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Titel: Mütter/Baby-Heim-Skandal in Irland erfasst die, die aufklären sollten
Datum: 1. März 2021 um 13:19 Uhr
Rubrik: Familienpolitik, Kirchen/Religionen, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Von 1922 bis 1998 operierten in Irland sogenannte Mother and Baby Homes, in denen unverheiratete schwangere Frauen und Mütter mit ihren Kindern untergebracht wurden. Zum großen Teil wurden diese Heime von religiösen Orden betrieben. Der irische Staat zahlte in den meisten Fällen für die Unterbringung, aber es gab auch Privat-Patienten. In diesen Heimen wurde nach den Aussagen vieler Überlebender die Menschenwürde mit Füßen getreten bzw. es wurden Menschenrechtsverletzungen und andere Verbrechen begangen. Tausende Babys und Kleinkinder starben auch wegen mangelnder Fürsorge. 2015 setzte die irische Regierung eine Kommission ein, die das Geschehen aufklären sollte. Am 12. Januar dieses Jahres erschien der 2865-seitige Abschlussreport. Während sich der Regierungschef für die historischen Verfehlungen entschuldigte, kam der Report, und die Art, wie er veröffentlicht wurde, sofort unter Beschuss von vielen Seiten. Auch mir drängt sich bei der Lektüre des Reports und anderer Berichte das Gefühl auf, dass es sich hier um eine Reinwaschung bzw. Verharmlosung handelt. Seit der Veröffentlichung hat es weitere unfassbare Ereignisse in diesem Zusammenhang gegeben. Ein Bericht aus Irland von Moritz Müller.
Es sind nun seit der Veröffentlichung des Reports über 6 Wochen vergangen und der Leser möge diese Verzögerung entschuldigen. Dieses Thema ist so vielschichtig, dass es eine Weile gedauert hat, bis ich meine Gedanken (einigermaßen) ordnen konnte. Dies ist ein erster Versuch, dem Thema gerecht zu werden.
Auch als in Irland lebender Deutscher ist mir bewusst, dass man bei der Beschreibung historischer Vorgänge schnell als im Glashaus sitzender Steinewerfer wahrgenommen werden kann. Es soll hier aber mehr über die Anerkennung der Opfer gehen als um Schuldzuweisungen. Am Ende war es ein Nachbar von mir, der mich ermutigte, diese Geschichte aufzuschreiben, damit auf diese Weise auch von außen Druck auf betroffene irische Politiker aufgebaut werden könne.
Es ist mir auch bewusst, dass viele NDS-Leser mit dem Englischen nicht so vertraut sind. Viele der Artikel über diesen Themenkomplex sind allerdings naturgemäß auf Englisch erschienen und obwohl ich mich bemüht habe, auch deutschsprachige Artikel zu finden, werden die meisten der folgenden Links in Englische leiten. Hier kann man sich mit Übersetzungsseiten wie DeepL oder Ähnlichem behelfen.
Historischer Überblick
Im Jahre 1922 erlangten 26 der 32 irischen Grafschaften als erste Kolonie die Unabhängigkeit vom British Empire. Sehr schnell stellte sich die Frage, wie mit außerehelich schwanger gewordenen Mädchen und Frauen verfahren werden sollte. Zur damaligen Zeit wurde dies nicht nur in Irland als große Verfehlung aufgefasst. Diese Frauen waren gesellschaftlich geächtet, während die zu jeder Schwangerschaft gehörenden Männer bis zum heutigen Tag eher ungeschoren davongekommen sind. Was im Gewissen der betreffenden Väter vorging/vorgeht, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Irland war und ist sehr katholisch geprägt, und als 1937 eine neue Verfassung ausgearbeitet wurde, legte der damalige irische Regierungschef Eamon de Valera die Entwürfe regelmäßig dem späteren Catholic Primate of Ireland and Archbishop of Dublin, John Charles McQuaid, vor, der diese dann überarbeitete. Die Herrschaft der britischen Kolonialmacht wurde nach und nach durch eine Theokratie ersetzt, wie es ein irischer Bekannter und Überlebender einer anderen irischen Institution, der Industrial School, mir gegenüber einmal formulierte.
Noch 2019 wurden 90% der irischen Grundschulen von der katholischen Kirche geleitet, weitere 5% von der protestantischen Church of Ireland und auch in den restlichen 5% versteckten sich noch weitere konfessionelle Grundschulen in einer irischsprachigen Organisation. Der Staat zahlt und die Kirchen bestimmen (mit). Auch bei den weiterführenden Schulen werden 51% von den beiden Kirchen kontrolliert.
