahmegesetz, das Ermächtigungsgesetz von 1933, ins Jetztbewusstsein geschafft. Auf einigen Querdenkerdemonstrationen wurde auf dieses Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933 verwiesen. Ob man damit das 3. Infektionsschutzgesetz 2020 gleichsetzen wollte, kann hier nebensächlich bleiben.
Tatsächlich sind es vor allem die Assoziationen, die damit geweckt werden und ganz schnell zu Ende gedacht werden. Sind wir schon nahe an „1933“? Was ist damit gemeint, was wird mit diesem Vergleich nahegelegt? Man denkt natürlich sofort an die Machtübernahme der Nazis, der NSDAP, also an so etwas wie ein Viertes Reich.
Als die AfD bei der Verabschiedung des 3. Infektionsschutzgesetzes im Bundestag am 18. November 2020 Schilder mit dem Verweis auf das Ermächtigungsgesetz 1933 hochhielt, war die Empörung von rechts bis links staatstragend groß. Dass die AfD nichts gegen eine Diktatur hat, aber ganz viel, wenn sie nicht von ihr angeführt wird, versteht sich (fast) von selbst. Das macht eine eigene Stellungnahme nicht überflüssig, sondern notwendig!
Genau diese blieb aus. Fast können man sagen, dass den Staatstragenden die AfD wie gerufen kam! Wenn ausgerechnet die AfD vor einem Ermächtigungsgesetz à la 1933 warnt, dann dürfen sie sich gegen die AfD und vor die Bundesregierung stellen.
Nein. Denn wenn eine Linke die AfD braucht, um sich nicht mit Ausnahmezuständen auseinanderzusetzen, dann gibt sie ein zentrales Anliegen auf: Den Kampf um Schutz- und Freiheitsrechte gegenüber dem Staat.
Ich kenne keine Diskussion, auch nicht in der Linken, die die verschiedenen Ausnahmezustände verglichen hat und schon gar nicht, welche ‚legalen Brücken‘ in der deutschen Geschichte erst zur Demontage von Grundrechten, zu einer, wie Heribert Prantl schreibt, „untergesetzlichen Parallelrechtsordnung“ geführt hatten, was dann in eine Diktatur mündete.
Stattdessen versucht man mit Pathos und Opfer-Verehrung zuzudecken, dass man sich unterhalb dessen bewegt, was ein liberaler Jurist und Journalist der Süddeutschen Zeitung konstatierte.
Mit Blick auf die Bezugnahme zu dem Ermächtigungsgesetz 1933 durch die AfD erklärte der parlamentarische Geschäftsführer der Partei DIE LINKE, Jan Korte:
“Ahistorische Vergleiche wies der Linke-Politiker gleich zu Beginn seiner Rede zurück: ‘Das ist kein Gesetz, das in die Diktatur führt’. Wer das behaupte, verhöhne die Opfer von Diktatur und diejenigen, die ‘gefoltert, geknechtet und ermordet’ wurden. ‘So weit unten darf man nicht ankommen’, rief er in Richtung der AfD.” (Junge Welt vom 20.11.2020)
Das ist kein Gesetz, das in die Diktatur führt. Punkt. Woher weiß er das? Warum ist er sich da so sicher? Warum erklärt er uns nicht seine Vorausschau? Kann man mit Corona nicht ähnlich viel erklären und rechtfertigen wie mit der Angst vor den Kommunisten?
Wenn man auf frühere Ausnahmezustände oder Notverordnungen verweist, dann geht es überhaupt nicht darum, die gesellschaftlichen Umstände außer Acht zu lassen, in denen sie jeweils wirkten.
Es geht hier also nicht darum, dass sich ein „33“ (1933) wiederholt. Niemals wiederholen sich solch epochalen Ereignisse auf dieselbe Weise. Aber es gibt Lehren, die eine Linke daraus ziehen kann. Dazu gehört die Einsicht, dass durch Anpassung Schlimmeres nicht vermieden wird. Sebastian Haffner hat dies im Rückblick auf das selbst miterlebte „33“ so formuliert:
„Hinter der ganzen Brüningzeit (die Zeit der Notverordnungen, d.V.) stand die Frage: Was dann? Es war eine Zeit, in der eine trübe Gegenwart nur durch die Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft gemildert wurde.“ (S.86)
Keine Frage: Es gibt heute wenig Grund zur Annahme, dass wir auf eine klassische Diktatur zulaufen. Welchen Widerstand, welche Proteste sollten niedergeschlagen werden, für die man eine Diktatur brauchen würde?
