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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Hanau als weiteres Puzzlestück im Kampf um den «Tag X»
Datum: 19. Februar 2021 um 14:12 Uhr
Rubrik: Anti-Islamismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Gedenktage/Jahrestage, Ideologiekritik, Rechte Gefahr, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
Allem Anschein nach handelte es sich beim Attentäter in Hanau im vergangenen Jahr um einen sogenannten einsamen Wolf, dessen Ziel es war, den derzeitigen Status Quo nicht nur infrage zu stellen, sondern mit Gleichgesinnten langfristig zu stürzen. Ein Kommentar von Yves Lamar.
Hanau, 19. Februar 2020
Gökhan Gültekin,
Sedat Gürbüz,
Said Nesar Hashemi,
Mercedes Kierpacz,
Hamza Kurtović,
Vili Viorel Păun,
Fatih Saraçoğlu,
Ferhat Unvar und
Kaloyan Velkov
So hießen die neun Todesopfer, die in und vor einer Shishabar, einem Kiosk und einer Bar in Hanau am 19. Februar 2020 vom Attentäter R. ermordet wurden.* Alle Opfer haben eine Migrationsgeschichte. Als zehntes Opfer erschoss der Attentäter seine Mutter und richtete sich anschließend selbst. Im Internet hatte R. vor der Tat rassistische Botschaften und Verschwörungsideologien verbreitet.
Shishabars haben gemeinhin innerhalb der deutschen, weißen, christlichen, heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft das Image als mafiöse Treffpunkte, als Spelunken der sog. Orientalen und Orientalinnen, die sich anscheinend durch den Konsum der Wasserpfeife bewusst von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen und der ihr aufgezwungenen Integration widersetzen wollen. Andererseits könnte man sie auch als Rückzugsorte für diejenigen ansehen, die in die angesagtesten Bars und Clubs der Stadt gar nicht erst eintreten dürfen und wohl oder minder sich mit diesen Bars ihre eigenen Räume schaffen (müssen), um dort ihr Paria-Dasein fristen zu können. Sie sind quasi der Rückzugsort für all die Ausgestoßenen der Mehrheitsgesellschaft – und haben somit wahrscheinlich perfekten Symbolcharakter bei all denjenigen, die Angst vor einer „Überfremdung“ und einer „Islamisierung“ haben. Die Shishabar als Feindbild für die verhasste „Multikulti-Gesellschaft“, die es – nach der Tat und den Botschaften des Attentäters R. zu urteilen – zu bekämpfen gilt.
In den Botschaften des R. war zu lesen, dass „die Existenz gewisser Volksgruppen (…) ein grundsätzlicher Fehler“ sei, eine „Grobsäuberung“ und anschließende „Feinsäuberung“ sei notwendig, die auch „das eigene Volk“ betreffen müssen, da „nicht jeder, der heute einen deutschen Pass besitzt, reinrassig und wertvoll“ sei.[1] Des Weiteren hätten bestimmte „Rassen und Kulturen“ keinen Beitrag geleistet, seien gar destruktiv – „vor allem der Islam“.[2] Ganze Völker müssten komplett vernichtet werden. R. zählt hierbei eine lange Reihe von Staaten auf, die von Marokko über die Türkei und den Nahen Osten bis hin nach Südostasien reichen.[3]
Wer sich weiter mit dem „Manifest“ beschäftigt, stellt relativ schnell fest, dass neben kruden Verschwörungstheorien und einer womöglich paranoiden Schizophrenie, es sich v.a. um eine Tat handelt, die zweifelsohne dem militanten Rechtsextremismus zugeschrieben werden kann. Es erscheint somit aus der Verschwörungstheorien-Welt des R. logisch, dass er sich eine Shishabar aussuchte und all die zuvor aufgezählten Menschen umbringen musste, um seinem mitleiderregenden Leben ein Denkmal zu setzen, um seine Ehre, v.a. als weißer, heterosexueller Mann, doch noch irgendwie wahren zu können.
Nicht zu vergessen sei an dieser Stelle auch die Frauenfeindlichkeit des Täters, der in seinem „Manifest“ ein ganzes Kapitel allein dem weiblichen Geschlecht widmete. Es liegt somit nicht fern, dass es sich bei R. um einen unfreiwillig im Zölibat lebenden heterosexuellen Mann handelte, der der Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit anhing (sog. Incel).