Ein Drittel der weiterführenden Schulen war 2017 nach Geschlechtern der Kinder getrennt und bei den Grundschulen sind 17% der Schüler auf solchen Schulen. Der Erziehungsminister Ruairi Quinn, der ab 2011 für die Labour-Partei in einer Koalition am Kabinettstisch saß, versuchte hier grundlegende Reformen durchzusetzen und den Kirchen die Macht über die Schulen zu entreißen. Er scheiterte kläglich am Widerstand der Profiteure des Status Quo. Andererseits kann man seine Kinder in Irland auch relativ unkompliziert zu Hause unterrichten.
Außerdem zeigte sich auch in zwei Referenden der letzten Jahre, dass die Gesellschaft hier sehr viel offener geworden ist. Die gleichgeschlechtliche Ehe und die Streichung eines Verfassungszusatzes, der Abtreibungen verbot, wurden jeweils mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Verhütungsmittel waren in Irland von 1935 bis 1980 verboten und auch für die nächsten 10 Jahre wurde der Zugang zur Familienplanung restriktiv gehandhabt.
Als Irland 1922 ein unabhängiger Staat wurde, war es die gängige Praxis, unverheiratete, werdende Mütter in Armenhäusern unterzubringen. Diese Institutionen wurden von den Behörden als untauglich für Mütter und Kinder angesehen, und andererseits fürchtete der Staat, dass diese „gefallenen Frauen“ einen schlechten Einfluss auf die anderen Bewohner der Armenhäuser haben könnten. Viele der Frauen waren allerdings auch Opfer von Vergewaltigungen. Der Staat beauftragte daraufhin verschiedene religiöse Orden mit der Gründung und Leitung dieser sogenannten „Mother and Baby Homes“. Das letzte dieser Heime schloss 1998.
Ab dem Jahr 2010 entdeckte die Historikerin Catherine Corless Diskrepanzen zwischen der Zahl der gestorbenen Kinder und der Anzahl der amtlichen Begräbnisse in einem der Heime und schrieb darüber mehrere Artikel in regionalen Zeitungen. Dies führte 2017 zur Entdeckung zahlreicher menschlicher Überreste in einer nicht mehr benutzten Abwasseranlage in dem Heim in Tuam, County Galway. Man schätzt, dass dort die sterblichen Überreste von ca. 800 Kindern beseitigt wurden. Bis heute haben sich die verschiedenen Regierungen nicht zu einer Umbettung oder einer umfangreichen forensischen Untersuchung durchringen können.
Kommission
Allerdings führten diese Berichte zur Einrichtung der Commission of Investigation into Mother and Baby Homes and certain related matters (Kommission zur Untersuchung der Mütter-und-Baby-Heime und bestimmter dazugehöriger Angelegenheiten), die 2015 ihre Arbeit aufnahm. Diese Kommission besteht aus 3 Personen, eine davon die Leiterin, Richterin Yvonne Murphy. Die Kommission soll am 28. Februar aufgelöst werden, aber das ist noch Gegenstand einer hitzigen Debatte. In den fünf Jahren ihres Bestehens kostete die Kommission im Durchschnitt 7 Mio. €/Jahr.
Für ihre Nachforschungen bekam die Kommission Einsicht in Regierungsakten, Akten der Grafschafts- und Kommunalverwaltungen, Akten der Kirchen und der religiösen Orden, und es wurden 549 Zeitzeugen interviewt und die Gespräche wurden aufgezeichnet.
Es sollte untersucht werden:
Es wurden diverse Interimsberichte veröffentlicht, die teilweise verspätet herauskamen, der letzte ist anscheinend noch überfällig, aber mit der Veröffentlichung des Abschlussberichtes auch hinfällig. Eigentlich sollte die Kommission 2018 ihren Abschlussbericht vorlegen, aber die Zeitspanne wurde zweimal verlängert.
Die Untersuchung war auf 14 Mother and Baby Homes und 4 County Homes, die von staatlichen Stellen betrieben wurden, beschränkt, obwohl es im Lande viele weitere Institutionen dieser Art gab. Insgesamt ist von bis zu 160 derartigen Heime die Rede.
Im Oktober 2020 entflammte in Irland eine heftige Diskussion, als bekannt wurde, dass die Daten, auf die sich der Abschlussbericht stützt, für 30 Jahre weggeschlossen werden sollten. Die beiden Regierungsparteien, die Konservativen und die Grünen, stimmten für diesen Ansatz. Es war aber auch sehr schwer erkennbar, worum es genau ging, und es sieht so aus, als verstoße diese Praxis auch gegen europäische Datenschutzrichtlinien. Ich hatte aber zu dem Zeitpunkt den Eindruck, als solle die Aufklärung irgendwie erschwert werden, obwohl die Regierung das genaue Gegenteil behauptete.
