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Titel: Corona-Maßnahmen: Wenn Kinder die Leidtragenden sind (1/2)

Datum: 29. Dezember 2020 um 9:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik, Interviews, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Wie steht es um die Kinder in Zeiten der Corona-Krise? Wie handeln die Verantwortlichen in der Politik, wenn es um das Wohl und den Schutz der Kinder geht? In einem zweiteiligen NachDenkSeiten-Interview betont der Kindheitswissenschaftler Michael Klundt, dass Kinder und Jugendliche zu den am stärksten Betroffenen von Corona und den Maßnahmen geworden sind. „Die meisten politischen Verantwortlichen wissen das“, sagt Klundt, der am Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal arbeitet. Klundt kritisiert die Söder-Parole „Wir retten jedes Leben“, die „sich überhaupt nicht mit Folgen und Nebenwirkungen auseinandersetzt.“ Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Klundt, Kinder gehören mit zu jenen Gruppen, die verletzlich sind und einen besonderen Schutz benötigen. Wie ist es mit dem Schutz von Kindern in Zeiten von Corona?

Nun, die Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt ja seit Sommer 2020 unaufhörlich, „Kinder sollen auf keinen Fall Verlierer der Corona-Krise werden“. Nur leider sind Kinder und Jugendliche jedoch längst zu den am stärksten Betroffenen von Corona und den Maßnahmen dagegen bundesweit und weltweit geworden. Und das Besondere: Alle Entscheidungen seit Frühjahr 2020 fallen über die Köpfe der Kinder und Jugendlichen hinweg, fast nirgendwo werden sie einbezogen oder wenigstens konsultiert oder auch nur darüber informiert, was man mit ihnen zu tun gedenkt. Und die besonders vulnerablen Gruppen, wie Kinder in Armut, obdachlose Jugendliche, geflüchtete Heranwachsende und Minderjährige mit Behinderung, sind davon am stärksten betroffen.

Das dürfte der Politik aber bekannt sein, oder?

Natürlich. Die meisten politisch Verantwortlichen wissen das auch. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, Ralph Brinkhaus, beschrieb in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 21. August 2020 seine Sicht auf die Corona-Krise und die nun notwendigen Maßnahmen. Dabei kam er auch darauf zu sprechen, dass Familien und Kinder, Schulen und Kitas in Corona-Zeiten irgendwie unter die Räder gekommen seien, denn, so Brinkhaus, „die sind so ein bisschen vergessen worden bei all den Hilfsmaßnahmen für die Wirtschaft und bei allen Gesundheitsmaßnahmen, aber was wir gesehen haben, das ist eine extreme Belastung, nicht nur für die Kinder, auch für die Familien. Deswegen liegt da jetzt die Priorität drauf, weniger auf vollen Stadien bei der Fußball-Bundesliga und anderen Sachen, die ich auch gerne wieder hätte, aber die jetzt nicht die Priorität haben.“

Das klingt doch nach Einsicht und einem Anfang.

Ja, das klingt so. Aber: Der Unionspolitiker ließ unbeachtet, dass sich Bundesliga und Baumärkte bereits lange vor der kleinsten Berücksichtigung von Kitas und Schulen großzügigster Öffnungen erfreuen durften, während zum Beispiel der außerschulische Bildungs- und Betätigungsbereich der Kinder und Jugendlichen (in Form von freier offener Jugendarbeit) sogar im Herbst 2020 immer noch nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Das Deutsche Kinderhilfswerk äußerte daher auch die Befürchtungen für die Zukunft. Demnach werde man aufgrund der bisherigen Maßnahmen „sehr viele Kinder und Jugendliche verlieren“. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat dann auf der Pressekonferenz am 27. Oktober 2020 letztlich auch die Katze aus dem Sack gelassen, als er sagte: „Schule und Kita hat ja den Sinn und Zweck, die Wirtschaft am Laufen zu lassen“. Der instrumentelle Charakter schreit zum Himmel und von Bildung oder Kinderrechten ist keine Rede.

Die Vereinten Nationen sprachen bereits im April dieses Jahres davon, dass Kinder zu den größten Opfern der Corona-Krise zu zählen sind. Worauf basiert diese Aussage?