Insofern könnte man seine Tat psychoanalytisch auch als eine perverse Art der Triebbefriedigung werten, da der Orgasmus (bzw. bei Männern die Ejakulation) im Sinne der psychoanalytischen Dogmatik als ein Ausbruch der Freiheit gewertet wird, die R. all die Jahre (oder Jahrzehnte?) verwehrt blieb.
Es ließe sich somit schlussfolgern, dass R. zwar als Einzelperson agierte – und allem Anschein nach auch massiv psychisch gestört war – seine Tat entspricht jedoch eher dem terroristischen Tätertyp des einsamen Wolfes …[4]
Ein weiterer einsamer Wolf
„Wie sollte ein ehrenhafter Mann dem Bösen begegnen?“, so die Kernfrage im Vorwort des Buches Hunter bzw. Jäger von William Luther Pierce. Neben den Turner-Diaries / -Tagebüchern ist dies einer der Kultromane der internationalen, rechtsextremen Szene, die viele als Blaupause für das neonazistische Terrorkonzept des sog. führerlosen Widerstandes sehen.
In den Turner-Tagebüchern geht es um eine Person, die sich im Rassenkrieg sieht. In diesem weltweit geführten Krieg soll „das System“, das von Juden und Jüdinnen beherrscht sei, überwunden werden. Der Protagonist schließt sich einer Zelle von „arischen“ Widerstandskämpfern an, um gegen die „ZOG“-Regierungen der Welt (ZOG = Zionist Occupied Government), deren Zentren in New York und Tel Aviv seien, anzukämpfen, um die weiße Vorherrschaft zu verteidigen.[5]
Auch im NSU-Prozess wurden die Turner-Tagebücher als Beweismittel eingeführt, die u.a. auf den Festplatten der beiden Mitangeklagten NSU-Helfer gefunden wurden.
Das Bundeskriminalamt sah gewisse Parallelen des NSU zu dem Roman, u.a. bzgl. des Prinzips des “führerlosen Widerstands”, der Geldbeschaffung durch Banküberfälle und die auch im Roman geschilderte willkürliche Ermordung von Imbissbetreibern (im Roman als “Orientalen mit dunklen, gekräuselten Haaren” beschrieben).[6]
Das Prinzip des führerlosen Widerstandes wurde im Zusammenhang mit den NSU-Morden verkannt, obwohl es den Gefahrenabwehrbehörden hätte bekannt sein müssen.[7] Die linksterroristische RAF agierte ebenfalls im Sinne der Propaganda der Tat. Ziel dieser Aktionsform ist es, durch gezielte Anschläge und Morde Sympathien in der Bevölkerung zu schaffen, diese „aufzuwecken“, um somit politische und soziale Veränderungen zu erzielen.
Um eine Unterwanderung innerhalb größerer, hierarchischer Organisationen zu vermeiden, versuchen Phantomzellen bzw. Einzelpersonen eigenverantwortlich ein politisches Statement durch ihre Gewalt zu setzen – sie handeln dabei aber immer stets für „die Bewegung“; in der Regel sind diese Zellen für die Strafverfolgung sehr schwer aufzuspüren. Zumeist gibt es bei den Attentaten auch kein Bekennerschreiben. Die Tat – oder genauer gesagt: die Waffe – spricht hier für sich.[8] Eine Česká-Pistole wurde bei den NSU-Morden verwendet, die Mordserie wurde anfangs sogar als sog. Česká-Mordserie bekannt – interessant ist, dass R. im vergangenen Jahr in Hanau ebenfalls u.a. eine Česká nutzte.
Ein weiterer Beitrag für den «Tag X»
Das, was in Hanau vor einem Jahr passiert ist, reiht sich in das Narrativ der Turner-Tagebücher ein. In einem weltweit geführten Rassenkrieg soll in klassischer antisemitischer Rhetorik das „Weltjudentum“ bzw. die damit zusammenhängenden Personen und Einrichtungen bekämpft werden, damit der „Bevölkerungsaustausch“, die „Umvolkung“ bzw. der „Volkstod“ der weißen „Rasse“ um jeden Preis vermieden wird. R. könnte sich hierbei als Soldat innerhalb dieses vermeintlichen Rassenkampfes gesehen haben.
