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Titel: Hannes Hofbauer: Europa – Ein Nachruf
Datum: 17. Januar 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Europapolitik, Europäische Union, Rezensionen
Verantwortlich: Redaktion
Hannes Hofbauer hat ein sehr interessantes Buch über Europa, bzw. die Europäische Union, geschrieben. Es gibt über weite Strecken ein historisch und politisch sehr aufschlussreiches kritisches Bild, das mit diskutablen persönlichen Bewertungen endet. Eine Rezension von Dr.-Ing. Christian Fischer.
Rückblick und Start
Die vom griechischen Gott entführte und geschwängerte phönizische Königstochter „Europa“ bildet – wie könnte es anders sein? – den Anfang auch in Hofbauers Buch. Der historische Rückblick geht weiter über die von den Griechen gewählte Unterscheidung der damals bekannten Welt in „Europa, Asia, Libya“. Aber schon damals war unklar, wo genau die Grenze zwischen Europa und Asia verlaufe. Erst im 18. Jahrhundert definierte man das ungefähr geografisch.
Interessant ist die vielfach illustrierte Darstellung, dass Europa nie als politische oder kulturelle Einheit aufgetreten ist; stattdessen gab es zu verschiedenen Zeiten verschiedene Definitionen, was als „nicht-europäisch galt: Barbaren, Heiden, orthodoxe Christen, Muslime, Kommunisten, Nationalisten etc.“ (S. 12). Immer wieder wurde eine europäische Idee beschworen oder nachträglich in die Geschichte projiziert, die tatsächlich aber jeweils nur begrenzten politischen Zielen entsprang. Zum Beispiel wurde der Namensgeber des europäischen „Karlspreises“ vor 1.200 Jahren vom Papst zum Kaiser gekrönt, weil er als Gegengewicht zum byzantinischen Kaiser (auch ein „Europäer“!) gebraucht wurde. Seine nachfolgenden Eroberungszüge hatten nichts mit einer friedlichen europäischen Vision zu tun. Auch während der Kreuzzüge war das christliche Abendland keine Einheit z.B. gegen die muslimischen Heiden, sondern konfessionell-machtpolitisch zerstritten. Ebenso waren nach der Reformation die ärgsten Feinde von Christen andere Christen. Und so weiter.
Vielleicht erstmals hat Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts eine europäisch-christliche Einheit unter Einschluss des orthodoxen Russlands beschworen – allerdings im Sinne einer starken Macht zur „Zivilisierung“ anderer Kontinente (S. 28 f)! Ein Jahrhundert später trat Napoleon Bonaparte als gewalttätiger Vollstrecker solcher Gedanken auf, wenn auch nicht mit, sondern gegen Russland. Er wollte überall nicht nur gleiches Recht, sondern dadurch sogar ein einheitliches Volk schaffen (S. 32). Friedlichere Ideen und Taten sind mit Namen wie Erasmus von Rotterdam oder William Penn verbunden; Letzterem schwebte bereits um 1700 ein friedliches und republikanisches (!) Europa vor. In dieser Tradition sieht Hofbauer dann Denker wie Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Victor Hugo und andere.
Im 20. Jahrhundert entwarf der französische Politiker Aristide Briand zur Zeit des Völkerbundes ein Europakonzept „auf der Grundlage des Gedankens der Einigung, nicht der Einheit“ (S. 50). Aber das Heft des Handelns lag bei den Nationalsozialisten, die einen Europäischen Staatenbund unter ihrer „arischen“ Führung anstrebten. Der NS-Außenminister Ribbentrop beschrieb eine „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, in der Hofbauer bereits die europäische Nachkriegsordnung erkennt (S. 57). Dazu verweist er auf die nahtlosen persönlichen Karrieren von Hermann Josef Abs, Karl Blessing und Walter Hallstein. Hinzu kamen nach dem Krieg allerdings die US-amerikanischen Interessen, die Europa unter anderem als Absatzmarkt für ihre im Krieg hochgefahrenen Produktionskapazitäten brauchten. Als maßgeblicher Netzwerker tritt jetzt Jean Monnet auf, ein französischer Weinbrand-Unternehmer, der auch in den USA geschäftlich unterwegs war und abseits politischer Mandate viele Verbindungen knüpfte. Als sein politisches „Sprachrohr“ fungierte Robert Schumann, französischer Ministerpräsident und Außenminister.
