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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Werner Rügemer: Subvention, Korruption, Marktzerstörung
Datum: 5. Oktober 2010 um 9:00 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Finanzkrise, Lobbyismus und politische Korruption
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die staatliche Bankenrettung zeigt: Die Verantwortlichkeit der beherrschenden Eigentümer ist gleich Null. Die korruptiv erlangte Subvention zerstört den Markt. Der Kapitalismus ist an sein marktwirtschaftliches und demokratisches Ende gekommen. Im 21. Jahrhundert wird entschieden, ob freie Bürger in einer neuen Verfassung die Verantwortung übernehmen können.
Ein Referat von Werner Rügemer auf der 6. Gottfried von Haberler-Konferenz (Haberler war der Referent von Friedrich August von Hayek), gehalten am 24. September 2010 in Vaduz/Liechtenstein.
Die Rettung bankrotter Banken in der westlichen Wertegemeinschaft seit 2007 war und ist eine solche Subvention. Sie verstößt gegen die grundlegenden Prinzipien der Marktwirtschaft und der mit ihr verbundenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Ähnliche Fälle hatten wir schon oft, gerade in den hochkapitalistischen Ländern wie USA und Deutschland.[1]
Neu ist die quantitative Dimension und die Gleichzeitigkeit in allen großen Staaten, die der Marktwirtschaft und der Demokratie verpflichtet sind. Und es handelt sich zusätzlich nicht um einzelne Rechtsbrüche, sondern um einen systematischen, flächendeckenden, nachhaltigen Rechtsbruch: Insolvenzverchleppung und -verhinderung ist in allen westlichen Staaten nach den geltenden Gesetzen eine Straftat.
Die Regierenden und Bankverantwortlichen aller großen westlichen Staaten sind also gegenwärtig Straftäter. Wir befinden uns somit praktisch, theoretisch, moralisch und rechtlich jenseits der Marktwirtschaft, jenseits der bürgerlichen Demokratie[2] Wo also befinden wir uns und was können, was müssen wir deshalb tun?
Corrumpere heißt brechen, also den staatlichen Willen, den Willen der Gemeinschaft und der Mehrheit brechen. Die klassische Form der Korruption ist die direkte, heimliche Subventionierung gewählter, ungewählter oder zum Amt drängender Politiker und von Staatsbeamten. Diese Art Korruption hat zwei wesentliche Ausprägungen: Zum einen die ad hoc-Korruption, um einzelne Entscheidungen durchzusetzen, etwa über ein Gesetz, einen einzelnen Bauauftrag, eine einzelne Subvention; zum anderen die heimliche, private Dauerfinanzierung politischer Parteien in westlichen Demokratien, die dauerhafte Beteiligung von Diktatoren an privaten Unternehmen etwa von Ölkonzernen. Diese klassischen Formen der Korruption sind auch heute noch aktuell, etwa in Afghanistan und Nigeria, in Washington, Paris und Köln.
Bestechung und Bestechlichkeit heißen die Straftatbestände nach bürgerlichem Recht. Bestechung und Bestechlichkeit, denn Korruption spielt sich immer in einer Tätergemeinschaft ab; sie hat immer zwei Täter, denjenigen, der bezahlt, der besticht, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite derjenige, der bezahlt wird, der bestochen wird, der sich bezahlen und bestechen läßt und dies nicht selten auch fordert.
