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Titel: Wenn schon nicht reisen – wenigstens dran denken. Ein politischer Blick auf die Ruinen
Datum: 11. April 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Wenige Bauwerke auf dieser Welt genießen so viel Bewunderung wie die geheimnisumwitterte Höhensiedlung Machu Picchu aus der Zeit der Inka in Peru. Trotzdem sind sich Archäologen und Historiker nicht ganz darüber im Klaren, warum Machu Picchu überhaupt gebaut wurde. Warum gerade dort – 80 km von der damaligen Hauptstadt Cusco entfernt – und weshalb so hoch oben? Wer hat dort gewohnt und was haben die Bewohner getan? Und warum konnte es eines Tages unzerstört verlassen und vom Tropenwald überwuchert werden? Zur Beantwortung dieser Fragen gibt es sehr unterschiedliche Thesen – restlos überzeugend ist keine. Gerhard Fulda ist für die NachDenkSeiten diesen Fragen und Thesen nachgegangen.
Mutmaßungen über Sinn und Zweck von Machu Picchu
Wenige Bauwerke auf dieser Welt genießen so viel Bewunderung wie die geheimnisumwitterte Höhensiedlung Machu Picchu aus der Zeit der Inka in Peru. Trotzdem sind sich Archäologen und Historiker nicht ganz darüber im Klaren, warum Machu Picchu überhaupt gebaut wurde.
Warum gerade dort – 80 km von der damaligen Hauptstadt Cusco entfernt – und weshalb so hoch oben? Wer hat dort gewohnt und was haben die Bewohner getan? Und warum konnte es eines Tages unzerstört verlassen und vom Tropenwald überwuchert werden?
Zur Beantwortung dieser Fragen gibt es sehr unterschiedliche Thesen – restlos überzeugend ist keine. Auch deshalb nicht, weil sie so gut in die Machtphantasien à la Trump oder Bolsonaro passen. Viele der Antworten bleiben im Umlauf, weil ohne neue Funde niemand neue Fragen stellen muss. Auch nicht diejenige, ob heutige politische Ideologien vielleicht ganz gut damit zurechtkommen, dass die verschiedenen Mutmaßungen so harmlos überdecken, wie hier ein Volk in Angst gehalten, unterdrückt und ausgebeutet wurde.
Ja, die Terrassen von Machu Picchu dienten ganz offenbar auch landwirtschaftlicher Nutzung. Von den kleinen Feldern konnten jedoch nur sehr begrenzte Erträge erwartet werden. Zum Experimentieren gab es fruchtbare Gebiete sehr viel näher bei der Hauptstadt Cusco und viel leichter zugängliche. Landwirtschaftliche Testanpflanzungen mit verschiedenem Saatgut und unterschiedlichen Anbau- und Erntezeiten mussten in dem ganzen großen Reich angelegt werden. Ein abgeschotteter Höhenkamm zwischen zwei Berggipfeln konnte da kaum als erste Wahl gelten.
Im Gegenteil: Die Macht der Könige hing auch davon ab, dass Heerscharen von Kriegern ernährt wurden. Also mussten alle Erkenntnisse über effizientere Anbaumethoden so schnell wie möglich auf großen Anbauflächen unterschiedlicher Qualität Anwendung finden. Die hohen Kosten und Anstrengungen, die zum Bau auf den Steilhängen von Machu Picchu erforderlich waren, hätten bei dieser Zweckbestimmung anderswo sehr viel wirkungsvoller eingesetzt werden können. Es ist schwer, sich dieser Logik zu entziehen. Und trotzdem verschwindet diese These nicht im Papierkorb. Sollte man nicht auf den Gedanken kommen, ob mit der These <landwirtschaftliche Versuchsanstalt> den Schreckensherrschern von damals heute ganz gern der Mantel des fürsorglichen Landesvaters um die Schultern gelegt wird?
Es heißt, über die hochgelegenen, engen Inkapfade hätten Wachtposten von Machu Picchu nach Cusco in der Tat in 24 Stunden Kunde von fremden Eindringlingen in das Tal des Flusses Urubamba übermitteln können.