Abschlussbericht – Final Report
Am 12. Januar 2021 wurde der Abschlussbericht der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Überlebenden hatten vorher keine Kopie des Berichts erhalten. Eine Sonntagszeitung, zu der der Report durchgesickert war, veröffentlichte allerdings 2 Tage vor dem Erscheinen Auszüge daraus.
Der Abschlussbericht beschreibt anhand zahlreicher Beispiele die zu untersuchenden Vorgänge. Der Bericht gliedert sich in insgesamt 40 Kapitel. Am Anfang stehen generelle Überblicke und Ergebnisse. Dann gibt es ein Kapitel für jedes der 18 untersuchten Heime und am Ende stehen Kapitel über Sterblichkeit, Adoptionspraktiken und diverse Statistiken. Die Aussagen bzw. die Interpretation der Aussagen der Überlebenden, von Angestellten, Nonnen und Nachbarn durch die Kommission finden sich in den jeweiligen Kapiteln.
Hier findet sich eine Zusammenfassung des Abschlussberichts und nachfolgend einige der Kernaussagen:
Aussagen von Zeugen gegenüber der Kommission und den Medien
Die Aussagen von Überlebenden, die ich bisher gelesen habe, sind zum großen Teil sehr schockierend. Es gibt einige Frauen, die sich tatsächlich sicher aufgehoben gefühlt haben in ihrem Heim. Der Großteil beschreibt allerdings eine umfassende Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit in dieser Situation. Theoretisch hätten die Frauen die Heime verlassen können, aber es gab in der damaligen Gesellschaft tatsächlich keine anderen Orte für sie und es gab Fälle, in denen die Frauen von der Polizei ins Heim zurückgebracht wurden.
1951 versuchte der damalige Gesundheitsminister Noël Browne, ein Mutter-Kind-Gesetz zu verabschieden, das zumindest in der medizinischen Versorgung der Mütter und Kinder teilweise Abhilfe geschaffen hätte. Er scheiterte an einer Koalition aus um ihr Einkommen besorgten Ärzten und der katholischen Hierarchie, die eine Liberalisierung der Familienplanung fürchtete. Außerdem scheint er nicht der diplomatischste aller Minister gewesen zu sein.
Es scheint auch eine Zweiklassengesellschaft gegeben zu haben, in der die „Privatpatientinnen“ aus reichen Familien vom Lande gegenüber denen aus ärmeren Milieus in den Städten bevorzugt wurden. Letztere beschreiben auch durchweg, dass sie während der Zeit ihres Aufenthaltes schwere Arbeiten verrichten mussten. Die Kommission beschreibt, dass es keinen Arbeitszwang gegeben habe. Der Nachbar, den ich traf, erinnert sich an schwangere Frauen bei der Gartenarbeit auf allen Vieren und an Nonnen, die diese mit Stöcken pieksten. Manche Frauen arbeiteten bis kurz vor der Entbindung und dann auch schon wieder einige Tage danach.
Manche Frauen, die ihr Baby bei der Geburt oder kurz danach verloren, durften/mussten sich dann um andere Babys kümmern bzw. diese füttern. Es wird beschrieben, dass man sich maximal eine halbe Stunde um ein Kind kümmern durfte, und eine Mutter beschreibt, wie die Babys ihre Arme ausstreckten, wenn sie in die Wiege zurückgelegt wurden. Es wurde kein Wert darauf gelegt, dass sich eine Bindung zwischen Müttern und Kindern entwickelte. Manchen Müttern war dies gezwungenermaßen recht, da sie als alleinerziehende Mütter nicht in die damalige Gesellschaft gepasst hätten.
Ein Freund von mir hat die ersten 10 Monate seines Lebens mehr oder weniger alleine in einem der Heime verbracht und er führt seine Unfähigkeit, Bindungen einzugehen, und Alkohol- und Drogenprobleme auf diese Zeit zurück. Er hat unter seinen Knien diverse Narben, die nach den Angaben anderer Überlebender auf Impfversuche hinweisen. Zu der Zeit, in der er in der Institution war, wurden dort von der Wellcome Foundation, später Glaxo Smith Kline, derartige Versuche unternommen. Er hat bis jetzt noch nicht eindeutig herausfinden können, um welche Vakzine es sich handelte. Nach seiner Aussage waren seine Adoptiveltern nicht über diese Versuche informiert und es gab somit auch keine offizielle Nachsorge, von der diese wussten. Insofern klingt die Aussage der Kommission, dass keine Nachwirkungen der Versuche bekannt seien, nicht sehr überzeugend, denn wenn man eine mögliche Ursache nicht kennt und nicht nachuntersucht, lassen sich auch schwerlich Nebenwirkungen erkennen oder beweisen.
