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Titel: „Bildungspolitik tut so, als würde es Corona gar nicht geben“

Datum: 29. März 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Interviews
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In dieser Woche haben Eltern und Schüler in ganz Deutschland ausnahmsweise mal Planungssicherheit: Aufgrund der Osterferien sind die Schulen zu. Seit einem Jahr gibt es kein Konzept, wie es an den Bildungs- und Betreuungseinrichtungen weitergehen kann und wie möglichst viele Kinder durch ein zielführendes Angebot erreicht werden. Während für Eltern vor allem der Zusatzeinsatz als Hilfslehrer und die gänzlich fehlende Perspektive ein Problem darstellen, sind wachsende Schülerzahlen mit ihrem unstrukturierten Alltag und der Bewältigung des Lehrplans überfordert. Doch der wird in den meisten Bundesländern durchgezogen, als wäre die „neue Normalität“ für alle so effektiv wie die alte. Über das Risiko neuer und alter sozialer Spaltungen sprach Sandra Reuse mit dem Bildungssoziologen Prof. Dr. Marcel Helbig.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit einem Jahr wissen Eltern nicht, wie es in der nächsten Woche weitergehen wird mit der Bildung und Betreuung ihrer Kinder – ist auf? Ist zu? Sind wir in Quarantäne? Seit einem Jahr gibt es kein Konzept, wie an den Schulen ein zielführendes und stabiles Angebot erbracht werden kann, das Kinder und Jugendliche mitnimmt und Familien unterstützt. Herr Professor Helbig, Sie haben sich in einem aktuellen Papier mit möglichen Strategien für die Weiterführung des Schuljahres auseinandergesetzt. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Ich glaube, die größte Herausforderung besteht zunächst darin, eine Debatte ohne Scheuklappen zu führen, ja überhaupt zu beginnen. Denn alle bisherigen Lösungsansätze setzen aus meiner Sicht die Prämisse, dass es die Corona-Pandemie gar nicht gibt.

Die Kultusministerien als Corona-Leugner? Wie meinen Sie das?

Ob nun Nachhilfe, Samstagsunterricht oder Lerncamps: diese Lösungen gehen implizit davon aus, dass der Lernstoff des letzten Kalenderjahres bewältigt werden soll. Punkt. Und wer das nicht schafft, muss aufholen bzw. nacharbeiten. Ich weiß nicht, ob die Bildungspolitik sich dessen wirklich bewusst ist. Aber es ist schon verdammt selbstbewusst zu sagen, wir hatten im letzten Jahr alles im Griff und jeder Schüler hätte den geforderten Lernstoff schaffen können.

Sie haben eine Verlängerung des Schuljahres vorgeschlagen, das stieß auf einigen Widerspruch. Bleiben Sie bei dieser Forderung und warum?

Die Verlängerung des Schuljahres war für mich nur die logische Folge aus den Corona-Schuljahren: Die Schüler und Schülerinnen brauchen mehr Zeit, um unter widrigen Umständen und ohne zusätzlichen Stress das zu lernen, was in der Pandemie und im digitalen Fernunterricht auf der Strecke blieb. Das kann man über die Verlängerung des Schuljahres erreichen. Man könnte aber auch größere Teile des Lernstoffs aus dem jetzigen ins nächste und übernächste Schuljahr schieben. Die dahinterliegende Prämisse ist die gleiche.

Wieviel wissen wir überhaupt über die Lage an den Schulen bzw. die Lernsituation bei den Schülerinnen und Schülern? Wie viele hatten in den zurückliegenden Wochen Präsenzunterricht? Wie viele gehen derzeit zur Schule? Wer wird durch die Digitale Schule erreicht, wer nicht?

Diese Aspekte sind allesamt schwer zu beantworten. Denn sie unterscheiden sich immens zwischen unterschiedlichsten Gruppen und auch von Jahrgang zu Jahrgang. So ist z.B. von großen Schulformunterschieden auszugehen. Während an Gymnasien offenbar regelmäßiger Videounterricht stattfindet – manchmal vielleicht sogar zu viel – sieht es an den nicht-gymnasialen Schulformen und Grundschulen völlig anders aus. Nicht dass Videounterricht immer das geeignete pädagogische Mittel ist, aber es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Grundschulkinder über lange Zeiträume überhaupt keinen regelmäßigen Unterricht hatte. In manchen Landkreisen gab es wohl noch gar keinen Präsenzunterricht seit Mitte Dezember, nicht mal an den Grundschulen. Die Klassen 7 bis 9 durften in vielen Regionen seit Dezember noch gar nicht zurück in die Schulhäuser.

Was schlussendlich aus dem digitalen Unterricht hängenbleibt, darüber geben mittlerweile einige Studien zum ersten Lockdown aus verschiedenen Ländern Aufschluss. Die Ergebnisse sind aber recht gemischt. Während einige Studien keine Lernrückstände finden, verweisen andere auf Lernlücken, die so groß sind, als hätte es während des ersten Lockdowns überhaupt keinen Unterricht gegeben. Bei fast allen bisherigen Studien wissen wir etwas über Mathematik und Lesen. Zur Situation in anderen Fächern wissen wir so gut wie nichts.

Das heißt, wir können bisher nur sagen, wie sich der erste Lockdown auf den Lernstand ausgewirkt hat, über die Wirkungen des zweiten und die Zeit dazwischen ist quasi noch nichts bekannt? Agiert die Bildungspolitik im luftleeren Raum?

