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Titel: Ein statistischer Blick auf die Übersterblichkeit in Zeiten von Corona
Datum: 9. Februar 2021 um 8:48 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Gesundheitspolitik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Noch nie war das Interesse der Menschen für abstrakte statistische Kennzahlen so groß wie während des Coronageschehens im letzten Jahr. Meldungen über Kriege, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen gerieten zu Randnotizen angesichts der sich weltweit ausbreitenden Coronaviren. In Nachrichtensendungen dominierten Graphiken und Statistiken zum Infektionsgeschehen und das Publikum verfolgte gebannt die Entwicklung der R-Werte, der Inzidenzen und der Übersterblichkeit. Das Statistische Bundesamt trug dem wachsenden Interesse Rechnung, indem es wöchentlich eine „Sonderauswertung zu Sterbefallzahlen“ veröffentlichte. Am 29. Januar 2021 hat die Statistikbehörde die noch ausstehenden letzten Sterbezahlen für das Jahr 2020 nachgereicht, so dass jetzt eine abschließende Beurteilung des Ausmaßes der Übersterblichkeit möglich ist. Von Günter Eder[*].
Die Tagesschauredaktion nahm dies zum Anlass, auf ihrer Internetseite ausgewählte Ergebnisse aus der Sonderauswertung in einem längeren Artikel zu präsentieren. Als Titel wählte sie die Überschrift „So viele Todesfälle wie zuletzt vor 50 Jahren“. Die Aussage ist politisch vermutlich korrekt, faktisch aber eigentlich nicht. Im Textteil erfährt man, wie der Titel tatsächlich gemeint ist: „Im Dezember sind in Deutschland so viele Menschen gestorben wie seit rund 50 Jahren nicht mehr.“ Solche Verkürzungen oder Übertreibungen sind in Verbindung mit der Coronaberichterstattung leider keine Ausnahme, sondern eher die Regel, und bei weitem nicht immer so moderat.
Das Statistische Bundesamt beziffert die Zahl der im Jahr 2020 Verstorbenen auf insgesamt 982.489. In der Pressemitteilung Nr. 044 wird ausgeführt, dass die Zahl der Sterbefälle im Vergleich zum Vorjahr „damit um mindestens 42.969 oder 5% gestiegen“ ist. Auch hier wird der Prozentwert übertrieben, zwar nur geringfügig, aber vermutlich nicht zufällig. Tatsächlich entspricht der Zuwachs von 939.520 Verstorbenen (2019) auf 982.489 Verstorbene (2020) einem Anstieg um 4,6%.
Anschließend führt das Statistische Bundesamt aus, dass der angegebene Prozentwert von 5% eigentlich zu hoch sei und bei korrekter Rechenweise um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten korrigiert werden müsste. Die verbale Erläuterung dieses Sachverhalts ist für einen Laien allerdings nicht unbedingt leicht nachzuvollziehen und zu verstehen.
„Dieser Anstieg ist zum Teil auf kalendarische sowie demographische Aspekte zurückzuführen: 2020 war ein Schaltjahr, sodass sich durch den zusätzlichen Tag ein Anstieg um etwa 3.000 Fälle gegenüber dem Vorjahr ergibt. Wenn man außerdem den bisherigen Trend zu einer steigenden Lebenserwartung und die absehbaren Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt, wäre ohne Sonderentwicklungen ein Anstieg um etwa 1 bis 2% für das Jahr 2020 zu erwarten gewesen.“
Aus dem Gesagten lässt sich der Schluss ziehen, dass die Behörde letztlich mit einer Übersterblichkeitsquote zwischen 2,6% und 3,6% rechnet. Wer an dem amtlichen Ergebnis interessiert ist, wird sich allerdings gedulden müssen. Die für die Berechnung erforderlichen Daten (inklusive aller Nachmeldungen) werden erst Mitte des Jahres 2021 vollständig vorliegen.
Angesichts dieser Verzögerung soll hier der Versuch unternommen werden, auf Basis des aktuellen, vorläufigen Datenmaterials, die Übersterblichkeit für 2020 (zumindest näherungsweise) abzuschätzen.
In der Abbildung 1 ist der Verlauf der Sterbezahlen zwischen 2011 und 2020 aufgetragen. Es fällt auf, dass die Zahl der Verstorbenen in dem betrachteten Zeitraum stark zugenommen hat und von 852.328 (2011) auf 982.489 (2020) angestiegen ist. Die Zunahme erfolgte trotz der Tatsache, dass die Menschen immer älter werden. Das ist insofern bemerkenswert, als eine steigende Lebenserwartung eigentlich mit weniger und nicht mehr Todesfällen einhergehen sollte. Für die Ermittlung der Übersterblichkeit ist dieser Sachverhalt relevant und muss in angemessener Weise berücksichtigt werden.