Die Turner-Tagebücher wurden nicht umsonst von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. Es gilt als Standardwerk der rassistischen Bewegung der weißen Vorherrschaft („White Supremacy“). Ergo muss man sich mit der Ideologie und der Symbolik der Neuen Rechten auseinandersetzen.
Den Büchern von Pierce und dem heutigen Neonazismus liegt das rassistische Konzept des völkischen Nationalismus der völkischen Bewegung zugrunde. Diese geht von homogenen ethnisch-biologischen bzw. ethnisch-kulturellen Einheiten innerhalb einer Bevölkerung aus. Der „Arier“ bildet mit seinem Siedlungsgebiet eine dieser Einheiten und steht an der Spitze der Hierarchie. Feindbild ist hierbei das jüdische Nomadentum, das nach dieser Logik versucht, die germanisch-nordische Rasse als Bauerntum zu unterwandern. Antagonist dieser Ideologie ist bis zum heutigen Tag zwar immer noch das „Welt-Judentum“, jedoch tritt als neues Feindbild ebenfalls antimuslimischer Rassismus noch hinzu. Muslime und Musliminnen bzw. als Migranten und Migrantinnen gelesene Menschen sind ebenfalls Teil dieses antisemitischen Weltbildes, das Nationen und Völker zerstöre. Im Zuge dessen müsse Migration, Feminismus oder die „Genderideologie“ physisch und intellektuell bekämpft werden.
Von der Theorie zur Praxis
Der große Aufschrei blieb im Jahre 2018 aus, als aufgedeckt wurde, dass innerhalb deutscher Behörden (Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr, MAD) ein bewaffnetes, rechtes Terrornetzwerk sich aufbaute und sich – als wären die Turner-Tagebücher tatsächlich eine Blaupause für all das – auf den Tag X vorbereitet (sog. Hannibal-Netzwerk).[9]
An diesem Tag soll zu den Waffen gegriffen werden und der Rassenkrieg gewonnen werden. Mit Bundeswehrlastwagen sollen politische Gegner, d.h. Menschen aus dem linken politischen Spektrum, gefangen genommen, in Lager interniert und schlussendlich hingerichtet werden.[10]
Dies war der Vorwurf des Generalbundesanwalts, als dieser Ende August 2017 in Mecklenburg-Vorpommern Wohnhäuser und Büros durchsuchen ließ. In den Chatgruppen bzgl. des Tag X ist u.a. auch der Bundeswehr-Soldat Franco A.,[11] der unter Terrorverdacht verhaftet wurde.
Schaut man sich folgende Zahlen an, könnte man glauben, dass die Vorbereitungen für den Tag X im vollen Gange sind: Seit 1990 werden von der Bundesrepublik 109 Morde als rechtsextrem motiviert anerkannt (Stand 30. September 2020). Nach Recherchen des Tagesspiegels und von Zeit Online müsse es sich aber mindestens um 187 Menschen handeln, die aus ebendiesen Gründen ermordet wurden;[12] laut Amadeu Antonio Stiftung sogar um mindestens 213 Todesopfer (Zum Vergleich: Dem Bundeskriminalamt nach wurden durch islamistische Gewalt zwischen 2011 und 2019 17 Menschen getötet.)[13].[14] Dem Verfassungsschutzbericht nach erhöhte sich innerhalb von fünf Jahren, d.h. von 2013 bis 2018, die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten um 35,8 Prozent auf 1.088 Delikte.[15] Tendenz steigend. Innerhalb eines Jahres erhöhten sich die Waffenfunde bei rechten Straftätern um 61 Prozent.[16] Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten stieg um über 71,4 Prozent auf 48 Delikte.[17]
Wölfe im Schafspelz
Verbale Äußerungen der Neuen Rechten und tatsächlich gewalttätige Akteure und Akteurinnen, wie im vorliegenden Fall bzgl. R., bedingen sich gegenseitig. Die „klassisch“ völkische Ideologie ist heutzutage nicht mehr gesellschaftsfähig, taucht jedoch heutzutage in abgewandelter Form des Ethnopluralismus (griechisch-lateinisches Kunstwort für Völkervielfalt) immer mehr in der Mitte der Gesellschaft auf – allerdings mit dem Unterschied, dass hierbei homogene Kulturräume angestrebt werden. Die Idee vom Kampf der Kulturen seitens Huntington[18] wird hier auf einmal erschreckende Realität.