In einer Kurzinformation der Vereinten Nationen von Mitte April 2020 wurde bereits befürchtet, dass Kinder zwar nicht das „Gesicht“ der Corona“-Pandemie seien, aber womöglich zu deren größten Opfern zählten (United Nations 2020, S. 2f.). Weltweit wurden demnach in den Monaten Mitte März bis Mai 2020 über 1,5 Milliarden schulpflichtige Kinder und Jugendliche von Schulen und Bildungseinrichtungen ausgesperrt (vgl. ebd., S. 7). Damit verbunden hatten weltweit plötzlich im Frühjahr 2020 etwa 370 Millionen Kinder durch die Schließungen und Kontaktsperren auch keine Schulspeisungen mehr erhalten (vgl. UNICEF v. 29.4.2020). Zugleich sind lebensrettende Impfkampagnen gegen Masern und Kinderlähmung für 117 Millionen Kinder – unter anderem in Afghanistan und Pakistan – vorerst gestoppt worden (vgl. UNICEF v. 5.5.2020). Fast ein Drittel aller betroffenen Schulkinder (463 Millionen) hat darüber hinaus in der ganzen Lockdown-Zeit überhaupt keinen Ersatzunterricht erhalten (vgl. UNICEF v. 27.8.2020).

Die Folgen dürften weitreichend sein.

Wie UNICEF zuletzt ermittelt hat, haben Ende Oktober immer noch 265 Millionen Mädchen und Jungen keine Schulspeisungen erhalten, über 250 Millionen Kleinkinder unter fünf Jahren bekommen keine lebenswichtigen Vitamin-A-Tabletten, 65 Länder berichten von einem Rückgang von Hausbesuchen durch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Vergleich zum Vorjahr.

Wie sieht es aktuell aus?

Im November 2020 waren 572 Millionen Mädchen und Jungen von landesweiten Schulschließungen betroffen – das sind 33 Prozent aller Schülerinnen und Schüler weltweit. „Durch die Unterbrechung lebenswichtiger Dienstleistungen und zunehmender Mangelernährung könnten in den kommenden zwölf Monaten zwei Millionen Kinder zusätzlich sterben und die Zahl der Todgeburten um 200.000 zunehmen. In 2020 werden zusätzlich sechs bis sieben Millionen Kinder unter fünf Jahren an Auszehrung oder akuter Mangelernährung leiden, eine Zunahme um 14 Prozent. Vor allem in den Ländern Afrikas südlich der Sahara und in Südasien werden hierdurch jeden Monat 10.000 Kinder zusätzlich sterben. Weltweit sind bis Mitte des Jahres schätzungsweise 150 Millionen Kinder zusätzlich in mehrdimensionale Armut gerutscht – ohne Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Nahrung, sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen.“ (UNICEF 2020: Eine verlorene Covid-19 Generation verhindern, New York/Köln v. 19.11.2020)

Wie passen diese Zahlen zu der veranschlagten Corona-Politik und Politikern, die vorgeben, Leben „schützen“ zu wollen?

Das ist genau meine Kritik. Wer auf die Millionen Toten der globalen Lockdowns und vieler Corona-Maßnahmen hinweist, dem wird gerne entgegnet, er verharmlose die Pandemie und wolle wohl über Leichen gehen. Die Absurdität dieser Argumentation müsste eigentlich allein mit Hilfe der UNICEF-Daten sichtbar werden. Die regierungsfrommen Lockdown- und Maßnahmen-Verteidiger sollten zumindest Wirkungen, Nebenwirkungen und Kollateralschäden in einem evidenzbasierten Prüf- und Abwägeverfahren ins Verhältnis setzen. Wenn selbst regierungsnahe Studien zur Übersterblichkeit in den USA und in Deutschland herausfinden, dass „nur“ die Hälfte davon auf Corona zurückzuführen sei, aber die andere Hälfte schlicht der Nicht-Behandlung anderer Krankheiten (Herz-Kreislauf, Krebs usw.) geschuldet ist, so zeigt dies doch, dass die Söder-Parole „Wir retten jedes Leben!“, die sich überhaupt nicht mit Folgen und Nebenwirkungen auseinandersetzt, dazu jedenfalls nicht ausreicht.