Auch dagegen spricht der gesunde (und das heißt <kritische>) Menschenverstand. Der dichte Urwald unten am Fluss hätte es unmöglich gemacht, Feinde von der Berghöhe aus zu erkennen. Militärische Wächter hätten also unten am Fuß der Berge leben müssen, dort, wo heute der Ort Aguas Calientes liegt. Wenn es sicherer und schneller gewesen sein sollte, militärische Nachrichten statt durch das reißende Flusstal oben über die Berge zu übermitteln, dann hätte dies nicht die Ansiedlung von etwa 1000 Menschen in einer kleinen Stadt auf dem Berghang erforderlich gemacht.
Auch zur kämpfenden Grenzsicherung hätten die Krieger direkt am Fluss schneller eingreifen und leichter versorgt werden können. Wenn an dieser Stelle überhaupt etwas lag, was man heute als „Grenze“ bezeichnen würde.
Warum wird also die „Grenzsicherung“ nicht ad acta gelegt? Weil auch dies heute manchem als eine Verharmlosung willkommen ist. Der absolute Herrscher scheute keine Kosten, sein Volk vor den bösen Fremden zu schützen. Grenzsicherung ist immer legitim und, ja, es ist auch wirklich nett von dem Inka.
Der Erfinder dieser Interpretation sollte mit einem Orden ausgezeichnet werden, von einem heutigen Herrscher, der treuherzig versichern kann: Sicherheit und Ernährung für alle, das seien auch seine wichtigsten Sorgen.
Reiseführer in Machu Picchu erzählen, amerikanische Wissenschaftler hätten zuletzt den Gedanken einer Sommerresidenz als die wahrscheinlichste Funktion der Anlage bezeichnet.
Das ist wiederum aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Schon die Tatsache, dass die Hauptstadt Cusco noch 800 Meter höher liegt als Machu Picchu, wirft bereits die Frage auf, warum sie sich im tropischen Sommer weiter abwärts hätten begeben sollen.
Noch gewichtiger sind zwei andere Einwände: Die Ruinen der kleinen Stadt sind so gut erhalten, dass der gesamte Grundriss der Anlage eindeutig erkennbar ist. Von einem irgendwie als königlicher Palast herausgehobenen größeren Gebäude ist keine Spur zu sehen. Das weitgehende Gleichmaß der Häuser lässt vielmehr eine egalitäre Gesellschaftsordnung der dort lebenden Gemeinschaft vermuten, ohne irgendeine in der Architektur ausgedrückte Hierarchisierung.
Darüber hinaus sollte man sich vergegenwärtigen, dass Inkaherrscher gefährlich lebten. Rivalen gerade aus dem eigenen Familienkreis oder aus dem höfischen Umfeld wären gern selbst König geworden. Die an den steilen Berghängen entlangführenden sogenannten Inkawege zwischen Cusco und Machu Picchu sind aber für unerwartete Überfälle wie geschaffen. Ein Königsmörder hätte nur im richtigen Moment einige größere Felsbrocken ins Rollen bringen müssen. Für einen sicherheitsbewussten Herrscher mussten diese schmalen Wege also ein No-Go-Gebiet sein.
Wem könnte nun 500 Jahre später daran gelegen sein, den damals sich selbst als Gott sehenden Inka heute als erholungsbedürftigen Menschen zu stilisieren? Wahrhaft ein Meister der Fake-News-Verbreitung! Merke: Auch Götter sind nur Menschen. Oder: Gegen Trump muss niemand kämpfen; irgendwann stirbt der arme Kerl von ganz allein.
Auch für diese These gibt es Anhaltspunkte. In den letzten Jahren wurde gern auf die geografische Morphologie des Ortes hingewiesen: Das am Fuß des Berges in einer engen Schlucht sich überstürzende Wasser des Urubambaflusses, die gewaltige Berggipfellandschaft, die Kraft des Sonnenlichts und der weite Blick auf den Sternenhimmel – das alles steht nicht nur für Ehrfurcht einflößende Landschaftsszenerien, sondern zugleich für die drei wichtigsten damals als heilig verehrten Naturwunder, konzentriert an einem Ort: Wasser in reißenden Flüssen – steile Berggipfel – die Sonne und der gestirnte Himmel.