Neben den rein wirtschaftlichen Interessen ging es „den Gründervätern im Wesentlichen um drei Dinge: die Herstellung einer dauerhaften deutsch-französischen Achse…, den Kampf gegen die kommunistische Sowjetunion…, die Unterstellung dieser beiden Ziele unter ein US-geführtes transatlantisches Kommando“ (S. 71). Erste Schritte der Integration geschahen in der Montan-Industrie. Hier wurden 1949 Strukturen geschaffen, die selbstständige nationale Entscheidungen verunmöglichten. Das Alternativkonzept der CDU-Politiker Karl Arnold (Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen) und Jakob Kaiser, die Schlüsselindustrien zu verstaatlichen und genossenschaftlich zu verwalten, hatte keine Chance, da die Fäden in Washington gezogen wurden (S. 86). Auch die Sozialdemokraten und Gewerkschaften schwenkten auf diese Linie ein, da sie sich Mitbestimmungsrechte in der supranational gesteuerten Montanindustrie erhofften.
Die 1955 gegründete EWG übernahm die undemokratischen Strukturen aus der Montanunion. Es handelt sich von Anfang an um ein exekutives „Steuerungssystem mit eigenständigen Hoheitsrechten, das die nationalen Steuerungssysteme überlagert.“ (S. 96) Beinahe zeitgleich wurde 1957 die Europäische Atomgemeinschaft gegründet – vor allem um das Gesamtprojekt der Atommacht Frankreich und den souveräner gesinnten Gaullisten schmackhaft zu machen. Wesentliches Projekt der EWG und dann der EU war und ist die Landwirtschaft, deren Ziel und Ergebnis die Vernichtung der kleinen und die Förderung der großen landwirtschaftlichen Betriebe ist.
Politische Entrechtung
1987 trat die „Einheitliche Europäische Akte“ in Kraft, mit der ein großer Schritt der damals 12 Mitgliedsstaaten in Richtung Binnenmarkt getan wurde. Gleichzeitig wurden das Vetorecht einzelner Staaten aufgehoben und „qualifizierte“ Mehrheitsentscheide eingeführt. Es ging um die vier Verkehrsfreiheiten für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital. Sie wurden in zeitlich gestaffelten Schritten durchgesetzt. Hofbauer stellt dar und illustriert mit Beispielen, dass damit zugleich und wohl bewusst soziale Standards einzelner Länder heruntergefahren wurden.
Als bald danach die Deutsche Einheit auf der Tagesordnung stand, waren es wieder die USA, die dafür sorgten, dass diese gegen den Widerstand von Frankreich und UK durchgesetzt wurde. Nun hoben die Staats- und Regierungschefs in Maastricht die „Europäische Union“ aus der Taufe. Am selben Tag (!), 09.12.91, wurde in Weißrussland unter Führung von Boris Jelzin die Sowjetunion aufgelöst…
Hofbauer erläutert in einem Exkurs die Organe der EU: sie haben nichts mehr damit zu tun, was wir in der Schule über demokratische Souveränität gelernt haben. Der „Rat“, auch Ministerrat genannt, besteht aus Regierungschefs und Fachministern. Seine Beschlüsse gelten, wenn 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, sich einig sind (S. 158). Damit können heute 15 Staaten Beschlüsse für 27 Mitgliedsstaaten fassen. Kein weiteres Organ kontrolliert diesen Rat – und schon gar nicht die in Brüssel registrierten und auf den Rat einwirkenden 11.900 Lobbyorganisationen.