Diese klassischen Formen haben zu wiederkehrenden Skandalen geführt und werden gelegentlich strafrechtlich verfolgt. Das gilt auch für die professionelle, bare wie unbare Umwegsgestaltung heimlicher Zahlungen über anonyme Konten, Stiftungen und Trusts in Finanzoasen. Deshalb haben die Tätergemeinschaften ein großes Spektrum neuer Korruptionsformen entwickelt.[3]
Neue und nicht strafbare Formen der Korruption sind etwa „Beiräte“, in die Politiker von Banken und Energiekonzernen berufen werden; ohne etwas Definiertes leisten zu müssen, erhalten die Mitglieder solcher Beiräte für gelegentliches und unverbindliches Zusammenkommen eine Zahlung. Institutionelle Investoren und Versicherungskonzerne bezahlen amtierende und Ex-Politiker als hochdotierte Redner, wobei für die Höhe des Honorars die Qualität der Rede keine Rolle spielt. Lobbyisten sponsern getürkte Bürgerinitiativen, die verdeckt für Unternehmensinteressen eintreten, etwa bei Pharmaprodukten. Banken und Konzerne stellen Manager frei, die zur Vorbereitung bestimmter Gesetze zeitweise ihren Schreibtisch in Ministerien einnehmen.[4] Banken und Unternehmen und ihre Stiftungen vergeben hochdotierte Journalistenpreise. Investmentbanken vergeben in ausufernder Weise „Beraterverträge“ an Ex-Politiker. Finanzakteure gründen Lobbyorganisationen, um bestimmte Finanzprodukte wie Verbriefungen und ihre Steuerbefreiung in den Parlamenten durchzusetzen – und Regierungsvertreter sind von Anfang an Mitglieder solcher Organisationen, in Deutschland etwa in der True Sale Initiative (TSI) und in der Initiative Finanzstandort Deutschland (IFD).[5]
Und auch die klassische Korruption in Form der ad hoc-Wahlkampfspenden und der Dauerfinanzierung genehmer politischer Parteien gehört gerade in der Finanzbranche zur Routine. So ist etwa seit der Existenz der Bundesrepublik Deutschland die Deutsche Bank ohne Unterbrechung der größte jährliche Dauerbespender der Christlich Demokratischen Union, CDU, obwohl oder genauer weil bekanntlich die Deutsche Bank gerade nicht für christliche Ziele eintritt.[6] Ähnlich ist es in den USA. Die Wall Street bespendete die Wahlkämpfe der beiden Regierungsparteien zwischen 1998 und 2008 mit 1,7 Milliarden Dollar und bearbeitete die beiden Parteien zusätzlich über Lobbyisten mit 3,4 Milliarden Dollar, obwohl oder genauer weil die Wall Street-Banker bekanntlich keine nachhaltigen Gewährsleute der Demokratie sind. Zahllose Beraterverträge für Ex-Politiker kommen hinzu. [7]
US-Soziologen haben vergleichbare Verhältnisse in „Entwicklungsländern“ als „cronism“ bezeichnet, also als Nepotismus, Günstlingswirtschaft, korruptes Komplizentum. Heute werden in den USA die Verhältnisse in New York und Washington ganz selbstverständlich als „crony capitalism“ bezeichnet. [8]
Solche Formen der Bestechung und Bestechlichkeit zeichen sich gleichzeitig durch Straflosigkeit aus. Sie sind „legalisierte Korruption“.[9] Je umfangreicher das Spektrum solcher nicht strafbaren Handlungen, desto schlechter steht es um Rechtsstaat, Demokratie, Wettbewerb und Markt.
Die führenden Politiker der westlichen Wertegemeinschaft scheinen sich erst richtig wohl zu fühlen, wenn sie das Knie eines Bankers auf der Brust verspüren, der ihnen die Luft abdrückt. Und die führenden Banker ihrerseits scheinen erst dann die Vollendung ihrer Professionalität zu erreichen, wenn sie Regierungen erpressen und entgegen ihren öffentlichen Bekundungen möglichst tief in die Staatskasse greifen.
Die Tätergemeinschaft ist allerdings keine Gemeinschaft von Gleichberechtigten oder von gleich Starken. Der Staat verzichtet gegenüber den Finanzakteuren immer mehr auf den Rechtsanspruch im Sinne von Steuern, und die Regierungsparteien machen sich für ihre Finanzierung abhängig von „freiwilligen“ Gaben der privaten Seite. Deshalb verschiebt sich das Kräfteverhältnis ständig zuungunsten des Staates. Er übernimmt deshalb immer mehr die Folgekosten der korruptiven Komplizenschaft. Die Staaten, auch transnationale Zusammenschlüsse wie die Europäische Union, werden zu Haftungsgemeinschaften für die Privatwirtschaft.