Doch bleibt andererseits die Frage: Welche Funktion hat eine Stadt an einem solchen Ort für das große Inkareich, wenn außer den wenigen Bewohnern niemand etwas merkt von solchen Heiligtümern? Für Pilgerscharen wäre dort kein Platz gewesen.
Und wem ist warum heute daran gelegen, religiöse Rituale als moralische Reinigung zu preisen? In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass der Machtwechsel von den heimischen Peruanern zu den fremden Spaniern bezogen auf die Rituale kein großer Bruch gewesen ist. In der Inkamystik wie in der katholischen Kirche waren Gesten der Unterwerfung gefragt. In Mexiko gibt es an einem beliebten Wallfahrtsziel vor der Kirche einen großen Platz, dessen Steinbelag immer glänzend glatt gescheuert spiegelt. Das liegt an den Pilgern, die die letzte Strecke vor dem Heiligtum am Kreuz barfuß und auf allen Vieren kriechen.
Wer immer im Peru der Gegenwart katholische Politik betreiben will, tut gut daran, den Wert solcher Demutsgesten als nationales kulturelles Erbe herauszustellen.
Die Theorie, es habe sich um ein Zentrum der Himmelsforschung gehandelt, ist die einzige, die sich unmittelbar auf einen erhaltenen Bau und auf steinerne Skulpturen berufen kann:
Trotzdem hat sich diese These nicht wirklich durchsetzen können. Um Jahreszeiten und Erntezyklen, vielleicht auch um optimale Bedingungen für Kriegszüge erkennen und planen zu können, wäre kaum eine so aufwändige und zugleich abgelegene Infrastruktur nötig gewesen. In Machu Picchu deutet nichts auf Vorhersage des kommenden Wetters.
Also: Letztlich sind all diese Theorien nur Mutmaßungen aus dürftigen Quellen. Ermutigt das nicht, weiter zu denken?
Um auf die vielen offenen Fragen plausible Antworten zu finden, soll im Folgenden der Versuch gemacht werden, die bisher am ehesten überzeugende Theorie (Observatorium) zu ergänzen mit Überlegungen über die politische Rolle der systematischen Naturbeobachtung und über die Bedeutung der Geheimhaltung für die Gewinnung und Erhaltung der Macht im Inkareich.
Dessen Herrschaftssystem war eine religiös überhöhte absolute Macht über eine Bevölkerung, deren wichtigste Rolle darin bestand, sich beherrschen zu lassen. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit spiegelte die Architektur von Palästen und Tempeln, von Häusern und Städten genau diese Machtverhältnisse. Das galt für die Hauptstadt Cusco und das gilt, dies soll hier gezeigt werden, auch für ein Observatorium für eine langfristige Erforschung der Himmelskörper in Machu Picchu.
Zunächst zu Cusco: Der dem Sonnengott gewidmete Tempel Coricancha in Cusco war die heiligste Stätte des Inkareichs. Er wurde von den Spaniern weitgehend zerstört und durch das Kloster Santo Domingo überbaut. Inzwischen sind aus den Tempelruinen einige Mauerreste wieder freigelegt und vermitteln einen Eindruck von Räumlichkeiten und Größenverhältnissen.
Was es in Cusco n i c h t gibt, sind riesige Tempelhallen, die der Ausdehnung des Inkareichs, der Macht und dem Reichtum seiner Könige entsprochen hätten. Die massiven (und trotz des harten Steins geradezu fein ziselierten) Mauern lassen eher die Vermutung aufkommen, dass hier das Volk draußen gehalten werden sollte. Die Untertanen mussten ihre Opfergaben vor den Toren des Tempels ablegen. Was im Inneren vorging, blieb dem einfachen Volk verborgen. Die Kenntnis der Rituale war Herrschaftswissen. Nur so konnten gezielt Informationen nach draußen transportiert werden, mit denen die Ehrfurcht, wohl auch die Angst der Menschen wachgehalten werden sollten.