Der Ethnopluralismus wirkt auf den ersten Blick nicht so martialisch wie die völkische Ideologie. Das Vokabular wirkt moderater, liberaler, gar bildungssprachlich.
Blickt man jedoch in das Grundsatzprogramm der AfD, erkennt man, dass es die Neue Rechte in die Mitte der Gesellschaft geschafft hat. Die sog. Alternative für Deutschland bekennt sich zwar zu einer offenen und freien Gesellschaft, in der Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Religion friedlich zusammenleben sollen – jedoch wird Rassismus hier funktional durch Kulturalismus ersetzt: der „ethnisch-kulturelle […] Wandel der Bevölkerungsstruktur“ wird hier zu einem der drängendsten Probleme der heutigen Zeit erklärt.[19] Durch geschickte Rhetorik schafft es die AfD immer wieder, die Grenze zur Volksverhetzung zu umgehen; die Aussagen sind in aller Regel von der Meinungsfreiheit gedeckt,[20] auch wenn man meist haarscharf an ihr vorbeischrammt.[21]
Doch hin und wieder schimmert anhand der Aussagen einzelner Politiker und Politikerinnen die „klassische“ völkische Ideologie hindurch: “Christentum und Judentum stellen einen Antagonismus dar. Darum kann ich mit dem Begriff des christlich-jüdischen Abendlands nichts anfangen.”[22] oder “Im 21. Jahrhundert trifft der lebensbejahende afrikanische Ausbreitungstyp auf den selbstverneinenden europäischen Platzhaltertyp.“;[23] beide Zitate stammen von Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD im Thüringer Landtag.
Parteien wie die AfD, der Front National (bzw. mittlerweile Rassemblement National) in Frankreich, die niederländische Partij voor de Vrijheid, die FPÖ in Österreich oder die Lega Nord in Italien können somit im europäischen Kontext als der parlamentarische Arm der Ideologie des Ethnopluralismus gesehen werden. Mit ihren Aussagen, ihrer rechten Hetze und teils Aufrufen zu politischen Umstürzen könnte man durchaus argumentieren, dass sie damit quasi eine „Lizenz für Anschläge“[24] lieferten und sich zu einem Teil mitschuldig im Rahmen der rechtsextremistischen Anschläge machen.
Weltweit geführte Grabenkämpfe
Die rechtsterroristischen Attentäter aus den vergangenen Jahren sollten in einem größeren Zusammenhang gesehen werden, da sie ganz im Sinne der Lone-Wolf-These im führerlosen Widerstand agierten, um den Tag X heraufzubeschwören: Der Täter, der einen Anschlag im Jahre 2019 auf zwei Moscheen in Christchurch verübte, war u.a. in Kontakt mit der Identitären Bewegung in Österreich und spendete sogar an sie.[25] Bei seinem Anschlag trug er die Schwarze Sonne (Erkennungszeichen innerhalb der rechtsesoterischen, -extremistischen Szene), bezieht sich auf die 14 words („We must secure the existence of our people and a future for White children.“), den zuvor erwähnten Ethnopluralismus, „europäisches, weißes Blut“ sowie das ebenfalls zuvor erwähnte Hannibal-Netzwerk um Franco A. Er sieht sich als stolzen Rassisten und in einer Reihe mit Anders Breivik[26] oder sogar Karl Martell[27] im Kampf um die Verteidigung des Abendlandes.[28] In seinem „Manifest“ rief er zum Rassenkrieg auf, um den „großen Bevölkerungsaustausch“ in Europa zu verhindern.