Bekanntlich ist auf die Dauer immer derjenige mächtiger, der das Geld hat, der immer wieder Geld hat und immer wieder zahlen kann oder dies auch verweigern kann. Der dieses Geld aber nicht im regulären, rechtlich festgelegten Sinne der Steuern bezahlt, sondern im irregulären, gemeinschaftlich nicht kontrollierbaren Sinne privater Spenden, aus eigenem Entschluß und Gutdünken.
Die Finanzakteure nutzen das Ungleichverhältnis und erpressen den Staat ganz routinemäßig, sodass es gar nicht wie eine Erpressung aussieht, sondern wie eine normale Geschäftsbeziehung. Es handelt sich um eine „regulatory capture“, eine regulatorische Geiselnahme.[10] Sie führt dazu, dass die Finanzbranche nicht nur zur politisch mächtigsten, sondern auch zur profitabelsten Branche geworden ist, sowohl durch die Vorbereitung von wiederkehrenden Krisen wie auch während der Krisen.
Je länger die regulatory capture dauert, desto enger wird die Tätergemeinschaft zusammengeschweißt. Der Fluch der bösen Tat setzt sich fort. Die Freiheit der Entscheidung, auszusteigen oder eine andere Entscheidung zu treffen, nimmt ab.
Zusammengefaßt also: Die Finanzakteure sind der ungewählte, korruptiv an die Macht gelangte Souverän, der sich auf dem Weg zur kalkulierten Insolvenz spekulativ selbst bereichern kann, sich dann für unschuldig erklärt und sich mithilfe der gewählten Macht leistungslose Kompensationen aus dem Vermögen unbeteiligter Dritter, nämlich der Bürger verschafft.
Bei einer öffentlichen Diskussion hätte herauskommen können, dass die IKB über ihre Special Purpose Vehicles in der Finanzoase Delaware Ramschpapiere, die für die Insolvenz ursächlich waren, von der Deutschen Bank gekauft hatte; und nicht nur das: Dass die große Deutsche Bank der kleinen IKB dafür auch Kredite gegeben hatte. So zog ein großer Teil der staatlichen Rettungsgelder in Düsseldorf am Rhein, am Sitz der IKB, nur eine kurze Schleife, bevor sie schließlich, unbemerkt von der Öffentlichkeit, in Frankfurt am Main in den gewinnenden Armen der Deutschen Bank landeten.
Ein ähnliches Procedere wiederholt sich seitdem etwa im Falle der insolventen Hypo Real Estate: Die Deutsche Bank, selbst auch Gläubiger, nahm auch hier die Prüfung der Lage dieser Bank in die Hand und zwang als Repräsentantin der übrigen Gläubiger die Bundesregierung zur staatlichen Rettung. Die deutsche Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende bezeichnete dieses Vorgehen später selbst als Erpressung. Sie sah sich gezwungen, öffentlich zu behaupten, dass sie eine solche niemals wieder erleben wolle. Sie fand allerdings in der Folgezeit keine Möglichkeit, sich den Bedingungen zu entziehen, die zu Wiederholungen führt. Die Finanzakteure können deshalb die nächste für sie so lukrative Krise in aller Ruhe vorbereiten. Die Tätergemeinschaft erweist sich als offenbar unauflöslich.
So oder ähnlich ging und geht es auch in der Europäischen Union und auch außerhalb Europas zu, etwa in den USA. Die Investmentbank Goldman Sachs stellte von 1995 bis 1999 den Finanzminister unter Präsident William Clinton. Unter der Regie von Robert Rubin wurden die entscheidenden Regulierungen, die insbesondere für die Investmentbanken galten, aufgehoben, so der Glass-Steagall-Act, der seit dem New Deal die Trennung zwischen Kredit- und Investmentbanken festgelegt hatte. Diese Maßnahme sollte eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise von 1928 verhindern. Die Aufhebung durch Rubin und Clinton bedeutete nicht nur eine enorme Geschäftsausweitung für die Investmentbanken, sondern auch, dass sie im Insolvenzfall nun ebenso unter den staatlichen Rettungsschirm schlüpfen konnten. Und es bedeutete, dass die Partner, also die Eigentümer der Investmentbanken, nun nicht einmal mehr mit ihrem eingezahlten Kapital hafteten.
