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Titel: Brasilien – Der Untergang eines falschen Medienhelden. Sérgio Moro vom Obersten Gerichtshof für befangen erklärt und als Richter disqualifiziert – Ein Nachwort

Datum: 25. März 2021 um 14:04 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Drehtür Politik und Wirtschaft, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Länderberichte
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In einer unerwartet einberufenen Sitzung und als historisch zu bezeichnenden Entscheidung erklärte die 2. Spruchkammer des Obersten Gerichtshofs Brasiliens (STF) am vergangenen 23. März den ehemaligen Richter Sergio Moro – der von Januar 2019 bis April 2020 als Justizminister Jair Bolsonaros diente – in den Justizklagen gegen und der Verurteilung von Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva für befangen und mehrfacher prozessführungs- und verfassungswidriger Delikte schuldig. Von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie die NachDenkSeiten unter dem Titel „Brasiliens Justizfarce „Lavajato“ ist tot“ berichteten, hatte der von Bolsonaro zum STF nominierte Richter Kassio Nunes Marques mit dem Einwand der Akteneinsicht die Spruchkammer-Sitzung am vergangenen 9. März unterbrochen. Nach zweiwöchiger Pause setzte der Vorsitzende der 2. Spruchkammer, Gilmar Mendes, jedoch unerwartet die Fortsetzung der Abstimmungssitzung über einen wiederholten Habeas-Corpus-Antrag von Lulas Verteidigern an, die in einem 3:2-Ergebnis zugunsten Lulas und zum Nachteil Moros gipfelte. Die virtuelle Sitzung dauerte nahezu fünf Stunden, wurde live von Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern mit großer Spannung verfolgt und schien nach den ersten anderthalb Stunden, mit der Stimmabgabe von Nunes Marques, eine verlorene Sache – das Abstimmungsverhältnis stand nun 2:2.

Doch die vierte Sitzungsstunde trieb die Spannung ins Extreme, als die Richterin und ehemalige Präsidentin des STF, Cármen Lúcia – die im Jahr 2018 gegen den Habeas-Corpus-Antrag von Lulas Verteidigern gestimmt hatte – ihr damaliges Votum widerrief und sich nun für die Befangenheitserklärung gegen Moro entschied und damit einen 3:2-Sieg der legalistischen Richter gegen die Moro- und Bolsonaro-Sympathisanten im Hohen Gericht durchsetzte. Die Entscheidung löste noch am späten Nachmittag millionenhafte Freudebekundungen in Medien und sozialen Netzwerken aus, die am Abend, während einer Fernsehansprache Bolsonaros, durch ohrenbetäubende Proteste mit Kochtöpfe-Trommeln in 16 brasilianischen Hauptstädten unter der Devise „Fora, Bolsonaro!“ („Bolsonaro, raus!“) fortgesetzt wurden.

„Feige Richter”: Die Abstimmung und ihre Protagonisten

Kássio Nunes Marques, der jüngste und gerade von Bolsonaro zum Kollegium des STF nominierte Richter, stimmte gegen das Verständnis, dass Ex-Richter Sergio Moro bei der Prozessführung gegen Ex-Präsident Lula parteiisch oder mit Befangenheit gehandelt habe. Auf die nahezu ideologische Besessenheit Moros gegen die Partei der Arbeiter (PT) anspielend, behauptete der konservative Magistrat, „es reicht nicht aus, den Richter wegen bestimmten Ideen als parteiisch oder verdächtig zu bezeichnen“; auch dann nicht, wenn ein vom Angeklagten als „verabscheuungswürdig“ empfundener Richter gegen einen Freispruch stimmt. Mit Hinweisen, mehrere Gerichte und Instanzen hätten die „Beweise“ und Urteile gegen Lula bestätigt, versuchte Nunes Marques über eine Stunde hinweg Sergio Moro aus der Schusslinie zu nehmen und den mehr als umstrittenen Ex-Richter mit fragwürdig verwendeten juristischen Argumenten zu schützen.

Insbesondere wehrte sich der Richter gegen die Prozess-Verwendung der durch Walter Delgatti gehackten Gespräche Moros mit Lavajato-Staatsanwälten als Beweismittel (siehe Artikel vom 11.06.2019 sowie Artikel vom 23.03.2021), obwohl diese gar nicht im Habeas-Corpus-Antrag von Lulas Verteidigern zitiert werden. Nunes Marques behauptete mehrmals, ein Misstrauensvotum dürfe auf keinen Fall „Früchte eines Verbrechens“ als Beweise verwenden, die mit „illegalen Mitteln erlangt“ wurden. Eine scheinheilige Argumentation, die selbstverständlich sämtliche illegalen Telefon-Abhörungen durch Moro – nicht nur Lulas, sondern auch seiner Verteidiger – unerwähnt ließ.

Darauf antwortete der erboste Vorsitzende Gilmar Mendes mit laustarker Ironie: „Hinter der jurisprudentischen Behauptung, einen Habeas-Corpus-Antrag zu verkennen, versteckt sich immer ein Feigling. Wie einst (Anm: der Altjurist und Diplomat) Rui Barbosa sagte, ´Der gute Dieb wurde gerettet, aber es gibt keine Erlösung für den feigen Richter´“. Sodann demontierte Mendes über eine weitere Stunde die Argumente des Kollegen Nunes Marques. Wieso entbehre ein Habeas-Corpus-Antrag rechtlicher Grundlage, um Moros Befangenheit zu beweisen? Werde etwa „die Maßnahmen-Absprache zwischen Staatsanwälten und dem Richter von der Verfassung gedeckt? Hat das mit Unabhängigkeit zu tun?“, hinterfragte Mendes und stellte klar, dass längst vor der Veröffentlichung der gehackten Geheimgespräche Moros Befangenheit in den Akten dokumentiert war. „Mal im Ernst! Ich spreche über das, was in der Akte steht und nicht über einen Hacker. Ich muss aber erkennen, dass Hacker dazu beigetragen haben, das gesamte Phänomen zu verstehen, das unlöschbar ist“.