Neben dem dargestellten Rassismus, Vernichtungsfantasien und dem Hang zu Verschwörungstheorien gibt es weitere Gemeinsamkeiten der Attentäter aus der internationalen rechtsterroristischen Szene (egal ob in Hanau, Halle, El Paso, Dayton oder Christchurch): Gemein haben sie eine antifeministische und eine frauenfeindliche Grundhaltung, wie aus deren Selbsterklärungen herauszulesen ist. Der Anti-Feminismus sieht die traditionelle Familie aus Vater, Mutter und Kindern als Keimzelle der Nation, die man(n) zu bewahren habe.[29]
Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke im Juni 2019 sollte auch im Rahmen der zuvor genannten Umsturzpläne gesehen werden: Lübcke war auf der Feindesliste des NSU. Die offiziellen Mitglieder des NSU waren auch Teil der mittlerweile verbotenen Neonazi-Gruppe Combat 18, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch der Mörder von Walter Lübcke angehörte.[30] Dieses Wissen hatte auch der hessische Verfassungsschutz. Combat 18 plant, mal wieder in Manier der Turner-Tagebücher, den Aufbau eines Staates in NS-Tradition. Dieses ist eng mit dem internationalen Neonazi-Netzwerk Blood & Honour verbunden, das es sich zur Aufgabe macht, die nationalsozialistische Ideologie zu verbreiten – und dies auch mithilfe der Romane von Pierce.[31]
Und jetzt?
Die Neue Rechte hat es sich zur Aufgabe gemacht, im gesellschaftlichen Diskurs den Ethnopluralismus salonfähig zu machen. Ganz im Sinne des marxistischen (!) Theoretikers Gramsci wird versucht, kulturelle Hegemonie zu erringen, indem der Elitendiskurs durch publizistische Tätigkeiten infiltriert wird, um die öffentliche Meinung zu dominieren und langfristig regieren zu können.
Die einsamen Wölfe sind hierbei willige Gehilfen der intellektuellen Brandstifter aus den Parlamenten. Durch die „Propaganda der Tat“, dem „führerlosen Widerstand“, versuchen sie die Bevölkerung „aufzuwecken“. Durch Relativierungen nimmt man diese Taten aber trotzdem billigend in Kauf.
Die Verbandelung der AfD mit tatsächlichen Neonazi-Führern spricht hierbei Bände, die Grenze zum Rechtsextremismus ist hier fließend: erst vor Kurzem wurde bekannt, dass ein langjähriger Neonazi-Anführer sich für die Kommunalwahlen von der AfD in Kassel aufstellen ließ.[32] Es wird auf intellektueller wie physischer Ebene ein Krieg geführt, der die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes ernsthaft gefährdet. R. war zwar verwirrt, aber kein klassischer Einzeltäter. Verwirrung und Rassismus schließen sich nicht aus; bei rechten Anschlägen darf die geistige Verfassung des Täters gegen den ideologischen Hintergrund – wie so oft bei islamistischen Terrorakten – nicht aufgerechnet werden.[33]
Eine reale Gefahr besteht heutzutage für Menschen in Deutschland, deren äußeres Erscheinungsbild nicht den Vorstellungen der völkischen Ideologie entspricht. Dass die rechte Gefahr nicht gesehen wird, hängt womöglich damit zusammen, dass sie für weiß gelesene Menschen in der Regel keine reale Gefahr bedeutet. Dass von dieser Regel dann hin und wieder eine Ausnahme gemacht wird, erkennt man daran, dass Walter Lübcke für seine Äußerungen zur Flüchtlingspolitik der Kanzlerin mit seinem Leben bezahlen musste.
Im Vergleich zum islamistischen Terrorismus – der hier in keiner Weise verharmlost werden soll – sind die Zahlen der rechtsextremistischen Straftaten allerdings weitaus beängstigender; Menschen mit Migrationsgeschichten, d.h. BIPoC, aber auch queere Menschen, sind einer vielfach höheren real existierenden Gefahr ausgesetzt, ihr Leben zu verlieren, als eine weiß gelesene, heterosexuelle Person.[34]
Wenn von Fremden(!)feindlichkeit als vorrangiges Tatmotiv und nicht von Rassismus die Rede ist, steckt die völkische Ideologie in den Köpfen der Menschen womöglich doch mehr, als ihnen wahrscheinlich lieb ist. Aufgrund mangelnden Bewusstseins können sie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Die Gefahrenabwehrbehörden erkannten nicht die Zusammenhänge der NSU-Morde, die zuvor – vielsagend – als Döner-Morde bezeichnet wurden. Die Opferfamilien wurden zunächst selbst verdächtigt, an den Morden beteiligt gewesen zu sein; man warf den Familien vor, in mafiösen Strukturen zu stecken. Man konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, dass es sich um rechtsextreme Taten handeln könnte.