Ihr spezifisches Herrschaftssystem mögen die Inkas selbst geschaffen haben, vielleicht auch, ohne viel ältere, ähnliche Muster gekannt zu haben. Wahrscheinlich ist aber die Überhöhung irdischer Macht in die Transzendenz mehrfach in verschiedenen Kulturen „erfunden“ worden.
Die Pharaonen in Ägypten haben so geherrscht. Der Pharao war heilig und musste nach dem Tod einbalsamiert werden, damit er in menschlicher Gestalt auch für sein Volk den Weg ins Jenseits bereiten konnte.
Im Judentum ist die Absonderung des „Heiligsten“, der Bundeslade, durch einen Vorhang im Tempel augenfällig beschrieben worden. Verborgen wurde ein Ort, den auch der oberste Priester nur einmal im Jahr betreten durfte, weil Gott dort „sichtbar“ wurde.
Selbst das Christentum hat seine Überzeugungskraft mit dem „Stern von Bethlehem“ zu stärken versucht, dem die Hirten und die „Weisen aus dem Morgenland“ bis zur Krippe folgten. Die Angereisten wurden in frühen Schriften als „Sterndeuter“, seit dem Mittelalter als „Könige“ bezeichnet.
Angesichts solcher Parallelen sollte man sich die Baustruktur von Machu Picchu noch einmal genauer ansehen:
Dort haben die Inkas eine relativ schwer zugängliche Kleinstadt auf einem Bergsattel in 2400 m Höhe für etwa 1000 Menschen gebaut, mit eigener Terrassenlandwirtschaft auf steilen Hängen, eigener Wasser- und Abwasserversorgung.
Die Gebäude des Städtchens unterscheiden sich in den Grundrissen und Größen nicht sehr auffällig. Bemerkenswert ist das Fehlen eines als Palast zu erkennenden Gebäudes, es gibt nicht einmal eine Art höfischen Hotels – die Architektur der Anlage gibt keinen Anlass zu der Vermutung, der Herrscher und seine Entourage hätten sich in Machu Picchu längere oder auch nur kürzere Zeit aufhalten wollen. Ebenso fehlen größere Versammlungsräume oder Plätze.
Es scheint, die Inkas haben den riesigen Aufwand, in schwierigstem Gelände eine raffinierte Infrastruktur zu erstellen, nicht für die Nutzung durch den dorthin reisenden Herrscher selbst betrieben.
Wenn man nach Sinn und Zweck fragt, dann muss man auch Funktionen in Betracht ziehen, die auf lange Dauer angelegt waren und dies nur für eine niemals wachsende Zahl von Einwohnern – das Gelände war nicht erweiterungsfähig. Was sollten die Bewohner dort tun? Und was haben sie getan, außer zu leben? Und warum haben sie den Ort schließlich verlassen, ohne von den Spaniern vertrieben worden zu sein, die den Platz nie gefunden hatten?
Der kleine Tempel im Zentrum von Machu Picchu umschließt (wie beim Felsendom in Jerusalem!) einen offenbar heiligen, wuchtigen Stein. Der im Tempel verehrte Gott-König wird damit – in Machtkategorien ausgedrückt – als derjenige apostrophiert, dem die gewaltigen Bergspitzen gehören. Die Ausrichtung des Tempels auf die wichtigsten Jahresdaten (Sommer- und Winter-Sonnenwende, Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr und Herbst) setzte ein gefestigtes Kalendersystem voraus. Auch die steinerne Skulptur des Sternbildes <Kreuz des Südens> verweist auf die Astronomie und deren kultische Bedeutung.