Die „Kommission“ besteht in der heutigen Form seit 1967 und verfügt aktuell über 32.000 Bedienstete. Sie allein hat das Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren der EU. Sie ist in ihrem Handeln keinem Parlament verantwortlich oder davon abhängig. Die Präsidentschaft wird im Wesentlichen vom deutschen Kanzler und französischen Präsidenten ausgehandelt; der EU-Präsident ernennt dann die Kommissare – aus jedem Land einen.
Ein „Parlament“ bestand bereits zu Zeiten der Montanunion. Die Parlamentarier wurden bis 1979 von den Länderregierungen ernannt. Seitdem wird das Parlament „direkt gewählt“, allerdings ohne ein länderübergreifend einheitliches Wahlsystem. Es hat kein Initiativrecht zur Gesetzgebung, sondern beratende und bestätigende Funktionen für anderswo getroffene Entscheidungen.
Auch der „Europäische Gerichtshof“ ist schon 1952 gegründet worden, damals „zur Beilegung von Streitigkeiten innerhalb der Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (S. 169). Heute ist er zu einer mächtigen Institution avanciert, der den Vorrang von EU-Recht gegen evtl. widersprechende nationale Rechte durchsetzt. Jedes Land entsendet einen Richter an diesen Hof. In der Sache werden in den Gerichtsverfahren die großräumig produzierenden Industrien gegenüber den kleinräumig Gewerbetreibenden bevorzugt und „Sozialdumping“-Maßnahmen unterstützt. Hofbauer erläutert das überzeugend mit Beispielen. Wirtschaftlich profitiert vor allem die konkurrenzfähige deutsche Wirtschaft, nicht nur, aber vor allem zu Lasten der neuen Ost-Mitglieder, deren qualifizierte Arbeitskräfte auswandern, dort also fehlen und anderswo die Löhne drücken.
Schließlich wird der „Europäische Rat“ vorgestellt, ein informelles Gremium, das Helmut Schmidt und Giscard d´Estaing 1974 ins Leben gerufen haben. Hier treffen sich viermal im Jahr die Staats- und Regierungschefs, um ohne jede sonstige Legitimation oder Kontrolle Richtlinien zu vereinbaren und Beschlüsse zu fassen.
Der Versuch, die EU-Staatsbildung durch eine Verfassung zu „legitimieren“, misslang, als die von Giscard d´Estaing ausgearbeitete Verfassung 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden durchfiel. Allerdings wurde dann 2007 der Vertrag von Lissabon geschlossen, der inhaltlich weitgehend mit der „Verfassung“ identisch war und den EU-Vertrag entsprechend änderte. Seitdem sind die oben genannten Mehrheitsentscheidungen über nationale Souveränitäten hinweg legalisiert. Nationale Handelsverträge zu den vier Verkehrsfreiheiten darf es nicht geben.
Weitere wichtige Themen
Hofbauer schildert ausführlicher die einzelnen Schritte bei der Erweiterung um neue Mitglieder, auch den Brexit, sowie die Bestrebungen zur Militarisierung. Letzteres ist insofern interessant, als bereits 1952 ein Vertrag zu einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft von den damals 6 Mitgliedern unterzeichnet wurde, der aber wegen des französischen Widerstands jahrzehntelang Makulatur blieb. Im Zuge des Angriffskrieges gegen Jugoslawien wurde dann aber eine „Europäische Sicherheitsstrategie“ verabschiedet, die ein gemeinsames Corps von Waffenträgern, Kampftruppen und ein Einsatzgebiet von 4.000 km um Brüssel vorsieht – also einen Radius bis Westsibirien, den Aralsee, Teheran, Kuweit, Timbuktu. „Großmachtdenken und die Vision militärischer Schlagkraft bilden seit dem Gipfel von Amsterdam 1997 die Grundlage vieler programmatischer Reden von EU-Granden.“ (S. 146) Auch der Brexit habe eine von der NATO unabhängigere Militarisierung der EU, vor allem durch Frankreich, vorangetrieben; UK sei hier wesentlich NATO-affiner gewesen.