Dem folgte die „korrigierte Stimme“ der Richterin Carmen Lúcia. Kritische brasilianische Journalisten erinnerten daran, dass die Richterin vor drei Jahren als STF-Vorsitzende die Tagesordnung des Gerichts manipulierte und einen Antrag von Lulas Verteidigung in ihrer Schublade schmoren ließ, der Lulas 580 Tage lange Inhaftierung in Curitiba hätte verhindern können. Nun verließ die Magistratin das untergehende Schiff Sergio Moros. Mit Berufung auf „neue Elemente“ – die skandalösen Hacker-Notizen – die ihr in der ersten Abstimmung von 2018 nicht bekannt waren, begründete sie ihre Umstimmung und votierte für die verletzten und wiederherzustellenden „Grundrechte“ des ehemaligen Angeklagten Lula da Silva.

Als Letzter erklärte der Moro-Verbündete Richter Edson Fachin in einem langweiligen und vergeblichen Plädoyer, die Anschuldigungen gegen den Ex-Richter präsentierten „nichts Neues“, das den Verdacht der Parteilichkeit des Richters erhärten könnte. Auf eine Kurzformel gebracht, habe der Befangenheits-Verdacht seinen „Sinn verloren“, unterstellte Fachin und versuchte mit einer Litanei längst verwitterter Lobesworte das „Erbe“ von Unternehmen Lavajato zu retten.

Doch was treibt eigentlich die Hauptfigur des Aufbegehrens im Hohen Tribunal?

Korrupte Milliardäre verteidigen und Bußgelder zerstörter Unternehmen kassieren: die neuen Jobs des Aufsteigers Sergio Moro

Im Jahr 2018 ordnete Moro die Verhaftung des Kandidaten Lula da Silva an, der das Rennen um die Präsidentschaft angeführt hatte. Die Entscheidung, fußend auf einer Falschaussage gegen Lula, ebnete den Weg für Jair Bolsonaro, der in den Umfragen den zweiten Platz belegte. Sieben Monate später legte der Richter seine Robe ab, um sich der Truppe als Justizminister Bolsonaros anzuschließen, jedoch mit dem abgemachten Ziel, auf einen Sitz im Obersten Gerichtshof nominiert zu werden. Dazu kam es nicht, im April 2020 nahm Moro seinen Hut und „verlagerte die Grauzone von der Politik in die Geschäftswelt“, so Globo-Kolumnist Bernardo Mello Franco.

Mit seinem ersten Auftrag verteidigte er den in der Schweiz wegen Zahlung von 8,5 Millionen US-Dollar Bestechungsgelder in Guinea verklagten israelischen Multimilliardär und Bergbauunternehmer Beny Steinmetz. Als Folgeauftrag wurde er von der US-amerikanischen „Beratungsfirma“ Alvarez & Marsal Management Consulting als Geschäftsführender Gesellschafter eingestellt, die sich auf die Regenerierung bankrotter, aber strategisch wichtiger Unternehmen spezialisiert hat. Doch man staune: Zu den Kunden von Alvarez & Marsal (A & M) zählen „zufällig“ vier Lavajato-Ziele: die größten brasilianischen Bauunternehmen Odebrecht, OAS, Queiroz Galvão und Sete Brasil. In einer Erklärung behauptete der Ex-Minister, er beabsichtige, „Unternehmen dabei zu helfen, das Richtige zu tun“. A & M stellte ihn als Experten für „führende Antikorruptionsuntersuchungen“ und „Kundenberatung für proaktive Regulierungsstrategien und Compliance“ ein.

Zur Erinnerung: Moro war es, der das Schicksal der vier betreuten Unternehmen besiegelte. Er hatte Zugang zu vertraulichen Informationen, verurteilte Führungskräfte und unterzeichnete Plädoyer- und Kronzeugenvereinbarungen. Odebrecht wurde von ihm zur Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 2,6 Milliarden US-Dollar verurteilt. Jetzt operiert er als Odebrechts „Beratungs-Partner“. Welch ungeheuren Schaden Unternehmen Lavajato der brasilianischen Wirtschaft zufügte, vermochte selbst das mit Moro verbündete Medien-Imperium Globo bereits 2015 nicht zu verheimlichen: umgerechnet etwa 28 Milliarden Euro.

Doch was passiert mit Moro nach der Befangenheits-Erklärung? Im richterlichen Bereich gar nichts, Moro hat die Robe 2018 abgelegt. Für Urteile gegen den Angeklagten, etwa eine Schadensersatzforderung Lulas, sind neue Verfahren notwendig, die jedoch an die Adresse des brasilianischen Staates gerichtet werden müssen.

Schmutzige Wäsche gibt es nicht für den Saubermann Sérgio Moro. Im neoliberalen modus vivendi ist der Aufstieg immer clean.

Titelbild: Marcelo Chello/shutterstock.com


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