Manche der Schwangeren wurden von ihren Verwandten in die Heime gebracht, andere durch religiöse „Hilfs“organisationen. Es herrschte eine umfassende Geheimhaltung.
Die meisten Frauen beschreiben, wie sie beim Eintritt in die Heime alles Persönliche abgeben mussten, inklusive Ihres Namens. Sie erhielten dann einen neuen Namen. Auch Kleider und Schmuck musste man abgeben und es wurde eine unförmige Uniform getragen.
Nach vielen Aussagen wurde die ein- und ausgehende Post von den Institutionen kontrolliert und zensiert, was dazu führte, dass viele der Frauen nicht mehr an ihre Familien schrieben, weil sie nicht wahrheitsgetreu berichten konnten. Die Frauen berichten von der drückenden Atmosphäre und dass sie von den Nonnen als Sünderinnen gesehen und bezeichnet wurden.
Viele der Frauen beschreiben die ungenügende Vorbereitung auf die Entbindung. Es gibt Berichte vom völligen Fehlen von medizinischen Untersuchungen und viele der damals sehr jungen Frauen geben an, dass sie überhaupt keine Ahnung hatten, was mit der Geburt auf sie zukommt, und dass ihnen dies auch nicht erklärt wurde.
In vielen Berichten taucht ein Schweigegebot auf. Viele Frauen bezeichnen dennoch die anderen Frauen als ihren einzigen Halt, da ein Großteil ihrer Familien den Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte.
In einigen Aussagen geben Frauen an, dass sie während der Geburt ans Bett gefesselt wurden. In einem Bericht las ich, dass eine Frau in diesem Zustand stundenlang ganz allein gelassen wurde. Die Berichte sind durchzogen von Aussagen, dass die Frauen aufgefordert wurden, bei der Geburt nicht zu schreien, dass sie ihre Schmerzen erlitten, um für ihre Sünden zu büßen, und darum auch keine Schmerzmittel verdienten. Viele Frauen beschreiben die Entbindung als die schlimmste und erniedrigendste Erfahrung ihres Lebens.
Oftmals bekamen die neuen Mütter ihre Kinder überhaupt nicht zu Gesicht. Manchmal wurde ihnen erzählt, ihr Kind sei gestorben und man könne ihnen das Grab aber auch nicht zeigen. Eine Mutter beschreibt gegenüber der Sun-online, dass sie ihr Kind nur bei seiner Taufe gesehen habe und nach diesem Anlass vom Priester vergewaltigt wurde.
Man möchte manche dieser Geschichten als Übertreibungen abtun, aber leider ergibt sich aus vielen der früheren Untersuchungen, die sich mit klerikalem und institutionellem (Kindes)missbrauch beschäftigen, ein ähnlich verstörendes Bild. Ausnahmslos alle Iren, mit denen ich über diese Themen sprach, halten in dieser Richtung nichts für unmöglich. Viele sind sichtlich schockiert oder gereizt, weil es Erinnerungen an die eigene Jugend wachruft. Die Prügelstrafe in der Schule wurde in Irland 1982 abgeschafft und wird seit 1996 strafrechtlich verfolgt. Das Schlagen der eigenen Kinder ist erst seit 2015 komplett verboten.
Nach den Aussagen vieler Mütter sind viele der kleinen Kinder an Hunger und Vernachlässigung gestorben. Viele der Frauen berichten auch von ihrem eigenen permanenten Hunger und dass die Nonnen ein anderes, besseres Essen zu sich genommen hätten.
Es gibt Aussagen über den Druck, der auf die Mütter aufgebaut wurde, damit sie ihre Kinder zur Adoption freigeben. Terry Healey berichtet, dass sie einige Tage nach der Geburt einen Anruf von einem Dubliner Priester bekam, der ihr nahelegte, ihren Sohn adoptieren zu lassen. Sie sagte ihm, er solle „sich verficken“ und sie „in Ruhe lassen“. Sie beschreibt, dass sie wie eine Löwin um ihren Sohn kämpfte. Außerdem weist sie die Behauptung der Kommission zurück, dass es keine erzwungenen Adoptionen gegeben habe.
Eine Frau sagt gegenüber dem Irish Examiner, dass sie gezwungen worden sei, die Geburtsurkunde ihres Kindes mit falschem Namen zu unterschreiben. Sie war sehr jung und erinnert sich so genau daran, weil sie nachfragen musste, wie der falsche Name zu buchstabieren sei.
Manche Überlebende behaupten, es habe ein schwunghafter Handel mit Babys in Richtung USA existiert. Andere Zeugen bezweifeln, dass alle der für tot erklärten Babys auch wirklich tot sind, und dass auch hiervon ein Teil den Weg in die USA genommen hätte.