Ebenso schufen Rubin / Clinton schrittweise die banken- und spekulationsfreundliche Möglichkeit, Kredite für den Kauf von Wohnungen und Eigenheimen auch an solche Kreditnehmer zu vergeben, die keine übliche Bonität vorzuweisen hatten bzw. gar keine Angaben über Einkommen und Vermögen machen mussten. Auf dieser Basis entwickelten insbesondere die Investmentbanken weit darüber hinausgehend die spekulativen Finanzpraktiken wie die kettenbriefartige Verbriefung der für diesen Zweck gezielt vergebenen subprime-Hypothekenkredite. Davon wurden bis 2007 etwa 20 Millionen an den armen Mann und die arme Frau gebracht.[11] Ebenso durften die Banken solche riskanten „Wert“papiere in Special Purpose Vehicles in Finanzoasen wie Delaware auslagern, brauchten sie nicht zu bilanzieren und deshalb auch nicht mit Eigenkapital zu unterlegen.
Als diese und ähnliche Finanzpraktiken zur flächendeckenden Insolvenz der Banken führten beziehungsweise geführt hätten, wurde mit Henry Paulson rechtzeitig und zielsicher ein halbes Jahr vor dem öffentlichen Ausbruch der Finanzkrise erneut ein Goldman Sachs-Banker US-Finanzminister. Mit Staatsgeld rettete Henry Paulson nicht nur seine eigene Bank, sondern auch die anderen „systemrelevanten“ Banken – wobei er es sich nebenbei auch leisten konnte, die verhasste Konkurrenzbank Lehman Brothers nicht zu retten.
Auch so sieht moderne Korruption aus, die strafrechtlich nicht fassbar ist: Präsident Clinton und seine Partei auf der einen Seite hatten mit dem unseriösen Deal ihren Vorteil erkauft; sie konnten sich als volkstümliche Sozialreformer profilieren und politisches Kapital bilden, weil sie ärmeren Gruppen der arbeitenden Bevölkerung und ethnischen Minderheiten zu Immobilieneigentum verhalfen, zumindest kurzfristig. Und die Banken auf der anderen Seite der Tätergemeinschaft hatten ihren Vorteil, sie konnten fast endlos Millionen an neuen Krediten vergeben und daraus neue Finanzprodukte entwickeln, jedenfalls bis das Kartenhaus zusammenbrach. Vor der Insolvenz aber wurden sie dann voraussehbar bewahrt.
Finanzminister Rubin erhielt nach seinem Ausscheiden aus der Clinton-Regierung einen Beratervertrag mit der Citibank, die exzessiv die von Rubin geschaffenen Möglichkeiten nutzte. Dem Ex-Minister zahlte die Citibank bis 2009 etwa 126 Millionen Dollar, bevor er dann Finanzberater des Präsidenten Obama wurde, um der Citibank und anderen Banken die Staatshilfen zu sichern.[12]
Die Marktkräfte und der Wettbewerb wurden aber entgegen den öffentlichen und theoretischen Behauptungen ausgeschaltet. Die Deregulierer und Liberalisierer schalteten den korrumpierten Staat immer umfassender als Garanten privater Gewinne ein. Das war und ist etwa der Fall bei Privatisierungen, also beim Verkauf öffentlicher Unternehmen und bei der Auslagerung öffentlicher Dienstleistungen: Im Kleingedruckten der Verträge, meist unsichtbar für die gewählten Mitglieder der Parlamente, werden die Einzelheiten der staatlichen Gewinngarantie geregelt.[13]
Und welches Unternehmen oder welche neue Niederlassung eines Unternehmens wird heute, sei es in den USA oder in der Europäischen Union, noch ohne die vordem so heftig angeprangerte „Staatsknete“ gegründet? Der Staat tut dies auf allen Ebenen – in Gestalt der transnationalen Europäischen Union, der jeweiligen nationalen Regierung, der Landesgliederungen und der kommunalen Verwaltungen. Selbst bei Unternehmensverlagerungen ins Ausland, bei denen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verloren gehen, gewährt der Staat Anschubfinanzierungen und andere Vergünstigungen.