Solange innerhalb deutscher Behörden ein mangelndes Bewusstsein bzgl. dieser Fakten herrscht, keine Aufklärung betrieben wird, Akten immer wieder aus unerklärlichen Gründen geschreddert, Faxe aus Polizeidienststellen anonym als Drohbriefe versandt werden können, ohne dass dies für die Beamten und Beamtinnen Konsequenzen haben wird, Akten für die kommenden 120 Jahre aufgrund des Arguments des Staatsschutzes verschlossen bleiben (müssen), kann man pessimistisch sagen, dass für „Wehret den Anfängen!“ der Zug mittlerweile schon abgefahren ist.
Geschichte wiederholt sich (?)
Nach Aussagen vieler Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftlerinnen befinden wir uns derzeit am Anfang einer großen ökonomischen Depression,[35] wie damals im Jahre 1929.* Die Weltwirtschaftskrise wird als eine der maßgeblichen Gründe für das Erstarken der NSDAP genannt. Die sozio-ökonomischen Faktoren aus den vergangenen Jahren und der Sieg des Neoliberalismus der Chicagoer Schule seit spätestens 1979 müssen bei der Frage mitberücksichtigt werden, warum in vielen Nationen weltweit eine Tendenz zum Autoritarismus und Faschismus derzeit zu beobachten ist. Auch sozialdemokratische Regierungen seit den 1990er Jahren verschreiben sich mehr oder minder dem Neoliberalismus. Dies ist unschwer an der Agenda 2010 der damaligen rot-grünen Regierung zu erkennen.
Der Aufstieg des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik wird u.a. auch damit begründet, dass die Symbole und Rituale der Nationalsozialisten die Funktion hatten, die Menschen im Innersten, im „Unbewussten“ anzusprechen, und dass dieser Mechanismus von den bürgerlichen, humanistischen Kräften unterschätzt wurde.
In den Studien zum autoritären Charakter führte Fromm aus, dass komplexe politische Vorgänge nicht deswegen nicht verstanden werden können, weil die Menschen dazu kognitiv nicht in der Lage seien, sondern dies schlicht und ergreifend damit zusammenhänge, dass dies psychisch bedingt sei. Fromm und Adorno arbeiteten unter Bezug auf Erkenntnisse der Psychoanalyse heraus, dass durch gewalttätige Erziehung, Abwesenheit der Eltern und andere Einflüsse Persönlichkeitsstrukturen und psychische Dispositionen geprägt sein würden, die die Gesellschaft anfällig für Rassismus und Antisemitismus machten. Ebenso entstünde dadurch die Bereitschaft zur Unterwerfung unter einen Diktator und zur Anwendung von politischer Gewalt gegen – aus dieser Sichtweise – Fremde.[36]
Diese Gefahr besteht heute nach wie vor. Den Beweis für diese These lieferte dafür R. in Hanau.
In Anbetracht all dessen sollte die Antwort auf die Frage des Autoren Pierce im Vorwort des Hunters „Wie sollte ein ehrenhafter Mann dem Bösen begegnen?“ hinsichtlich des rechtsterroristischen Attentats vor einem Jahr in Hanau zu denken geben: „Das Blut, das durch unsere Adern fließt, weist uns den Weg.“
* Hinzufügungen am 23.02.2021 17:00 Uhr
Titelbild: Yves Lamar CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)
[«1] Melchers, Carl, Endkampf gegen Shishabars, jungle.world/artikel/2020/09/endkampf-gegen-shishabars (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«2] Melchers, Carl, Endkampf gegen Shishabars, jungle.world/artikel/2020/09/endkampf-gegen-shishabars (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«3] Vgl. Prantner, Christoph, Das «Manifest» von Tobias R. liest sich wie das Werk eines psychisch Gestörten. Und doch reiht sich die Tat in Hanau ein in einen zunehmend militanten Rechtsextremismus, nzz.ch/international/der-massenmoerder-von-hanau-ein-rassistischer-einsamer-wolf-ld.1541719 (zuletzt abgerufen am: 16.02.2021).