Hinter der – wo anders als in Cusco – getroffenen Entscheidung, Machu Picchu zu bauen, stand also der Erfahrungshintergrund einer Kultur, die über Jahrzehnte, bei der Beobachtung der Himmelskörper eher über Jahrhunderte, Wissen akkumuliert hatte. In vielen heutigen Veröffentlichungen wird vor allem die praktische Bedeutung dieser Kenntnisse hervorgehoben, zum Beispiel bei den Entscheidungen über den Zeitpunkt von Aussaat und Ernte. Dies sollte aber für ein tropisches Land mit relativ geringen jahreszeitlichen Veränderungen und mehreren Ernten im Jahr nicht überbewertet werden.
Sehr viel wichtiger war in der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit die Vorhersehbarkeit kosmischer Ereignisse. Wer Sonnen- und Mondfinsternisse vorhersagen, einen Kometen ankündigen und die Konstellation besonders heller Sterne im Voraus beschreiben konnte, war offenbar im Besitz übernatürlicher Kräfte und zum Schamanen geboren.
Herrscher taten gut daran, sich solches Wissen anzueignen, die Erforscher an sich zu binden und die Erkenntnisse geheimzuhalten. Viele Regierungen und alle Logen überleben noch heute nach dem gleichen Prinzip. Nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten kennt die Geheimnisse; alle anderen werden gezielt davon ausgeschlossen. Denn Wissen ist Macht und Nicht-Wissen ist Ohnmacht.
Schon 1500 Jahre vor den Inkas entstand ein Text, der diesen klassischen Herrschaftsmechanismus sehr deutlich zum Ausdruck brachte. In dem apokryphen (d.h., nicht in die Bibel aufgenommenen) „Buch der Weisheit“ (Kapitel 7, 17-19), das dem jüdischen König Salomon zugerechnet, aber wohl erst ca. 50 vor Christus geschrieben wurde, rühmt sich der Herrscher:
„Gott hat mir gegeben, weislich zu reden ……
Denn er hat mir gegeben gewisse Erkenntnis alles Dinges, dass ich weiß, wie die Welt gemacht ist, und die Kraft der Elemente …..
Der Zeit Anfang, Ende und Mittel; wie der Tag zu- und abnimmt, wie die Zeit des Jahres sich ändert ……
Und wie das Jahr herumläuft; wie die Sterne stehen ……
Ich weiß alles, was heimlich und verborgen ist, denn die Weisheit, so aller Kunst Meister ist, lehret mich‘s“
Verschwiegen hat das Buch der Weisheit nur, dass es nicht „die Weisheit“ war, aus der die Forschungsergebnisse stammten, sondern die jahrzehntelange Arbeit vieler geduldiger Forscher, die Tag für Tag und vor allem Nacht für Nacht den Lauf der Sonne, des Mondes und der Sterne beobachtet hatten.
Für Machu Picchu fehlt noch ein weiterer Mosaikstein, um eine Theorie vorzulegen, die Erklärungen für viele offene Fragen anbieten könnte. Für diesen letzten Theoriebaustein lohnt es, das Thema <Schrift der Inkas> anzusprechen. Eine Schrift, die es vielleicht niemals gab, die aber möglicherweise verborgen ist in dem komplizierten System der Schnurknoten, der Quipus. Mit der Länge der Schnüre, ihrer Farbe, der Zahl und Anordnung der Knoten konnte über ein komplexes, semiotisches Zeichensystem kommuniziert werden. Es ging um Mathematik, Statistik, Buchhaltung und Steuern.
Es sind zu wenige der Schnüre erhalten, um diese Zeichen ganz entziffern zu können. Aber es bestehen keine Zweifel, dass es sich um eine Mnemotechnik handelte, um das Festhalten von Daten, die über die Erinnerungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses hinaus reichten. Mit besonderer Ausbildung entwickelten sich wahrscheinlich Spezialisten – zum Knüpfen und zum Lesen oder Deuten dieser „Bibliotheken“ aus Wolle, Baumwolle oder Haaren. Man kann sich kaum vorstellen, wie ohne ein solches System, nur durch mündliche Überlieferung, die Ergebnisse der Erforschung der Himmelskörper über viele Generationen hätten weitergetragen werden können.