Die Ursache für die steigenden Sterbezahlen ist die demographische Entwicklung in der Vergangenheit, genauer gesagt: in den 1930er Jahren. So wie man heute voraussagen kann, dass der starke Anstieg der Geburtenzahlen in den 1960er Jahren (Babyboomer), dazu führen wird, dass die Zahl der Rentner ab Mitte der 2020er Jahre stark zunehmen wird, so lässt sich der Anstieg der Sterbezahlen in den 2010er Jahren auf den Geburtenboom zwischen 1933 und 1940 zurückführen. Die in dieser Zeit geborenen Menschen sind heute, wenn sie noch leben, zwischen 80 und 87 Jahre alt, in einem Alter also, das mit einer deutlich erhöhten Sterblichkeit einhergeht. Den Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes zufolge wird das Jahr 2020 das letzte Jahr gewesen sein, in dem die Zahl der über 80-Jährigen gegenüber dem Vorjahr so stark zunahm (+4,55%). Ab 2021 werden die Zuwachsraten kontinuierlich zurückgehen und ab 2025 für einige Jahre sogar negativ sein.
Zwischen 2014 und 2020 sind die Zuwachsraten für die Zahl der über 80-Jährigen nahezu konstant und bewegen sich mit Werten zwischen +4,1% und +4,8% auf hohem Niveau. Wegen der relativen Konstanz der Zuwachsraten ist es sinnvoll und zulässig, die für 2020 zu erwartende Zahl von Sterbefällen aus dem Verlauf der Sterbedaten der Jahre 2014 bis 2019 abzuschätzen. Unterstellt man einen linearen Entwicklungstrend und berücksichtigt zudem, dass 2020 ein Schaltjahr ist, so liefert die Regressionsanalyse für 2020 einen Prognosewert von 970.962 zu erwartenden Todesfällen. Die tatsächliche Zahl der Sterbefälle liegt mit 982.489 um 11.527 über dem Erwartungswert. Das Coronajahr 2020 ist folglich mit einer Übersterblichkeit von 1,19% verbunden.
Um die Höhe der Übersterblichkeit angemessen beurteilen zu können, ist der aktuelle Wert in Abbildung 2 zusammen mit den Übersterblichkeitsraten der vorangegangenen Jahre aufgetragen. Es zeigt sich, dass Abweichungen vom Erwartungswert selten deutlich über 2% liegen. Der höchste Wert ist mit +2,62% im Jahr 2015 zu verzeichnen. Fünf von neun Werten liegen unter der Übersterblichkeitsrate von 2020, vier liegen darüber. Vergleicht man das Coronajahr 2020 mit dem Grippejahr 2018, stellt man überrascht fest, dass die Übersterblichkeit 2018 mit +1,41% höher gelegen hat als 2020 (+1,19%).
Aus der nicht besonders auffälligen Übersterblichkeit des Jahres 2020 sollte allerdings nicht der voreilige Schluss gezogen werden, dass Corona-Erkrankungen harmlos sind und keine erhöhte Sterblichkeit zur Folge haben. Hier lohnt ein Blick auf das Alter der Verstorbenen.
Wie bereits erwähnt stieg die Zahl der Verstorbenen von 2019 nach 2020 um 42.969 an. Davon entfielen, der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes zufolge, 41.152 Todesfälle auf die Altersgruppe der über 80-Jährigen. Lediglich 1.817 Verstorbene waren jünger als 80 Jahre. Das sind erschreckende Zahlen. Erschreckend natürlich nicht, weil so wenig junge Menschen verstarben, sondern weil im Gegensatz dazu so sehr viele alte Menschen den Tod fanden. Die Diskrepanz in den Sterberaten ist riesig. Sie verringert sich, wenn demographische und kalendarische Sondereffekte berücksichtigt werden. An der grundsätzlichen Schieflage ändert sich dadurch nichts.
Angesichts der extrem unterschiedlichen Risiken, mit denen Covid-Erkrankungen einhergehen, je nachdem ob junge oder alte Menschen betroffen sind, drängt sich die Frage auf, ob bei der Bekämpfung des Infektionsgeschehens die Schwerpunkte richtig gesetzt worden sind. Warum ist nicht mehr Mühe darauf verwandt worden, die alten Menschen zu schützen? Statt eine einseitig an Lockdown-Maßnahmen orientierte Krisenpolitik zu favorisieren, die das Leben aller Menschen gleichermaßen massiv einschränkt, wäre es vermutlich sinnvoller und zielführender gewesen, wenn die Bundesregierung durchdachte und differenzierte Konzepte zum Schutz alter Menschen (insbesondere der über 80-Jährigen) erarbeitet hätte. Diese stehen bis heute aus. Nicht einmal für Altersheime hat man bundesweit verbindliche Vorgaben umgesetzt, die die Bewohner und Mitarbeiter wirksam schützen. Dabei weisen die Daten des Robert Koch-Instituts seit langem auf den hier bestehenden Handlungsbedarf hin.