Ich finde übrigens sehr wichtig, und das ist auch im Rahmen der WHO-Charta festgelegt, dass die Gesundheit von Kindern nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist. Das Recht auf Gesundheit für alle Menschen, aber insbesondere auch für Kinder, ist ein umfassendes Recht, welches die Beteiligung von Kindern mit beinhaltet, den Kontakt mit anderen Kindern, Netzwerke, die Möglichkeit, sich miteinander auszutauschen, auch Bildung zu erhalten. Das ist wesentlich umfangreicher gedacht, als es in den letzten Monaten meist öffentlich kommuniziert wurde.

Werfen wir mal einen Blick auf Deutschland. Von einem Land wie Deutschland würde man erwarten, dass Politiker die Lage der Kinder berücksichtigen, dass sie einen Mangel rasch abstellen.

In der reichen Bundesrepublik Deutschland wurde für Millionen Kinder und Jugendliche im Rechtskreis des sogenannten „Bildungs- und Teilhabepakets“ ab Mitte März 2020 von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in Kitas, Schulen und Jugendclubs eingestellt – dies ist übrigens seit Mitte Dezember 2020 abermals der Fall. Auch hier waren hunderttausende von Schülerinnen und Schülern mangels digitaler Mittel (wie zum Beispiel Zugang zu einem internetfähigen Computer in der Wohnung) vom sogenannten Homeschooling ausgeschlossen und so manche/r Lehrer/in klagte darüber, dass sie mit einigen Schulkindern keinerlei Kontakt herstellen konnten während des gesamten ersten Lockdowns im Frühjahr 2020.

Dies wird noch untermauert durch einen Bericht von UNESCO, UNICEF und der Weltbank vom 29. Oktober 2020, wonach Schulkinder in Ländern mit geringem und niedrigem mittleren Einkommen seit Beginn der Pandemie rund vier Monate Unterricht verpasst haben, während Schülerinnen und Schüler in reicheren Ländern immerhin noch sechs Wochen Unterricht verpasst haben. Allerdings rechtfertigt die Tatsache, dass ärmere Länder in Krisenzeiten noch größere Probleme bei der Aufrechterhaltung bzw. Herstellung des Menschen- und Kinderrechts auf Bildung haben, es keineswegs, dass reichere Staaten wie Deutschland sehenden Auges solche Exklusionen ebenfalls zuließen und zulassen.

Schmerzhafter noch als materielle Einschränkungen können sich Diffamierungen und Stigmatisierungen auswirken. Auch das Reden über (arme) Kinder und ihre Familien macht also einen Teil der gesellschaftlichen Polarisierungs-Problematik aus, die immer weniger geleugnet werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch ein Wechselspiel zwischen Ignoranz, Krokodilstränen und Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Besonders bedenklich sind diejenigen Debatten, in denen die betroffenen Kinder und Familien mit den Etiketten ‚selbst schuld‘ oder ‚asozial‘ rhetorisch bedacht werden, denn dann steht statt der Bekämpfung von Armut eher die Herabwürdigung und letztlich Bekämpfung der Armen im Vordergrund.

Setzt sich nun unter der Corona-Politik fort, was auch schon vor Corona vorhanden war, nämlich die Mangelerfahrungen von Kindern in unserem Land?

Absolut. Schon vor Corona waren die Lebensqualität und die Zukunftschancen von Kindern durch das Aufwachsen in Armut massiv beeinflusst.

Wie kann man sich das vorstellen?

Überproportional oft wohnen sie unter beengten Verhältnissen und somit meist ohne einen ruhigen Platz für die Erledigung von Hausaufgaben. Obgleich die Einschränkungen aufgrund von elterlichem Sparen nicht an erster Stelle stünden, sei doch laut Studien immerhin ein Viertel der armen jungen Menschen von Schmälerungen beim Essen betroffen, sie könnten also teilweise oder sogar häufig nicht ausreichend bzw. zu wenig gesunde Ernährung erhalten. Während der permanente Mangel das Familienklima verschlechtere, seien auch die sozialen Netzwerke kleiner, da die Kinder überdies weniger Freizeitangebote – seien es Musikschulen oder Fußballvereine – wahrnehmen könnten. Nicht zuletzt aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickelten viele arme Kinder daher ein geringeres Selbstwertgefühl und starteten mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule, wo sie selbst bei gleichen Leistungen dann auch noch oft schlechter bewertet würden als Kinder aus wohlhabenden Schichten.