Es muss Spezialisten für jeden Himmelskörper, für die Sonne, den Mond und die Sterne gegeben haben. Deren Erkenntnisse waren für den Inka-König noch sehr viel wichtiger als die in Schnüren und Knoten festgehaltenen Ernteerträge. Nur mit Hilfe der beobachtenden Wissenschaftler konnte sich der König als allmächtiger Inhaber transzendenter Wahrheiten darstellen. Die Experten waren deshalb zur Begründung und Festigung seiner Macht unentbehrlich. Und sie waren zur Geheimhaltung verpflichtet. Sie durften nicht nach getaner Arbeit in den Straßen der Hauptstadt Cusco spazieren gehen und irgend jemandem andeuten können, wann die nächste Sonnenfinsternis erwartet werde.
Ausgeschlossen ist es nicht, dass das Observatorium schon im ersten Drittel der Herrschaftsperiode der Inkas gebaut worden ist. Es ist keine Quelle bekannt, die verlässlich Auskunft gibt, wer den Auftrag zum Bau von Machu Picchu erteilt hat. Manches deutet auf den Inka Pachacútec, der von 1438 bis 1471 (also relativ spät) von Cusco aus regierte. Er hatte die Verwaltungseinheiten des Imperiums nach den vier Himmelsrichtungen aufgeteilt und städtische Bewässerungsstrukturen eingeführt. Wer auch immer – man kann dem spiritus rector von Machu Picchu unterstellen, einen klaren Befehl erteilt zu haben, der sich in seinem Wortlaut erahnen lässt:
„Wir errichten ein Forschungszentrum für die langfristige Beobachtung der Himmelskörper. Dort sollen alle Spezialisten für jedes Teilgebiet der Astronomie zusammen mit den Experten für die Schnurknoten-Dokumentation untergebracht werden. Forschungsergebnisse unterliegen strenger Geheimhaltung und werden nur an mich persönlich und an den von mir geleiteten Vorhersagerat im Palast von Cusco berichtet. Der zu errichtende Ort soll weit genug von Cusco entfernt sein, um unerwünschte Kontakte mit der Bevölkerung zu unterbinden. Aber nahe genug, um mich innerhalb eines Tages unterrichten zu können (weniger als 100 km). Der Ort soll sich einbetten in die Hierarchie unserer größten Heiligtümer zur Verehrung der Götter – der Sonne, der Steine und des Wassers. Der ungehinderte Ausblick auf alles, was sich am Himmel bewegt, muss sichergestellt sein. Der Ort soll in der Lage sein, sich landwirtschaftlich selbst zu versorgen.“
Der Zeitpunkt des Arbeitsbeginns im Großforschungsinstitut Machu Picchu ist ebenfalls nicht dokumentiert. Forschungsergebnisse sind nicht überliefert. Aber man kann sich vorstellen, was Pachacútec sich erhofft hat. Also: Boten aus Machu Picchu treffen ein mit versiegelten Päckchen für den Herrscher höchstpersönlich. Der quipuskundige König und die drei/vier Vorhersageexperten aus dem engsten Familienkreis des Inka lesen die in den geknoteten Schnüren enthaltenen astronomischen Rohdaten. Hier werden die abschließenden Berechnungen und präzisen Datierungen bevorstehender Naturereignisse vorgenommen. Dann werden Boten in das ganze Reich geschickt, um zu verkünden:
„Der heilige Gott-König Pachacútec, der Herrscher über den Himmel und die Erde, hat dem Mond befohlen, sich in der von heute an fünften Nacht halb zu verschleiern. Dies als Zeichen der Trauer über eure Nachlässigkeit bei der Erntearbeit.“
Oder die Ansage lautete:
„Der heilige Gott-König Pachacútec, der Herrscher über den Himmel und die Erde, zürnt über gewalttätige Widerstände gegen seine Befehle. Er wird in sieben Tagen die Sonne verdunkeln und alle Aufständischen mit Blitz und Donner vernichten. Nur die Krieger seiner eigenen Armee werden verschont bleiben.“
Für Kometen, Sternschnuppenschauer oder ungewöhnliche Sternkonstellationen ließen sich entsprechende Abläufe beschreiben.