Der Bessborough-Nachbar sagte mir auch, dass seiner Meinung nach alles möglich sei, was den Verbleib der Babys und Kleinkinder betrifft. Er erwähnte auch Armengräber im St. Finbars Friedhof, und dass man die Babys zusammengefaltet habe, um sie dann mit mittellosen Verstorbenen zu begraben.
Vielleicht handelt es sich um eine Mischung der verschiedenen Möglichkeiten: Armengrab, illegale Adoption, Lieferung an eine Universität für medizinische Untersuchung und Begräbnis im namenlosen Grab auf dem Gelände der jeweiligen Institution. Die Aussagen könnten sicher Stoff für weitere Artikel sein.
Reaktionen und Kommentare auf den Abschlussbericht und die Begleitumstände der Veröffentlichung
Der Regierungschef Michael Martin TD entschuldigte sich im Namen der Regierung und betonte, dass es die Gesellschaft und die Familien gewesen seien, die die werdenden Mütter in diesen Institutionen weggesperrt hätten. Die Regierung plant keine Entschädigung für die Opfer oder polizeiliche Ermittlungen zu den Vorfällen. Die unabhängige Abgeordnete und stellvertretende Parlamentspräsidentin Catherine Connolly TD kritisierte den Bericht und die Art der Entschuldigung scharf.
Es seien nicht sie oder ihre Familie gewesen, die diese Frauen eingesperrt hätten. Der Staat habe diese Einrichtungen in Auftrag gegeben und für die Unterbringung der Mütter und Kinder bezahlt. Die Grafschaftsversammlung von Galway habe im Gebäude des Heims in Tuam, wo wahrscheinlich die sterblichen Überreste von 800 Kindern im Abwassertank liegen, offizielle Treffen abgehalten. Sie kritisierte die 3 „unweisen Männer“ (Regierungschef, Vizepremier und Familienminister) dafür, dass die Überlebenden den Bericht nicht erhalten haben, bevor dieser an Presse und Öffentlichkeit ging.
Sie fuhr fort: „Entweder glauben wir den Frauen oder nicht. Wenn wir ihnen nicht glauben, fügen wir ihnen großen Schmerz zu – sie hatten immer Angst, dass man ihnen nicht glauben würde. Also nutze ich meine wenigen Minuten (Redezeit; Anm. MM) hier, um zu sagen, dass ich den Überlebenden absolut glaube“, sagte sie.
Weiterhin merkte sie an, der Bericht sei unprofessionell und inkonsistent geschrieben. Aussagende würden manchmal als „Personen“, dann als „Zeugen“, dann als „andere Zeugen“ erscheinen. Darüber hinaus sagte sie dies:
„Es waren nicht die Geschichten, die mich aufgewühlt haben. Es ist das Narrativ, welches von den Machthabenden in diese Geschichten gelegt wird. Was einem aus den Auszügen ihrer (der Überlebenden; MM) Aussagen entgegenspringt, ist das völlige Fehlen jeglichen Wissens über Sexualität. Ganz zu schweigen von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung. Dann schaut man sich die Schlussfolgerungen der Kommission an, und sie sagen uns, dass es keine Beweise dafür gab, dass Frauen gezwungen wurden, in Mutter-und-Baby-Heime zu gehen. Das ist für mich außergewöhnlich, denn es steht in keinem Zusammenhang mit den Aussagen der Frauen und Männer, die sich gemeldet haben; wie sie diese Schlussfolgerung ziehen konnten, ist jenseits, jenseits meiner Vorstellungskraft.“
Sie stimmte auch nicht mit der Aussage des Berichts überein, dass die Kommission keine Beweise für Zwangsadoptionen gefunden hat, und sagte: „Das stimmt überhaupt nicht mit den Aussagen der Frauen und Männer überein.“ In diesem Interview geht Catherine Connolly auf die Art des Berichtes ein und zeigt sich entsetzt über den Begriff „kontaminiert“ im Zusammenhang mit den Aussagen der Überlebenden.
Auch mir fiel auf, dass der Bericht in weiten Teilen sehr unverständlich geschrieben ist. Oft sind Nebensätze so angeordnet, dass die Bezüge unklar bleiben. Ich weiß als Journalist selbst, wie schwierig es ist, sich verständlich auszudrücken, aber bei einer Publikation, deren Produktion 30 Mio. € gekostet hat, würde ich schon erwarten, dass mehr Sorgfalt auf Verständlichkeit gelegt wird.