Es handelt sich dabei zum wenigsten um traditionelle Subventionen in Form direkter verlorener Zuschüsse. Da sind zum einen wie bei der Bankenrettung umfangreiche Bürgschaften. Es geht weiter um verbilligte Verkäufe und sogar die Schenkung staatlicher Grundstücke an Unternehmen. Ein neuerlich erheblich ausgeweitetes Subventionswesen gilt dem Niedriglohnsektor. Auch er wird in Tätergemeinschaft von Staat und Privatwirtschaft organisiert. Es gehört heute zur Standardkalkulation von Unternehmen, etwa im Bereich der Supermarktketten, der Gebäudereiniger, des Facility Mangements, der privaten Sicherheits- und Postdienste: Die Löhne werden von vornherein gezielt so niedrig angesetzt, dass die Beschäftigten davon nicht leben können und deshalb ihre Hungerlöhne vom Staat aus der Arbeitslosenkasse aufgestockt werden müssen.[14]
Wie in einem niedergehenden Sozialismus werden heute Millionen von Beschäftigten, die von den Unternehmen gar nicht oder nicht ausreichend beschäftigt werden können, mithilfe von staatlichem Kurzarbeitergeld in den Unternehmen gehalten. Damit wird die Arbeitsstatistik geschönt und das Funktionieren der Marktwirtschaft simuliert. Dass sich Unternehmen hier auch Mitnahmeeffekte gönnen und Mißbrauch an der Tagesordnung ist, ist unter diesen Umständen nicht verwunderlich und zeugt von der Verkommenheit dessen, was immer noch als Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie bezeichnet wird.
Die staatliche Bankenrettung beschleunigt somit auch den ohnehin im Gange befindlichen Konzentrationsprozeß. Die geretteten Großbanken können andere Banken aufkaufen. J.P Morgan kaufte Bear Stearns und Washington Mutual, Goldman Sachs erweiterte sich um den Geschäftsbereich Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation.[15] Die Deutsche Bank kaufte setzte ihre Einkaufsstour fort und kaufte in kurzer Folge die Privatbank Oppenheim, die Postbank und Teile der niederländischen ING.
Gleichzeitig werden mithilfe von ebenfalls milliardenschweren „Konjunkturprogrammen“ auch zahlreiche produzierende Privatunternehmen etwa der Automobilbranche vor der Insolvenz gerettet. Sie behaupten vielfach opportunistisch, sie seien Opfer der Bankenkrise.
Wir müssen somit feststellen: Der Kapitalismus funktioniert ganz anders als es seine glühendsten Verfechter und Propagandisten immer noch gebetsmühlenartig verkünden. Die kapitalistische Wirtschaft ist ein kranker Mann, der am staatlichen Krückstock blind und zugleich frech und gewinnträchtig der nächsten Krise selbstsicher entgegenstolpert. Boni für die Topmanager gibt es in jedem Fall, außer für die findige Selbstbereicherung ist dafür keine Leistung erforderlich.
Die Folgen sind desaströs: Die ohnehin schon nicht mehr regulär rückzahlbaren Staatsschulden gerade der sogenannten erfolgreichsten Staaten wie USA, Japan, England und Deutschland werden noch größer. Deren Regierungen, unterstützt von der davon profitierenden Privatwirtschaft, verordnen „Spar“maßnahmen. Sie führen zur weiteren Verarmung weiter Teile der Bevölkerung, insbesondere derer, denen es sowieso schon am schlechtesten geht. Dieses Ausmaß an Staatsverschuldung zusammen mit solchen „Spar“maßnahmen führt zu wirtschaftlicher und technologischer Stagnation,[16] zum Verfall der Infrastruktur, zu politischer Unsicherheit und moralischer Verwahrlosung.
