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Titel: Corona: Der Mythos der unbefleckten Empfängnis

Datum: 21. Dezember 2020 um 9:16 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Ist es eine Sünde, sich an Weihnachten zu treffen? Entlasten wir die Intensivstationen, wenn wir zu Hause bleiben? Wie groß ist die unsichtbare Gefahr der symptomlosen Übertragung von SARS-CoV-2 durch Aerosole wirklich? Eine genauere wissenschaftliche Analyse von Fallstudien zum tatsächlichen Übertragungsgeschehen gibt Hoffnung. Von Sandra Reuse.

Nichts spaltet die Bevölkerung in diesem Jahr mehr als die unterschiedliche Einschätzung der Frage, wie gefährlich es ist, sich zu begegnen. Zu keinem Zeitpunkt ist dies trauriger als in der Weihnachtszeit. Die aktuellen Kontaktbeschränkungen und -verbote sowie die damit einhergehende Medienkommunikation erwecken den Eindruck, schon die bloße Anwesenheit anderer sei eine Gefahr. Beflügelt und befeuert wird dies durch Schlagzeilen über volle Intensivstationen, die ohne Frage sehr bedrückend sind.

Dennoch gibt es eine – möglicherweise große – Dunkelziffer derjenigen, die gerade jetzt still leiden. Die auf Weihnachten gehofft haben, weil sie endlich mal wieder mit anderen zusammensein wollen. Die zwar vielleicht Angst haben, sich anzustecken, aber noch größere Furcht, während der „Festtage“ völlig zu vereinsamen. Die sich aber nicht einmal mehr trauen, das zu sagen, weil es allgemein als Beitrag zur Nächstenliebe gilt, auf Nähe zu verzichten. Wären Maria und Josef heute unterwegs, könnten sie wohl nicht einmal mehr auf einen Stall als Herberge hoffen.

Wie groß ist aber die unsichtbare Gefahr einer Übertragung von SARS-CoV-2 wirklich? Müssen wir immer und überall damit rechnen, dass das Virus durch die Luft fliegt? Geht es schon in Richtung Sünde, jemanden zum Spazierengehen zu treffen? Oder zum Weihnachtsgottesdienst zu wollen? Sollten wir Oma im Pflegeheim ein weiteres halbes Jahr vergessen? Müssen wir uns tatsächlich darauf einstellen, bis in alle Ewigkeit nur noch als Videokachel miteinander zu singen?

Entwarnung für Treffen im Freien

Zumindest für Treffen im Freien gibt es jetzt endlich auch wissenschaftlich basierte Entwarnung: Eine aktuelle, im Journal of Infectious Diseases vorab veröffentlichte Meta-Analyse bewertet das Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 bei Außenaktivitäten als deutlich geringer als das bei Innenaufenthalten. In fünf der durch ein interdisziplinäres Forscherteam ausgewerteten Studien betrug der Anteil der Übertragungen, die draußen stattgefunden haben könnten, weniger als zehn Prozent. Eine der in die Analyse einbezogenen Studien bezifferte das Risiko einer Infektion im Freien sogar als knapp 19-mal niedriger als das innerhalb geschlossener Räume.

Das ist das Ergebnis einer groß angelegten Datenbankanalyse, in der nach Studien und Fachartikeln gesucht worden war, die Übertragungsereignisse im Innen- und im Außenbereich analysierten. Den Autoren zufolge wurden ausschließlich Studien einbezogen, die ein peer reviewed Verfahren durchlaufen hatten. Insgesamt fanden sich so wenige Berichte über „Corona“-Außenübertragungen, dass auch Fallstudien zur Übertragung anderer respiratorischer Viren analysiert wurden, wie etwa Influenza-, Adeno- und Rhinoviren. Als Outdoor-Aktitivitäten wurden sowohl Arbeits- als auch Freizeit- und Feierzusammenhänge definiert.

Ein wichtiges Ergebnis, zugleich aber auch die Haupt-Herausforderung für eine realistische Einschätzung der Übertragungsgefahr von SARS-CoV-2, ist die sehr unterschiedliche Qualität der Fallstudien. So konnte beispielsweise in den ohnehin wenigen Fällen einer möglichen Outdoor-Übertragung nicht ausgeschlossen werden, dass die entscheidenen Begegnungen tatsächlich drinnen stattgefunden hatten. Dies gilt offenbar auch für die oft im Zusammenhang mit einem Corona-Ausbruch zitierte Rosegarden Party von Ex-US-Präsident Trump. Auch stellte sich heraus, dass ein Grippe-Ausbruch, der in der Literatur einem Festival zugeordnet worden war, seinen ursächlichen Verlauf bei der gemeinsamen Zuganreise von Teilnehmern genommen hatte. Alle später Erkrankten hatten viele Stunden im selben Abteil verbracht.