Was bedeutet das für Sie als Wissenschaftler? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Ständige Erfahrungen von Mangel und Verzicht während und nach Corona tragen dazu bei, dass sich junge Menschen, die in ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen. Ausgehend davon, dass junge Menschen, die dauerhafte Armutslagen erleben und SGB-II-Leistungen beziehen, seltener in einem Verein aktiv oder an organisierten Freizeitaktivitäten beteiligt sind als besser gestellte Gleichaltrige, besteht die Gefahr, dass sich diese jungen Menschen auch als Erwachsene aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen.

Sie unterscheiden in Ihrer Forschung zwischen Armutsursachen und Armutsanlässen.

Das ist korrekt. Leider werden in Politik, Wissenschaft und Medien immer noch überwiegend Ursachen und Anlässe von (Kinder-)Armut und von Corona-(Maßnahme-)Folgen durcheinandergebracht…

…und in der Pandemie auch verwechselt?

Ja, das ist der Fall. So erscheinen oft Armutsanlässe, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit in verschiedensten Äußerungen aus Politik, Medien und Wissenschaft als Problemursachen. Sie lassen dadurch die wirklich zugrundeliegenden Wurzeln im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem ausgeblendet und werden demzufolge mit diesen vertauscht. Dabei kann eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen.

Mit Abstrichen könnte dies selbst für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger zur Ursache, denn zum Anlass von verschärften Verarmungsprozessen landes- und weltweit gerät (leider nicht nur in verschiedenen autoritären Regimen auch zum Vorwand für den Bruch von Gewaltenteilung durch Übergehen von Legislative und Judikative seitens der Exekutive sowie durch massivste Grundrechtseinschränkungen und Repressionen). Auch hier sollte die Pandemie nicht zu vorschnell allein verantwortlich gemacht werden, sondern die darunterliegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- und gesundheits-systemischen Ursachen sind zu beachten, auch wenn sie allzu oft in Medien, Politik und Wissenschaft von der Epidemie drohen, überstrahlt zu werden.

Genauso problematisch wie die einseitige Kennzeichnung von Kindern als „Armutsrisiko“ oder gar „Armutsursache“ hat sich in der Corona-Krise die weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschreibung und Behandlung von Kindern als reine „Viren-Schleudern“ erwiesen.

Könnte man die Kinderarmut in der Corona-Krise als eine Art Elefant im Raum bezeichnen? Sie ist, einerseits, so offensichtlich, andererseits will Politik sie nicht so recht wahrnehmen.

Da ist schon was dran. Zumal die Situation ja bereits vor der Corona-Krise keineswegs idyllisch aussah. Kinderarmut in Deutschland heute bedeutet Armut in einem der reichsten Länder dieser Erde. Es darf nicht vergessen werden, wie viele hunderttausende Menschen inzwischen wieder in Deutschland auf der Straße leben (laut Tagesschau.de v. 11.11.2019 über 678.000 Menschen, darunter um die 37.000 Jugendliche; vgl. DJI-Studie 2017) und wie viele Menschen vom Flaschen-Sammeln, Betteln oder von Tafeln leben müssen. Für sie muss das Motto „Wir bleiben zuhause!“ einigermaßen befremdend gewirkt haben.

Die Regierung hat viel Geld in die Hand genommen, um zu „helfen“, wie es heißt. Was halten Sie von der Unterstützungsleistung?

Die gegenwärtigen Regierungsmaßnahmen verbleiben trotz aller Investitionspakete weiterhin im Rahmen einer neoliberalen Organisation sozialer Ungleichheit zugunsten weniger und zu Ungunsten sehr vieler Menschen.

Bitte konkret.

Wenn zum Beispiel Millionen von Menschen bis zum Ende des Jahres 2020 immer noch keine von der Bundesregierung versprochenen Fördermittel und Hilfspakete erhalten haben, aber unterdessen große Konzerne bereits mit Milliarden von Euros unterstützt wurden, dann ist das eine Schieflage. Wenn zudem staatlich geförderte Großunternehmen zehntausende von Beschäftigten in von der Solidargemeinschaft mitfinanzierte Kurzarbeit schicken, aber zugleich Milliarden an Dividenden an ihre Großaktionäre de facto von den Steuer- bzw. Beitragszahler(inne)n finanzieren lassen, deutet sich das gleiche neoliberal strukturierte Muster der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten an.

Weitere Beispiele?