Als Feinde der EU werden nicht etwa die Staaten gesehen, denen es an politischen Freiheiten fehlt, sondern die, denen es an Zustimmung zum freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital fehlt. Dieser ungehinderte Verkehr ist das Kriterium für die Unterscheidung in Freund oder Feind. Dabei kann selbst ein US-Präsident zum Gegner werden, auch wenn er zwar das kapitalistische Eigentumsrecht, aber nicht diesen ungehinderten grenzüberschreitenden Verkehr gutheißt. Hauptgegner ist auch, wie schon seit dem 19. Jahrhundert, Russland sowie neuerdings zunehmend auch China (S. 234 f). Inwieweit hier rein wirtschaftliche oder mehr auch geostrategische Gründe eine Rolle spielen, bleibt im Rahmen dieses Buches offen.
Ausblick und Einwände
Am Ende verlässt Hofbauer die historische und zeitgeschichtliche Darstellung, um mehr persönlich geprägte Beobachtungen und Bewertungen zu geben. Ausgangspunkt ist die Corona-Pandemie, die er als Beispiel für das Versagen supranationaler Steuerung sieht; jede Nation habe hier eigenmächtig und unkoordiniert gehandelt. Nur der freie Kapitalverkehr sei nirgends angetastet worden, der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften sei aber massiv außer Kraft gesetzt worden (S. 246). Dadurch hätten kleinere Unternehmen gelitten, aber die kapitalstarken Unternehmen seien als Gewinner aus der Krise hervorgegangen. Auch die auf EU-Ebene beschlossenen finanziellen Corona-Unterstützungsmaßnahmen in Milliardenhöhe kämen wieder einmal nur den starken Ländern, nicht den schwachen zugute (S. 253). So weit, so klar.
Dann verlässt der Autor aber sein Thema und schließt sich den Kritikern an den „autoritären Maßnahmen“ gegen die Covid-Ausbreitung an. Er empört sich über „Attacken“ auf „Demokratischer Widerstand“ und „Querdenken 711“. Die Pandemie, die er als Gefahr kleinredet, ist ihm nur ein (schlechtes) Beispiel für Kritik an nationalen Alleingängen. Nachdem das ganze Buch vorher eine überzeugende Kritik an undemokratischer Supranationalität war, bleibt dieser gedankliche Salto unverständlich. Hofbauer scheint sich auch der Kritik von Jean-Claude Juncker am jüngsten Spruch des Bundesverfassungsgerichtes gegen den EuGH anzuschließen: denn dieser „öffnet die Schleusen für die nationalen Begehrlichkeiten anderer Staaten“ (S. 256). Nationale „Begehrlichkeiten“ sind Hofbauers Sache nicht.
In seiner Vorstellung von einem besseren Europa ist die EU eine verzichtbare Konstruktion; er plädiert für den regionalen, sozialen und ökologischen Schutz vor global agierender Profitmaximierung und Konkurrenzfähigkeit. Auch schrankenlose Mobilität sei nicht erforderlich, da Mobilität immer nur aus einem Mangel am Ort resultiere; dieser müsse überwunden werden. Ein Neuaufbau müsse von unten ausgehen, „lokal vor regional vor national vor international/ zwischenstaatlich“ (S. 260). Diesen Gedanken kann man als Demokrat gut folgen.
Unklar bleibt dem Rezensenten allerdings, in welchen politischen Strukturen der juristische Schutz eines so verstandenen Europas organisiert werden soll. Welcher Souverän macht auf welcher Ebene die Gesetze und sorgt für ihre Durchsetzung – wenn nicht die Bürger der Nationen, die wieder ihre Souveränität auf ihre gewaltengeteilten staatlichen Ebenen zurückholen und mit den anderen Nationen kooperieren müssen? Davor scheint der Autor zurückzuschrecken. Das riecht ihm wohl zu sehr, aber sicher zu unrecht, nach bösem Nationalismus. Aber wo und wie sonst als in souveränen Nationen kann es Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geben? Hofbauers EU-Darstellung untermauert diesen Schluss, den er selbst aber nicht ziehen will.
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