Heute agieren die Krisenverursacher als Krisenlöser, die Brandstifter präsentieren sich als Feuerwehr. Wirtschaftsprüfer und Wirtschaftskanzleien, die krisenverursachende Finanzpraktiken mitentwickelt und juristisch abgesichert und zahlreiche weitere Mandate der Finanzakteure wahrgenommen haben,[17] werden vom Staat mit der Erarbeitung von Bankenrettungs-Gesetzen beauftragt. Die oligopolistischen drei großen Ratingagenturen haben ihre zentrale Wächter- und Regulierungsfunktion mißbraucht und durch gekaufte Gefälligkeitsbewertungen die krisenverursachende Spekulation angeheizt; aber auch sie verbleiben in ihrer hoheitlichen Funktion, die ihnen die Staaten, die Weltbank, die Bank of International Settlements (BIS) und die Europäische Union verliehen haben.
Die Krisenverursacher behaupten: Wir können auch nach der Krise nicht aus dem Wettlauf um das höchste Risiko und den höchsten Gewinn aussteigen, selbst wenn wir wollten; denn die anderen Finanzakteure zwingen uns dazu. Sonst werden wir aus dem Rennen geworfen, sonst werden wir aufgekauft. Somit erklären gerade die sogenannten mächtigsten Banker auch hier: Wir sind ohnmächtig, wir können nicht frei handeln.
Und die Regierenden sagen: Wir haben den Finanzakteuren zu viel Freiheit gelassen, aber wir können nicht zurück. Wir müssen die Monster retten, weil unsere Wirtschaft und unser Staatswesen von ihnen abhängig sind. Auch die sogenannten mächtigsten Politiker der Welt erklären: Wir sind ohnmächtig, wir können nicht frei handeln, wir werden erpresst.
Somit sind gerade diejenigen, die sich nach ihrem Idealbild alle Freiheiten genommen haben und alle Freiheiten gewährt haben, unfrei. Sie wurden zu Fatalisten, zu lemminghaften Bedienern von Sachzwängen.
Aber nicht nur die sogenannten Mächtigen sind unfrei. Auch diejenigen, die keine Finanzakteure und keine Regierenden sind, wurden unfrei: Sie werden ungefragt gezwungen, die Folgen der von ihnen nicht verursachten Krise zu tragen. Sie werden unwissend gehalten, weil die Bankenrettung im Geheimen, im Rücken des parlamentarischen Systems abläuft. Sie haben als Arbeitslose, Beschäftigte und Noch-Beschäftigte, als sogenannte Selbständige Angst – Angst vor dem Verlust dessen, was sie noch haben, Angst vor der weiteren Kürzung des Arbeitslosengeldes, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor der Insolvenz; sie kündigen innerlich – sowohl in ihrem Unternehmen wie auch in der Demokratie. Sie passen sich wortlos an, ergeben sich in ihr Schicksal. Sie werden Opportunisten und Mitläufer.
Die versprochene Gesellschaft der Freien wurde eine Gesellschaft der Unfreien. Sie erstickt in unbeherrschbaren Sachzwängen. Die Demokratie wird diskreditiert und ausgehöhlt. Somit wächst die Gefahr neuer Diktaturen. Alttestamentliche Fundamentaltheologien, die auf der politischen für die Deregulierung instrumentalisiert wurden, erhalten weiteren Zulauf. Der Kapitalismus hat seine wohlfahrtliche, rechtliche und marktwirtschaftliche Legitimation verloren und ist an sein moralisches Ende gekommen.
Unternehmer, Aktionäre, Teilhaber haften nur mit dem eingezahlten Kapital, eine Durchgriffshaftung auf das sonstige persönliche Vermögen ist nicht möglich. Diese Haftungsbeschränkung war seit dem 19. Jahrhundert der eigentliche Grund, warum überhaupt Kapitalgesellschaften gegründet wurden. So konnten sie bei vielen Kleinanlegern viel Geld einsammeln, etwa für den Bau von Eisenbahnlinien.
Die Haftungsbeschränkung, abgesichert durch staatliche Gesetze, wurde geradezu das Erfolgsgeheimnis des Kapitalismus. Der Präsident der Columbia University, Nicholas Murray, erklärte schon 1911 die wirtschaftlichen Erfolge der USA so: „Die Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung ist die größte einzelne Entdeckung der Neuzeit. Selbst Dampf und Elektrizität sind weit weniger wichtig als die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, und ohne diese Gesellschaftsform würden sie zur Bedeutungslosigkeit verkommen.“[18]
In der Folgezeit wurde das haftende Eigenkapital durch viele Maßnahmen noch weiter abgesenkt. Die von der staatlich-privaten Tätergemeinschaft organisierte Verantwortungslosigkeit ist heute auf dem Nullpunkt angekommen. Vorreiter in den letzten Jahrzehnten waren die US-amerikanischen und dann auch die westeuropäischen Investmentbanken im Verein mit den sogenannten Wirtschaftsprüfern und Ratingagenturen.