Wenn man sich die PDFs des Reports oder einzelner Kapitel herunterlädt, so haben diese ausnahmslos Dateinamen, die nur aus unverständlichen Nummern bestehen und keine Bezeichnung z.B. der Kapitel. Das ist nicht sehr nutzerfreundlich, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich bei den Überlebenden zumeist um ältere Personen handelt, die, wenn überhaupt, erst spät im Leben den Umgang mit Computern erlernt haben. Hier könnte der Staat, der in Zukunft die Daten aufbewahrt, einfach Abhilfe schaffen.
Man bekommt beim Lesen des Reports den Eindruck, sobald in den Akten etwas Negatives erschien, hat die Kommission etwas angefügt, das dies wieder ausbalanciert. Auch bei den Aussagen der Zeugen werden in Fußnoten oft Zweifel zu Details gesät. Die Aussagen der Zeugen (siehe unten) decken sich vom Grundton überhaupt nicht mit dem, was die Kommission sonst zusammengetragen hat.
Meine Skepsis erreichte 100 Prozent, als ich auf der zweiten Seite des Reports den folgenden Satz las:
„Women were admitted to mother and baby homes and county homes because they failed to secure the support of their family and the father of their child.“ (Fettung MM) „Frauen wurden in Mutter-und-Baby-Heime und Bezirksheime eingewiesen, weil sie dabei versagten, die Unterstützung ihrer Familie und des Vaters ihres Kindes sicherzustellen.“
Das aktive Versagen wird hier also den schwangeren Frauen zugewiesen statt deren Familien oder denen, die am Zustandekommen der Schwangerschaft zumindest beteiligt waren (von Vergewaltigungen einmal völlig abgesehen).
Wenn man sich dann noch an drei Absätze vorher erinnert, dass nämlich 11,4% der Schwangeren minderjährig waren, dann macht der genannte Satz überhaupt keinen Sinn mehr. Bei Minderjährigen ist es nicht die Frage, dass die Kinder die „Unterstützung ihrer Familien (hier: Eltern) sicherstellen“ müssten. Hier gilt die Fürsorgepflicht der Eltern ohne Wenn und Aber, auch wenn das im Einzelfall schwierig sein kann. Es wundert mich, dass dies den Juristen der Kommission nicht aufgefallen ist. Ich bin selbst kein Jurist, aber ich würde einen solchen Satz für anfechtbar halten.
Zu dem Punkt, dass es keinen Zwang von Staat und Kirche gegeben habe und dass es Gesellschaft und Familie gewesen seien, die die Frauen in die Heime gezwungen hätten, würde ich einwenden, dass die Gesellschaft und der Staat ja sehr stark vom Katholizismus geprägt waren und dieser das repressive Klima zum großen Teil miterschaffen hat. Die Reaktionen der heutigen Politiker in Irland lassen sich wohl auch dadurch erklären, dass die ihnen in der Kindheit eingeimpfte Angst vor Priestern und Nonnen weiter anhält. Wenn man bedenkt, dass dies die sechste oder siebte Untersuchung ist, die unglaubliche Verbrechen religiöser Würdenträger ans Licht bringt, so lässt sich die Reverenz, die diesen immer noch erwiesen wird, nicht anders erklären.
Irland steht mit dieser Kontinuität natürlich nicht allein da. In Deutschland blieben Nazis oder Mitläufer auch bis in die 1970er Jahre in Amt und Würden und prägten Institutionen wie die Bundeswehr und den BND zumindest mit.
Dass sich jetzt die religiösen Orden in ihren Entschuldigungen als die Helfer der schutzsuchenden Frauen darstellen dürfen, ist für die Überlebenden schwer verständlich. Natürlich hat es auch mitfühlende Nonnen gegeben, welche den Frauen echte Hilfe zukommen ließen, aber das Gesamtbild sieht doch anders aus, wenn man die Aussagen der Frauen liest und hört.
Was in der Debatte allerdings gar nicht vorkommt, ist die Frage, wie freiwillig viele der Nonnen und auch Priester ihren Weg selber gewählt haben. Als ich mich vor einigen Wochen auf dem Gelände des Bessborough-Heims umschaute, begegneten mir zwei Männer aus der Nachbarschaft. Der eine, der dort seit 65 Jahren, also wohl von Geburt an, wohnte, erzählte mir unter anderem, dass es üblich gewesen sei, dass der Priester zu Familien zu Besuch kam und Nachwuchs für die Priesterschaft und (Nonnen-)Klöster bestimmte. Bei anderen mögen wirtschaftliche Erwägungen und Zwänge eine Rolle gespielt haben, diesen Lebensweg einzuschlagen, oder es waren religiöse Motive und Angst vor Teufel und Sünde.