Wie stark die allgemeine Zahl der Sterbefälle während der ersten und (stärker noch) während der zweiten Coronaperiode zugenommen hat, ist aus Abbildung 3 zu ersehen. Abgebildet sind die prozentualen Abweichungen der tatsächlichen Zahl der Sterbefälle von der jeweils zu erwartenden Anzahl. Sowohl während der ersten Infektionsperiode im Frühjahr, als auch während der zweiten Periode im Herbst/Winter nimmt die Zahl der Sterbefälle stark zu. Im Frühjahr steigt die Übersterblichkeit auf 10,4% (15. KW) und im Dezember sogar auf 26,8% (53. KW). Der kurze, aber heftige Anstieg der Sterberate in der 33. Kalenderwoche ist auf einige extrem heiße Sommertage zurückzuführen.
Neben den Phasen der Übersterblichkeit ist eine ausgeprägte Untersterblichkeit zu Jahresbeginn zu erkennen. In den ersten zweieinhalb Monaten sind 20.200 Personen weniger gestorben, als nach den Vorjahren eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Die Untersterblichkeit in dieser Zeit ist mit ein Grund dafür, dass die Gesamtübersterblichkeit im Jahr 2020 bei lediglich 1,19% liegt. Wären die ersten Wochen des Jahres mit durchschnittlichen Sterbezahlen verbunden gewesen, würde die Übersterblichkeitsrate deutlich höher liegen und etwa 3,3% betragen.
Die Zahl der im Frühjahr (13. bis 18. KW) zusätzlich Verstorbenen summiert sich auf 5.417. In der Herbst/Winter-Periode (43. bis 52. KW) kommen weitere 23.182 Sterbefälle hinzu. Während der beiden Infektionsperioden sind somit insgesamt 28.599 Menschen zusätzlich verstorben. Das Robert Koch-Institut beziffert die Gesamtzahl der Covid-Toten für die Zeit bis zur 52. Kalenderwoche auf 30.126 (Täglicher Lagebericht vom 28.12.2020). Angesichts der Tatsache, dass die beiden Werte auf unterschiedlichen Datensätzen basieren und auf grundlegend unterschiedliche Weise berechnet worden sind, erstaunt die gute Übereinstimmung der Werte. Das Ergebnis stützt die Vermutung, dass die aus der Sterbestatistik abgeleitete Zahl zusätzlich Verstorbener im Wesentlichen identisch ist mit den Covid-Toten. Zudem ist es ein starkes Indiz für die Richtigkeit des Schätzwertes, der für die Übersterblichkeit 2020 ermittelt worden ist.
Ob die Lockdown-Maßnahmen oder die Maskenpflicht die Sterbefallentwicklung entscheidend beeinflusst haben, lässt sich aus den Sterbedaten nicht ablesen. Es mag sein, dass die Zahl der Todesfälle ohne entsprechende Maßnahmen deutlich höher ausgefallen wäre. Es gibt allerdings, wie in der Urteilsbegründung des Amtsgerichts Weimar vom 11. Januar 2021 nachzulesen ist (Aktenzeichen: 6 OWi – 523 Js 202518/20), „mehrere wissenschaftliche Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die in der Corona-Pandemie in verschiedenen Ländern angeordneten Lockdowns nicht mit einer signifikanten Verringerung von Erkrankungs- und Todeszahlen verbunden waren.“ Es bleibt abzuwarten, zu welchen Ergebnissen zukünftige Untersuchungen führen werden, wenn verlässliche Daten zum Infektionsgeschehen, zu Inkubationszeiten und zu Todesursachen vorliegen und in die Analyse einbezogen werden können. Auch ein Vergleich der Corona-Entwicklung in Deutschland mit den Erfahrungen anderer Länder könnte zur Klärung des Sachverhalts beitragen.
Titelbild: Gorodenkoff/shutterstock.com
[«*] Günter Eder ist promovierter Mathematiker mit langjähriger Erfahrung in der Bearbeitung statistischer Fragestellungen. Er ist freiberuflich tätig und hat sich in den letzten Jahren schwerpunktmäßig mit dem gesetzlichen Rentensystem befasst, insbesondere mit der Bedeutung des demographischen Wandels für die Alterssicherung. 2020 erschien hierzu in zweiter Auflage im Rhombos Verlag sein Buch “Die Rente im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Demographie. Datenbasierte Überlegungen zur Zukunft der gesetzlichen Rente”, das auch auf den NachDenkSeiten vorgestellt wurde.
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