Das kann man schon so sagen. Und daran wird sich in diesem Schuljahr wohl auch nicht mehr viel ändern. Problematisch finde ich vor allem, dass einfach so getan wird, als wäre das Homeschooling dem Präsenzunterricht ebenbürtig. Es wird beklagt, dass Deutschland in puncto Digitalisierung weit zurückhängt, Breitbandnetze löchrig sind, die digitale Infrastruktur an vielen Schulen miserabel ist. Die meisten Lehrer haben vor Corona kaum auf digitale Vermittlungswege zurückgegriffen und nun soll das digitale Lernen wie von Zauberhand überall funktionieren! Sorry, aber da fehlt mir die Fantasie. Fragen, wie es um die Motivation der Kinder bestellt ist, wie sie betreut und versorgt werden, werden erst gar nicht ernsthaft gestellt.

Wie elternabhängig ist der Schulerfolg im Homeschooling, lässt sich das abschätzen oder bemessen? Welche Kinder sind derzeit besonders benachteiligt?

Prinzipiell ist es hier wie immer. Kinder aus höheren Sozialschichten kommen besser durchs Homeschooling als Kinder aus sozial benachteiligten Schichten. Es ist zum Beispiel völlig klar, dass das Homeschooling in Familien, in denen kein Elternteil deutsch spricht, nur schwer gelingen kann. Aber auch Kinder über 12 Jahre, deren Eltern nicht zu Hause arbeiten können und die die ganze Zeit sich selbst überlassen sind, haben es schwer. Die Präsenzschule hat bisher zumindest in einem gewissen Ausmaß dafür gesorgt, dass soziale Unterschiede nicht zu stark werden. Jetzt müssen wir davon ausgehen, dass sich nicht nur alte Ungleichheiten verstärken, sondern sich auch neue herausbilden, je nach Wohnsituation, Zeit und pädagogischem Geschick der Eltern, nach Breitbandabdeckung des Wohnortes oder zwischen Regionen, die länger oder kürzer mit Schulschließungen zu tun hatten.

Ein Aspekt aus Ihrem Papier ist, dass manche Schüler/innen aus bestimmten Haushalten beim Homeschooling sogar bessere Ergebnisse erzielen als im Präsenzunterricht?

Es ist naheliegend, dass der Privatunterricht bei einem gut ausgebildeten Elternteil erfolgreicher sein könnte als in einer 1-zu-25-Unterrichtssituation in der Schule. Die Frage ist nur, ob man sich bei der Bewertung der aktuellen Situation und der weiteren Vorgehensweise an diesen Fällen orientieren will, oder an Schülern und Schülerinnen, die diese Voraussetzungen nicht haben.

Wie viele Schüler/innen schaffen es denn Ihrer Einschätzung nach, dem Unterricht, so wie er ist, zu folgen, wie viele gehen verloren? Gibt es überhaupt Zahlen, auf die sich die Politik hier beziehen kann?

Das ist sehr schwer zu sagen. Geeignete und einigermaßen repräsentative Zahlen, um das zu bewerten, gibt es meiner Ansicht nach nicht. Wir machen es uns jedenfalls zu einfach, wenn wir glauben, dass wir hier nur von sozial benachteiligten Schülern und Schülerinnen reden, oder jenen mit Migrationshintergrund, oder jenen, die wir in PISA als Risikoschüler bezeichnet haben. Es ist davon auszugehen, dass eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern außerhalb dieser Gruppen im zweiten Lockdown neben technischen Problemen vor allem an Motivationsproblemen gelitten haben.

In Berlin werden jetzt einzelne Familien angeschrieben und gefragt, ob ihre Kinder das Schuljahr wiederholen wollen. Die anderen sollen in Ferien-Lerncamps gefördert werden. Halten Sie das für eine gute Idee?

Beiden Lösungsansätzen liegt, wie eingangs gesagt, die gleiche Prämisse zu Grunde: Es gibt einen Lehrplan für das zurückliegende und das aktuelle Schuljahr. Wer den nicht erfüllt, der soll nun entweder sitzenbleiben oder den Stoff nachholen, und zwar außerhalb des normalen Unterrichts.

Aber kann das wirklich die Zielsetzung nach einem Jahr Pandemie sein? Können wir das wirklich nach mehreren Monaten im Fernunterricht erwarten?

Konzentrieren wir uns möglicherweise insgesamt zu sehr auf Lehrpläne und zu wenig auf sonstige Aspekte, die Schule ausmacht?

Die Diskussion dreht sich vordergründig um Lernlücken und Lehrpläne. Aber es ist doch wohl so, dass Kinder und Jugendliche, die sich körperlich oder psychisch nicht gut fühlen, mit Sicherheit nicht gut lernen können. Dementsprechend sind die Ergebnisse der sogenannten COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) oder auch die aktuellen Befunde der Berliner Kassenärztlichen Vereinigung über zunehmende psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen stark besorgniserregend. Am Ende müssen wir uns doch folgende Frage stellen: Ist es schlimmer, die Schüler mit großen Lernrückständen und möglicherweise psychischen Problemen mit zusätzlichem Unterricht unter Druck zu setzen, oder ist es schlimmer, dass sich Schüler mit kleinen Lernlücken ein bisschen bei der Stoffwiederholung langweilen?

Titelbild: Suchawalun Sukjit/shutterstock und © Privat


Prof. Dr. Marcel Helbig lehrt an der Universität Erfurt und forscht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) zu Bildung und sozialer Ungleichheit. Seit Oktober 2020 leitet er zudem den Arbeitsbereich “Strukturen und Systeme” am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBI).

Link zum Diskussionspapier: „Corona-Schuljahre – wie weiter? Eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Debatten zur Schließung der Lernlücken infolge der Corona-Schuljahre 2019/20 und 2020/21“


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