[«4] Prantner, Christoph, Das «Manifest» von Tobias R. liest sich wie das Werk eines psychisch Gestörten. Und doch reiht sich die Tat in Hanau ein in einen zunehmend militanten Rechtsextremismus, nzz.ch/international/der-massenmoerder-von-hanau-ein-rassistischer-einsamer-wolf-ld.1541719 (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«5] Das Versteckspiel, The Order / Brüder Schweigen / Robert Mathews / The Turner Diaries, dasversteckspiel.de/die-symbolwelt/terror-und-gewalt/the-order-brueder-schweigen-robert-mathews-the-turner-diaries-204.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«6] Lemmer, Christoph, Roman soll Beweise liefern – Die Turner-Tagebücher und der NSU, n-tv.de/politik/Die-Turner-Tagebuecher-und-der-NSU-article13510801.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«7] Radke/Staud, Die falschen Vorstellungen von rechtsextremem Terror, zeit.de/gesellschaft/2019-06/rechter-terror-rechtsextremismus-attentat-ermittlungen/komplettansicht?utm_referrer=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2F (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«8] „Anders Breivik, David Copeland, Kay Diesner – alle diese mutmaßlichen „Einzeltäter“ hatten vorher die Anbindung an die Szene und mussten nicht das Gefühl haben, alleine zu handeln. So könnte Hunter nicht nur ein heimlicher Traum von Neonazis sein, sondern handlungsweisend, z.B. wenn man sich den Mord an Burak Bektaş in Berlin-Neukölln im Jahr 2012 anschaut: Ein bis heute unbekannter weißer Mann tritt wortlos auf eine Gruppe von als migrantisch zu erkennenden Jugendlichen zu, schießt, dreht sich um und verschwindet. Kein Bekennerschreiben.“, Sanders, Eike, Was ein ehrbarer Mann tun muss – Der Roman „Hunter“ von William Pierce als Vorlage für den Lone Wolf Terrorist, nsu-watch.info/2015/05/was-ein-ehrbarer-mann-tun-muss/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«9] Kaul/Schmidt/Schulz, Hannibals Schattenarmee, taz.de/Rechtes-Netzwerk-in-der-Bundeswehr/!5548926/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«10] Kaul/Schmidt/Schulz, Hannibals Schattenarmee, taz.de/Rechtes-Netzwerk-in-der-Bundeswehr/!5548926/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«11] de.wikipedia.org/wiki/Terrorermittlungen_gegen_Bundeswehrsoldaten_ab_2017 (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«12] Radke/Staud, Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung, tagesspiegel.de/politik/interaktive-karte-todesopfer-rechter-gewalt-in-deutschland-seit-der-wiedervereinigung/23117414.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«13] Jansen, Frank, 17 Todesopfer islamistischer Gewalt, tagesspiegel.de/politik/bka-legt-liste-offen-17-todesopfer-islamistischer-gewalt/24355372.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«14] Brausam, Anna, Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/todesopfer-rechter-gewalt/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«15] Bundeszentrale für politische Bildung, (Nicht Mehr) Warten auf den “Tag X”. Ziele und Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus, bpb.de/apuz/301136/nicht-mehr-warten-auf-den-tag-x-ziele-und-gefahrenpotenzial-des-rechtsterrorismus (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«16] Bundeszentrale für politische Bildung, (Nicht Mehr) Warten auf den “Tag X”. Ziele und Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus, bpb.de/apuz/301136/nicht-mehr-warten-auf-den-tag-x-ziele-und-gefahrenpotenzial-des-rechtsterrorismus (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«17] Bundeszentrale für politische Bildung, (Nicht Mehr) Warten auf den “Tag X”. Ziele und Gefahrenpotenzial des Rechtsterrorismus, bpb.de/apuz/301136/nicht-mehr-warten-auf-den-tag-x-ziele-und-gefahrenpotenzial-des-rechtsterrorismus (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«18] de.wikipedia.org/wiki/Kampf_der_Kulturen (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«19] Vgl. Diekmann/Welsch, KJ, Kritische Justiz, Jahrgang 53 (2020), Heft 3, S. 293-294, nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2020-3-286/die-neuen-rechten-und-der-streit-um-meinungsfreiheit-jahrgang-53-2020-heft-3?page=1 (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«20] Vgl. Diekmann/Welsch, KJ, Kritische Justiz, Jahrgang 53 (2020), Heft 3, S. 293-294, nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2020-3-286/die-neuen-rechten-und-der-streit-um-meinungsfreiheit-jahrgang-53-2020-heft-3?page=1 (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«21] Alexander Gauland: “Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können.” (Ermittlungen der StA eingestellt); Beatrix von Storch spricht von “barbarischen, muslimischen gruppenverwaltigenden Männerhorden” (Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Volksverhetzung); Alice Weidel: “Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermächte des zweiten Weltkrieges und haben die Aufgabe, das deutsche Volk klein zu halten indem molekulare Bürgerkriege in den Ballungszentren durch Überfremdung induziert werden sollen.”