Wer jemals eine totale Sonnenfinsternis erlebt hat, weiß, dass der mit ausbleibender Strahlung verbundene schnelle Temperatursturz in der Atmosphäre zu elektrischen Aufladungen und zu gewaltigem Blitz und Donner, zu heftigem Regen bei plötzlicher Dunkelheit führt. Das Zwitschern der Vögel verstummt wie das Bellen der Hunde. Alle Menschen im engen Pulk atmen durch den weit geöffneten Mund – ein kollektiv ungläubiges Staunen. Das ist heute selbst für physikalisch hinreichend belehrte Beobachter ein Gänsehauterlebnis.
Im 15. Jahrhundert aber, als in Peru nur ganz wenige wussten, dass eine solche Bedrohung mit dem Weltuntergang vorhersehbar sein könnte, dürften sich selbst fest entschlossene Revolutionäre schnellstens in die Armee des Herrschers haben rekrutieren lassen, der ja auch die erschreckendsten Naturgewalten befehligte.
Lebensnahe Fragen aus der Praxis bleiben dennoch auch mit dieser These ohne Antwort. Das Sonderforschungsgelände war zwar kein Gefängnis für hoch qualifizierte und gut entlohnte Forscher, aber doch sehr abgesondert. Konnte das auf Dauer gut gehen? Waren sie dort mit Familie? Was geschah mit den heranwachsenden Kindern? Hätte sich nicht mancher Spezialist vielleicht doch das große Ganze zusammenreimen und im Land alles verraten können?
Wahrscheinlich bleibt die Faszination von Machu Picchu weiterhin darin begründet, dass wir wie am Ende manchen Films nicht wissen, wie die Geschichte weiter hätte gehen können.
Auch über das Ende des Sonderforschungsprogramms Machu Picchu gibt es bisher lediglich Vermutungen. Sicher ist nur: Die Spanier haben den geheimnisvollen Ort nicht entdeckt. Er wäre sonst, wie alle Herrschaftsstätten der Inkas, gründlich zerstört worden. Die Inkas haben offenbar selbst die Arbeiten eingestellt. Warum?
Den göttlichen Inkaherrschern musste mit der Ankunft der Spanier sehr schnell bewusst geworden sein, dass sie nun mit einer überlegenen Macht konfrontiert waren. Deren Religion kam mit Feuerwaffen, für deren Erfindung man keine astronomischen Erkenntnisse gebraucht hatte. Vielleicht müssen wir uns die Entscheidung der Inkas so vorstellen wie den Ideologiewechsel Gorbatschows. Als die Religion des Marxismus/Leninismus nicht mehr die technologische und militärische Überlegenheit seines Machtsystems gewährleisten konnte, hat er den marxistischen Überbau fallengelassen.
Die Inkas konnten sich nicht länger als die allmächtigen Götter stilisieren. Mit der spanischen Eroberung von Cusco endete dann die Herrschaft der Inkas. Damit kam den Himmelsforschern in Machu Picchu der Auftraggeber abhanden. Unterhaltszahlungen und Berichterstattung wurden eingestellt. Das heutige Weltkulturerbe geriet in Vergessenheit.
Fazit
Alles nur Mutmaßungen? Ja, wie die anderen Theorien auch. Es lohnt sich dennoch, mit all diesen Fragen dorthin zu reisen. Auch für die Leser, die ich nicht habe überzeugen können.
Und was bewegt den Autor? Hat auch seine These einen ideologischen Hintergrund?
Wie man’s nimmt. Die erste Absicht war, der scheinbar absichtslosen Diskussion über die verschiedenen Thesen eine inhärente politische Dimension zu verleihen. Es handelt sich nicht nur um Fragen nach der Vergangenheit, sondern auch um gegenwärtige politische Positionen, die transparent werden sollten.
Und meine eigene Schlussfolgerung: Keine Demutsgesten, die als Hinnahme der Unterwerfung verstanden werden können.
Nicht zu Kreuze kriechen!
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