Hier trafen also vielleicht Opfer auf andere Opfer. Einer Nonne, welche ihr Gelübde abgelegt hat, erschienen Frauen, die sich über gesellschaftliche Konventionen hinweggesetzt hatten oder ihrer Natur freien Lauf ließen, oder die ihnen als solche erschienen, vielleicht bedrohlich für ihr eigenes Weltbild. Schlimm sind so z.B. die Schilderungen im Report, wo die Nonnen ein 15-jähriges Vergewaltigungsopfer als Sünderin behandeln. So schilderte die Frau ihre Erfahrung zumindest der Kommission.
Die ehemalige irische Präsidentin Mary McAleese sagte Folgendes: „Die Kirche war neben einem unterwürfigen Staat höchst mitschuldig. Der Bericht zeigt, wie leicht es war, Frauen und Kinder engen, lächerlichen Vorstellungen von Sexualmoral zu opfern. Alle christlichen Kirchen werden in dem Bericht als verwickelt dargestellt, aber die katholische Kirche hat unter den ungebildeten Menschen eine Kultur der Angst verbreitet. Sie sagte diesen nachdrücklich, dass sie durch die Taufe verpflichtet seien, der Lehre ihrer Kirche zu gehorchen und ein Leben lang Mitglied dieser Kirche zu bleiben. Vom ersten Tag an wurde also ihr Recht auf Information und ihre Meinungsfreiheit beschnitten – sie mussten den Bischöfen gehorsam sein.“ Ihre Kritik richtet sich mehr gegen die genannten Institutionen und nicht gegen den Bericht an sich.
Die Coalition of Mother And Baby Home Survivors bezeichnete den Bericht als unvollständig und sagte, es gebe „starke Beweise für physischen und emotionalen Missbrauch“ und dass „Frauen dazu gebracht wurden, Böden und Treppen zu schrubben und zu Sklavenarbeit herangezogen wurden und auch während der Geburt entsetzlich behandelt wurden, indem ihnen Ärzte, medizinische Geräte und schmerzstillende Medikamente verweigert wurden. Aus dem Bericht geht klar hervor, dass die Mütter und Kinder in den Heimen unter groben Menschenrechtsverletzungen litten; tatsächlich war das, was geschah, geradezu kriminell.“
Die betroffenen religiösen Orden entschuldigten sich für das Geschehene, betonten aber teilweise auch, dass sie nur auf Anweisung des Staates gehandelt hätten und dass sie den Frauen im damaligen gesellschaftlichen Klima eine Obhut gegeben hätten. Die Bons-Secours-Schwestern kündigten auch an, sich an eventuellen Entschädigungen für die Überlebenden zu beteiligen. Der Staat nennt in diesem Zusammenhang nur Minimallösungen.
Was mich wundert bzw. ich hätte mir gewünscht, dass die Kommission mehr Druck ausgeübt hätte auf die Personen, die möglicherweise etwas über den Verbleib der Babys wissen. Sich mit Schulterzucken über das Verschwinden von 859 Babys allein in Bessborough/Cork hinwegzusetzen, kann eigentlich nicht genug sein.
Es ist zwar schon viel Zeit vergangen, seitdem der Großteil dieser Kinder verschwand, aber trotzdem sollte es für Kriminologen oder Forensiker möglich sein, hier eine Spur zu finden. Nicht um zu bestrafen, sondern damit Angehörige dieser Kinder Gewissheit haben, was mit diesen Kindern passiert ist, oder wenigstens das Gefühl, dass sich der Rest der Gesellschaft um diese Frage kümmert.
Geschehnisse seit Erscheinen des Abschlussberichts
Der Orden, The Sisters of the Sacred Hearts of Jesus and Mary mit Sitz in Chigwell, England, welcher das Bessborough Home in Cork City bis 1998 betrieb, hat zwischenzeitlich einen Teil seiner Liegenschaften an private Investoren verkauft, die hier Wohnungen bauen wollten. Nach dem Platzen der irischen Celtic-Tiger-Immobilienblase 2008 zerschlugen sich diese Pläne. Im Oktober 2020 wurde ein neuer Bauantrag gestellt. Die Cork Survivors & Supporters Alliance (CSSA) hatte dagegen Einspruch erhoben, weil sie vermutete, dass sich auf dem Gelände die Gräber der verschwundenen Kinder befinden. Auf einigen Landkarten ist hier ein Kinder-Beerdigungs-Gelände verzeichnet.