Brauchen wir erst die Gewissheit, die Zusicherung für eine Diktatur, damit wir etwas gegen Einschränkungen, gegen die Suspendierung von Grundrechten unternehmen? Ändert sich etwas an der Gefahr, dass sich aus einer „untergesetzlichen Parallelrechtsordnung“ (Heribert Prantl) etwas entwickeln kann, wovon wir heute nicht die blasseste Ahnung haben?
Ist es nicht genug, der „trüben Gegenwart“ etwas entgegenzusetzen, anstatt sie mit „Aussicht auf eine grauenvolle Zukunft“ hinzunehmen?
Ein Ausnahmegesetz, eine Notverordnung gehen immer damit einher, dass das Parlament die legislative Macht an die Regierung, an die Exekutive abgibt. Mit dem aktuellen Infektionsschutzgesetz ist die Regierung de facto Exekutive und Legislative zugleich, was zu einer Machtanhäufung führt, die man gerade angesichts schlechter Erfahrungen verhindern sollte. Manche werden einwenden, dass sich die Gewaltenteilung (Exekutive-Legislative-Judikative) seit Längerem in einem miserablen Zustand befindet, dass jetzt nur etwas vollzogen wird, was bereits ohne Sondergesetze gilt. Das Parlament sei ein Nick-Parlament geworden. Genau diese Haltung war bereits in den 1920er und 1930er Jahren sehr en vogue und hatte dazu geführt, dass man selbst dann zugestimmt hatte, als es um die eigene Exekution ging.
(…)
Dass das 3. Infektionsschutzgesetz gewaltige Grundrechtseinschränkungen ermöglicht, die auf bisher nicht dagewesene Weise das Leben im Privatbereich „organisieren“ und sanktionieren, ist unbestritten. Bis in die Linke hinein wird das – dem hehren Zweck zuliebe – hingenommen. Vor allen die Linke betont überall ihre Solidarität (damit). Genau diese Solidarität soll dem Egoismus, dem drangsalierten Ich und dem neoliberalen Freiheitsgeschwätz entgegengehalten werden.
Diese (auf-)gerufene Solidarität ist nicht nur schal. Sie ist haltlos, wenn sie aus der sozialen und emotionalen Isolation herausgerufen wird. (…)
Man muss der gegenwärtigen Regierung nicht das Schlimmste unterstellen. Es reicht, sich ganz sicher darin zu sein, dass diese Gesetze einen Weg ebnen, der einen Putsch überflüssig macht, der einen „Regime Change“ in Anwendung dieser Ermächtigungsgesetze möglich macht. Dass die Brücke dorthin nicht unbedingt diejenigen begehen, die sie gebaut haben, belegt die Geschichte der Notverordnungen und der Ermächtigungsgesetze.
Es gibt gute und sehr verständliche Gründe, das alles als ganz fernes Donnergrollen abzutun. Ich möchte uns alle fragen: Wer hätte vor zwei, drei Jahren vorhersagen wollen, dass wir uns sehr bald mit all dem abfinden, was die Corona-Maßnahmen erzwingen? Und wer wollte orakeln, dass selbst ganz vernünftige Menschen, vielleicht sogar aufgeklärte Linke dabei sein werden, Widerspruch und Ablehnung (gegen die Corona-Maßnahmen) auf eine Weise zu verfolgen und zu denunzieren, die jener staatsautoritären Gesinnung sehr nahekommt, gegen die man in den 1960er und 1970er Jahren aufbegehrt hatte? (…)
Eine Linke, die angesichts des drohenden Schlimmeren den Jetztzustand hinnimmt (und gar verteidigt), macht sich selbst überflüssig. Es kann und muss darum gehen, im Jetztzustand das lebendig, sichtbar und greifbar zu machen, was dem Jetzt eine Alternative entgegensetzt und so dem Schlimmeren den Weg abschneidet.
Titelbild: M.Moira/shutterstock.com
Auszug aus dem Buch:
Kraft, Stefan/Hofbauer, Hannes (Hg.): Herrschaft der Angst. Von der Bedrohung zum Ausnahmezustand, Promedia 2021, Wien, 320 S., 22 Euro
Aus dem Inhaltsverzeichnis:
WIE EIN AUSNAHMEZUSTAND GEMACHT WIRD
WELCHE ROLLE DIE MEDIEN SPIELEN
WOHIN DIE ANGST VOR TERROR FÜHRT
WAS DIE LINKE DAZU SAGT
Wer Lust und Zeit hat, sich in das Buch hineinzuhören, der hat die Möglichkeit, anstatt einer Live-Veranstaltung an einem „Livestream“ teilzunehmen: „Aufgrund des aktuellen Lockdowns und Veranstaltungsverbots gibt es die Veranstaltung via LIVESTREAM – Zusehen über diesen Link (ohne Anmeldung).
Das Ganze findet am 29. April 2021 ab 19.30 Uhr statt.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=71748