Über Zweckgesellschaften in Finanzoasen, Special Purpose Vehicles, können Banken und Unternehmen seit den von Rubin / Clinton eingeführten und global nachvollzogenen Deregulierungen z.B. besonders riskante finanzielle Transaktionen abwickeln, ohne sie zu bilanzieren und ohne dafür Eigenkapital vorzuhalten. Heute in Zeiten der flächendeckenden staatlichen Banken- und Unternehmensrettung haften die für das kapitalistische System als „relevant“ bezeichneten Akteure nicht einmal mehr mit ihrem Eigenkapital. Das ist ein wesentlicher Grund der ersten wirklich globalen Finanz- Wirtschafts- und Gesellschaftskrise.
Auch die strafrechtliche Haftung wird tendenziell ausgesetzt. So stellte etwa die deutsche Bundesregierung die Verantwortlichen der Treuhandanstalt von strafrechtlicher Verfolgung frei. Bei der Privatisierung ehemaliger sozialistischer Betriebe brauchten die bürgerlichen Gesetze nicht eingehalten werden. Da wurde im Herzen des Kapitalismus das getan, was in diktatorischen Entwicklungsländern lange vorher schon üblich war. Auch die heutige straf- und zivilrechtliche Verfolgung der Verursacher der Finanzkrise in den westlichen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und USA kann man „in der Pfeife rauchen“; bestenfalls werden wie im Falle Goldman Sachs und Société Générale kleine Angestellte in aufwendigen Schauprozessen zu freundlichen Strafen verurteilt.[19]
Die von fast allen Gesetzen befreiten (de lege solutus), staatlich subventionierten und gleichzeitig unabhängig voneinander agierenden Ich-Unternehmer Ich-Banker sind weder willens noch in der Lage, den Markt, den allgemeinen Wohlstand und den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu befördern, vielmehr zerstören sie sie.
Das Wohlergehen einer nationalen wie international verwobenen Wirtschaft hängt von der marktwirtschaftlich produktiven Sicherung des Geldwerts, von demokratisch funktionierenden staatlichen Institutionen und von der Wachheit der Bürger ab. Diese elementaren, einfachen, ja banalen Einsichten wurden bereits in der frühen Phase des Kapitalismus etwa von Abbé Galiani formuliert[20] und werden durch die gegenwärtige Entwicklung erneut bestätigt.
Die heute notwendigen Konsequenzen bestehen u.a. im Verbot der krisenverursachenden Finanzpraktiken (schneeballartige Geldschöpfung der privaten Finanzakteure). Gerade die „systemrelevanten“ und den Markt zerstörenden Banken sind aufzulösen. Die durch fortlaufend unseriöse Kreditvergabe überschuldeten Staaten und Kommunen sind umzuschulden (Forderungsverzicht der Kreditgeber). Die gegenwärtigen Wirtschaftsprüfer und Ratingagenturen sind von ihren hoheitlichen Aufgaben zu entbinden – um nur einige der Konsequenzen zu nennen.
Zahlreiche Bürger und Geldanleger in vielen Staaten sind gegen Banken, Ratingagenturen und andere Finanzakteure vor Gericht gegangen. Sie klagen darauf, dass die Finanzakteure für die Folgen ihres Handelns die Verantwortung übernehmen und Schadenersatz leisten. Diese Bürger kommen in den meisten Fällen nicht weit, denn die Gesetze sind geprägt vom Prinzip der Haftungsbeschränkung. Doch durch solche Aktivitäten kann die Einsicht wachsen, dass die gerade im Finanz- und Wirtschaftsbereich anachronistischen Gesetze auf die Höhe der Zeit gebracht werden müssen.
Unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise“ protestieren und demonstrieren europa- und weltweit Bürger gegen den Ausverkauf der Staaten und Kommunen. Sie kommen aus der „resignativen Empörung“ heraus, in der die Mehrheit der Geschädigten sich noch befindet. Bürger in so verschiedenen Ländern wie Island, Griechenland, Rumänien, Spanien, Portugal, Frankreich, aber auch in den USA sind wach geworden. Sie protestieren gegen die verschiedensten Arten, wie die Regierungen das für die Banken- und Unternehmensrettung verschleuderte Geld wieder hereinholen wollen, etwa durch weiteren Verkauf von öffentlichem Eigentum, durch die weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer, durch weitere Entlassung von Staatsbediensteten, durch das weitere Kürzen von Renten, Gehältern und Löhnen.[21]
Wir können solche Aktivitäten, wenn wir wollen, als Vorboten einer tiefen globalen Bewegung verstehen, die das 21. Jahrhundert prägen wird, so hoffe ich, auf dem Weg zu Freiheit, Verantwortung, Demokratie und Markt.
[«1] Vgl. Werner Rügemer: Die Verstaatlichung von Dresdner, Commerz- und Deutscher Bank 1931, junge welt 18.2.2009.
[«2] Ausführlich zu den Hintergründen der aktuellen Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrise ders.: Die wahren Unrsachen der Finanzkrise (mit Tabellen und Illustrationen, deutsch und englisch), in: www.gulli.com 10/2009
[«3] Ders.: Privatisierung in Deutschland. Eine Bilanz. Münster 2008 (4. Auflage), S. 22 ff.
[«4] Kim Otto / Sascha Adamek: Der gekaufte Staat. Wie bezahlte Konzernvertreter in deutschen Ministerien sich ihre Gesetze selbst schreiben. Köln 2009.
[«5] Vgl. www.tsi.de und www.ifd.de
[«6] Werner Rügemer: Wirtschaften ohne Korruption? Frankfurt/Main 1996, S.; für die folgenden Jahre vgl. die jährlichen Rechenschaftsberichte der Partei, veröffentlicht als Bundestagsdrucksache durch den Bundestagspräsidenten.
[«7] Vgl. Simon Johnson / James Kwak: 13 Bankers. The Wall Street Takeover. New York 2010.
[«8] Vgl. ebd., passim.
[«9] Rügemer: Wirtschaften ohne Korruption? a.a.O., S. 48 ff.
[«10] Vgl. Matt Taibbi: The Great American Bubble Machine. 2010.
[«11] Zu den subprime-Krediten und zur gesetzlichen Vorbereitung unter Clinton s. Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus, Berlin 2010, S. 150 ff.
[«12] wikipedia Robert Rubin, abgerufen 31.8.2010
[«13] Rügemer: Privatisierung in Deutschland a.a.O., S. 103 ff.
[«14] Vgl. Ders.: ArbeitsUnrecht. Münster 2010.
[«15] Am Ende gewinnt immer die Bank, Handelsblatt 9.8.2010.
[«16] Zum Schrumpfen einer Volkswirtschaft im Maße des ansteigenden Anteils der Staatsschulden am Bruttoinlandsprodukt vgl. Carmen Reinhart /Kenneth Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. München 2010.
[«17] Zur Rolle der „Wirtschaftsprüfer“ als gleichzeitige Steuer- und Unternehmensberater vgl. Werner Rügemer: Die Berater. Ihr Wirken in Staat und Gesellschaft, Bielefeld 2004; ders.: „Heuschrecken“ im öffentlichen Raum. Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstrumens. Bielefeld 2008.
[«18] Zitiert nach Sinn, Kasinokapitalismus a.a.O., S. 113
[«19] Werner Rügemer: Bankster vor Gericht. Kollektive Unschuld und systemische Kriminalität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2010, S. 72-84.
[«20] Ferdinando Galiani: Nachrichten vom Vesuv. Berlin 2009; Werner Tabarelli: Ferdinando Galiani – Über das Geld. Düsseldorf 1999.
[«21] Werner Rügemer: Die „Rettung“ Griechenlands und des Euro als Fluch der bösen Tat, in: Das Argument 287/2010, S. 406-411.
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