Die Bundesregierung hat die Bedingungen in Kitas nicht verbessert. Belüftungsmängel und täglich volle Schulbusse nimmt sie hin, während Reisebusse, die man zur Entlastung der Schulbusse einsetzen könnte, rumstehen. Die Bundesregierung hat die Bedingungen auch in außerschulischen Bildungseinrichtungen, wie zum Beispiel der offenen Jugendarbeit, noch immer nicht verbessert, ganz zu schweigen von der Situation in Krankenhäusern, Pflegeheimen, dem öffentlichen Personenverkehr und der Fleischindustrie. Da gibt es keine Korrekturen. Stattdessen appelliert die Regierung täglich an die private Verantwortung der Bürger, um die Corona-Krise zu bewältigen.

Appelle an die private Verantwortung der Bürger. Woran erinnert das?

Hier wird fortsetzend nach dem neoliberalen Prinzip der Privatisierung aller sozialer und gesundheitlicher Risiken geredet, gehandelt und verordnet. Dazu passt dann auch, dass in pseudonostalgischen Werbefilmchen der Bundesregierung (aus der Zukunft ins Jahr 2020 wie in Kriegszeiten zurückblickend) auf fast allen Fernsehsendern im November 2020 unter dem Slogan „besondere Helden“ (offenbar auf sogenannte Kriegshelden anspielend) für das Zuhausebleiben junger Erwachsener geworben wird. Die jungen Menschen werden dabei aufgefordert, mit Fast Food und Cola vor dem Fernseher zu „verschimmeln“, während weder die Sorgen wirklicher junger Erwachsener um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt, noch die Sorgen derjenigen (meist jungen) Leute berücksichtigt werden, die das Schnell-Essen herstellen, zubereiten und liefern sollen, welches die „besonderen Helden“ vorm Fernseher verzehren.

Dass Politik auch in der Corona-Krise Instrumente zur Beeinflussung einsetzt, war zu erwarten.

Ja, aber es ist erschreckend, wie weit manche dabei zu gehen bereit sind.

Wie meinen Sie das?

Im Frühjahr 2020 wurde ein Konzeptpapier des Bundesinnenministeriums bekannt, dass es in sich hatte. Die Regierungsmaßnahmen gegen die Coronapandemie sollten durch Schock und Angst in der Bevölkerung und besonders unter den Kindern verankert werden.

Auch Kinder gerieten in den Fokus?

Ja, insbesondere sie sollten eine regelrechte Erziehung zur Angst vor qualvollem Großelterntod und damit verbundenen Formen von Schuldangst, Depressionen und Traumatisierungsfolgen erhalten. Wörtlich hieß es: »Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen (…) verdeutlicht werden: Wenn sie (die Kinder; M. K.) dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, (…) ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.« Zur Verständlichmachung der Regierungsmaßnahmen sollte dies den Kindern und ihren Eltern offenbar eingeredet werden.

Die US-amerikanische Autorin Naomi Klein hat eine solche sowohl militärisch als auch wirtschaftspolitisch angewandte Schockstrategie als Herrschaftsmethode im neoliberalen Kapitalismus begriffen, wodurch mit jeder neuen Katastrophe herrschende Klassen in Wirtschaft und Politik die Welt neu unter sich aufteilen können, während die mehrheitlich betroffenen Bevölkerungen sich meist – wie gelähmt – noch in buchstäblicher Schockstarre befinden. Erstaunlicherweise äußerte sich auch der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) während der Pandemie in ähnlicher Form, als er in der Neuen Westfälischen vom 20. August sagte: »Die Coronakrise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer«.

Medien haben damals über das Papier berichtet.

Das stimmt. Aber sie haben es auch schnell wieder vergessen.

Wer den Verdacht äußert, dies könnte auch gegenwärtig tragendes Motiv für politische, wirtschaftliche und mediale Maßnahmen sein, den dürften regierungsfromme Fraktionen rasch als Verschwörungstheoretiker abstempeln. Ein solcher Verdacht würde unterstellen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Herrschaft, kapitalistischer gar, und daher auch von Herrschaftsinteressen geprägt wäre. Und solche Ansichten werden nicht gerne gehört.

Titelbild: Sharomka/shutterstock.com

Lesen Sie morgen auf den NachDenkSeiten den zweiten Teil des Interviews mit Michael Klundt.


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