Es liegt auch direkt neben einem kleinen Friedhof, auf dem sich die Grabsteine/Grabkreuze von ca. 20 Nonnen und 4 Kleinkindern befinden. Das neueste Grab ist von 1994, dem Jahr, in dem ich mich in Irland niederließ. Auf dem Gelände begegnete ich auch dem auskunftswilligen Nachbarn. Er erzählte mir, dass dort früher Obstbäume gestanden hätten und viel Gemüse angebaut wurde. Heute ist hier eine Art Industriebrache mit der vor 15 Jahren gebauten Erschließungsstraße, die sich langsam wieder aufzulösen scheint, und einigen Erdhügeln, die von privaten und offiziellen Grabungen nach den sterblichen Überresten zeugen. Das Ganze wird gekrönt von drei ausgebrannten rostroten Autowracks, die mit Unmengen von leeren Bierdosen garniert sind. Im Hintergrund ist das sogar im Lockdown auf höchster Alarmstufe sehr laute, permanente Rauschen der Stadtautobahn zu hören.
Mit dem andauernden Lärm ist dies immer noch kein Ort für Wohnungen, in denen Kinder aufwachsen sollen. Zum Glück kam vor einigen Wochen die Meldung, dass der Bauantrag im Moment abgelehnt wurde. Es gibt schon unzählige Eichenbäumchen, die dem Platz in den kommenden Jahrzehnten etwas Ruhe zurückgeben könnten.
Was allerdings für Unruhe auf politischer Bühne sorgte, war die Meldung, dass die Kommission die Tonaufzeichnungen der Gespräche mit den 549 Zeugen schon im Sommer letzten Jahres vernichtet hatte. Die Diskussion vom letzten Oktober um die Wegsperrung der Daten schien also sinnlos und Makulatur. Die Kommission begründete diesen Schritt damit, dass der Datenschutz der Zeugen gewährleistet sein müsse. Die Kommission behauptet, dass den Zeugen gesagt wurde, dass ihre Aussagen nach der Auswertung vernichtet würden. Die Zeugen verneinen dies und es gibt wohl auch keine Einverständniserklärung der Zeugen zur Vernichtung der Tonaufzeichnungen. Diese Vernichtung verstößt gegen EU-Datenschutzrecht und wird auch dadurch pikant, dass viele der Zeitzeugen sich durch die Interpretation ihrer Aussagen im Abschlussbericht falsch repräsentiert fühlen.
Die Nachricht über die Vernichtung der Aufzeichnungen führte zu scharfen Reaktionen von Oppositionspolitikern und die Social Democrats verlangten eine Verlängerung der Laufzeit der Kommission um ein weiteres Jahr. Nach der Auflösung können die Mitglieder der Kommission nicht mehr für das ganze Verfahren belangt werden. Ein Parlamentarier nannte es „in Richtung Sonnenuntergang segeln“. Auf der Twitterseite der CSSA kann man aber sehen, dass dieser Vorschlag nicht bei allen auf Gegenliebe stößt und Probleme des täglichen Lebens Überlebenden wichtiger erscheinen.
Dieser Artikel auf RTE beschreibt, dass die Regierung trotz einer gegenteiligen Abstimmung die Laufzeit der Kommission nicht verlängern will, und schließt damit, dass, wenn die Kommission abgewickelt ist, die Opfer eine Medical Card (freie medizinische Versorgung) erhalten können. Ich frage mich, warum diese Menschen nicht auch eine Medical Card erhalten können, während die Kommission sich noch verantworten muss.
Am 23. Februar wurde dann bekannt, dass die doch noch aufgetauchten Sicherheitskopien der Tonaufzeichnungen tatsächlich auch abspielbar sind. Hoffentlich passiert nicht wieder versehentlich etwas mit diesen Datenträgern, wenn die Kommission am 28. Februar abtritt …
Wohin?
Die ganze Geschichte scheint mit dem Abschlussbericht keineswegs ausgestanden oder ausreichend geklärt. Viele der Überlebenden warten immer noch auf Zugang zu ihren Akten, die am Sonntag in die Verantwortung des Familienministeriums übergehen. Man wird dem zuständigen Minister Roderick O‘Gorman TD genau auf die Finger schauen müssen.
Im Grunde genommen könnte man eine neuerliche Untersuchung damit beauftragen, diese gewissermaßen gescheiterte Kommission zu untersuchen. Vielleicht kann man aber auch die Tonaufzeichnungen der Opfer, die dazu bereit sind, auf eine Art und Weise verwenden, die den Aussagen und dem Gedenken an die Opfer wirklich gerecht zu werden versucht.
Trotz der beschriebenen Tragödien sind die Menschen hier in Irland erstaunlich guter Dinge, als wollten sie Zeugnis ablegen von der Widerstandskraft des Guten in unserer menschlichen Natur, und es ist nach wie vor ein Land, in dem man sich heutzutage relativ frei fühlen kann. Das lässt auch für die Zukunft hoffen.
Hier noch einige Artikel zum Thema:
Titelfoto: Bessbourough House, Cork City / Alle Fotos © Moritz Müller
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=70314