[«22] Focus Online, Wegen seiner Äußerungen und Auftritte: AfD berät über Björn Höckes Rauswurf, focus.de/politik/deutschland/landesvorsitzender-in-thueringen-wegen-seiner-aeusserungen-und-auftritte-afd-beraet-ueber-bjoern-hoeckes-rauswurf_id_5162760.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«23] Panorama / Das Erste, AfD: Höckes Lehre von den Menschentypen, daserste.ndr.de/panorama/aktuell/AfD-Hoeckes-Lehre-von-Menschentypen,hoeckeslehre100.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«24] Zeit Online, SPD fordert Beobachtung der AfD durch Verfassungsschutz, zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-02/hanau-attentat-rassismus-gewalttat-schuesse-rechtsextremismus-afd?utm_referrer=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2F (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«25] Mascolo/Pittelkow/Riedel, Wie eng waren “Identitäre” und Christchurch-Attentäter?, tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/christchurch-spende-identitaere-103.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«26] Breivik brachte 77 Menschen um, davon 69 Menschen in einem Jugendlager der sozialdemokratischen Partei in Norwegen im Jahre 2011.
[«27] Martell war fränkischer Hausmeier, führte die Franken im achten Jahrhundert zum Sieg gegen die Araber und wird somit als einer der größten Verteidiger des christlichen Abendlandes gegen den Islam gesehen.
[«28] Fähnders, Till, Der Terrorist als Troll, faz.net/aktuell/politik/ausland/attentaeter-von-christchurch-der-terrorist-als-troll-16092310.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«29] Anschlag in Hanau 2020, wikiwand.com/de/Anschlag_in_Hanau_2020 (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«30] Losowski, Tim, Einzeltäter-Urteil im Combat 18-Mord an Walter Lübcke, perspektive-online.net/2021/01/einzeltaeter-urteil-im-combat-18-mord-an-walter-luebcke/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«31] Sanders/Stützel/Tymanova, Taten und Worte – Neonazistische „Blaupausen“ des NSU, nsu-watch.info/2014/10/taten-und-worte-neonazistische-blaupausen-des-nsu/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«32] Voigts, Hanning, Kommunalwahl in Kassel: Langjähriger Neonazi bleibt auf dem AfD-Wahlzettel, fr.de/rhein-main/kommunalwahl-2021-hessen-kassel-afd-neonazi-wahlzettel-90190791.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«33] Wehrhahn, Sebastian, Das ist kein Zufall, taz.de/Soziologe-ueber-den-Anschlag-von-Hanau/!5662904/ (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«34] Den Rassismus in Deutschland prangerte i.Ü. auch im Jahre 2017 eine Expertengruppe der UN an. Siehe dazu Zeit Online, Experten kritisieren Rassismus in Deutschland, zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/vereinte-nationen-rassismus-schwarze-deutschland-un-arbeitsgruppe-isd (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«35] Roubini, Nouriel, „Es droht ein Jahrzehnt der Verzweiflung“, https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/die-welt-nach-corona-es-droht-ein-jahrzehnt-der-verzweiflung/25798698.html (zuletzt abgerufen am 16.02.2021).
[«36] Vgl. Schaffar, Globalisierung des Autoritarismus – Aspekte der weltweiten Krise der Demokratie, Berlin, 2019, S. 11.
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