Einige der berichteten Outdoor-„Ausbrüche“ standen im Zusammenhang mit Baustellen in Asien. Auch hier wäre es wiederum zu kurz gegriffen, von Außen-Übertragungen auszugehen, da Baustellenarbeiten in aller Regel nicht nur draußen stattfinden. Vor allem aber sind Bauarbeiter nicht nur in Asien oft in Gemeinschaftsunterkünften mit wenig individuellen Rückzugsmöglichkeiten untergebracht.

Es gab drei Manuskripte über Influenza-Übertragungen im Zusammenhang mit Festivals, jedoch keines zu eintägigen Veranstaltungen. Alle dokumentierten Übertragungen fanden zwischen Personen statt, die gemeinsam übernachtet hatten.

Der Metaanalyse zufolge gab es weder eintägige Massenveranstaltungen noch eintägige Sportveranstaltungen, die draußen stattfanden, wo es bisher zu Übertragungen von respiratorischen Viren in einem nennenswerten Ausmaß kam. Das ist insofern interessant, als dass auch Literatur zu Veranstaltungen ausgewertet wurde, die noch in der „alten Normalität“ stattfanden, d.h. ohne Masken und Abstand, mit Umkleidekabinen und Imbissmöglichkeiten in Innenräumen.

Natürlich ist eine Übertragung niemals auszuschließen und bei engerem Körperkontakt, vor allem im Gesichtsbereich, auch an der frischen Luft möglich. „Ausbrüche“ sind dennoch dieser Analyse zufolge auch bei Massenveranstaltungen im Freien nicht zu befürchten. Erst recht dürfte dies wohl für Aufenthalte in öffentlichen Straßenräumen gelten, wo Menschen mehrheitlich aneinander vorübergehen. Die Vorstellung, das Virus springe beim bloßen Vorhandensein größerer Menschenmengen von Mund zu Mund, kann wohl getrost in den Bereich des Mythos verbannt werden. Das wäre die erste gute Nachricht.

Bestimmte Faktoren, z.B. Klimaanlagen, steigern das Übertragungsrisiko in Innenräumen erheblich

Doch auch bei Innen-Aktivitäten sollte den Autoren der Meta-Studie zufolge viel genauer differenziert werden, was wirklich gefährlich sein könnte und was nicht. Ihre Auswertungen zeigen, dass bei einer ganzen Reihe sogenannter Spreading-Events offenbar Klimaanlagen eine wichtigere Rolle spielten, als bislang diskutiert wird. Dies gilt auch für das mittlerweile traurig-berühmte Chortreffen in Skagit / Washington, wo sich 80% der Mitglieder eines Chores infizierten und zwei starben.

Möglicherweise kommt es aber gar nicht so sehr darauf an, was Menschen in Innenräumen machen, ob sie sich an die AHA-Regeln halten und wie viele es sind, wie die folgende Analyse zeigt, die sich mit einem Ausbruch von Covid-19 in einem niederländischen Pflegeheim befasst. Hier steckten sich trotz niedriger Infektionszahlen in der Allgemeinbevölkerung in kürzester Zeit erst mehrere Bewohner gleichzeitig und dann die Pfleger an, und zwar obwohl diese bei Dienstleistungen am Patienten eine Maske trugen.

Ausbruch in einem niederländischem Pflegeheim trotz niedriger Inzidenzzahlen im Umfeld

Das Pflegeheim bestand aus insgesamt sieben unterschiedlichen Abteilungen, die räumlich voneinander getrennt waren. Weil sich die Verbreitung des Virus nur in dieser einen Abteilung abgespielt hatte (80% der Patienten = 17 Pers. und 50% der zugehörigen Pfleger = 17 Pers.), alle anderen Bewohner und Pfleger (95 und 6 Pers.) des Heimes jedoch negativ getestet wurden, wurden auch die zugehörigen Belüftungssysteme untersucht. Die betroffene Abteilung war die einzige mit einer Klimanlage. Diese war vor erst vor kurzem eingebaut worden und sollte besonders energieeffizient arbeiten, was aber letztlich dazu führte, dass die Raumluft zu lange rezirkuliert wurde. Alle anderen Abteilungen hatten eine Ventilation mit regelmäßiger Außenluftzufuhr. Auch hier fanden sich Spuren von SARS-CoV-2-Viren im Staub der Anlage, d.h. es waren vermutlich auch dort Infizierte unterwegs gewesen. Die Virenspuren waren jedoch nicht, wie in der betroffenen Abteilung, überall sonst auf den Böden und Ablageflächen nachweisbar vorhanden. Durch die Rezirkulation der Raumluft hatten sie sich offenbar in einer problematischen Größenordnung angesammelt.

Leider werden die genaueren Umstände der Verbreitung von SARS-CoV-2 in Innenräumen in vielen Medienberichten, die das Singen und Zusammensein von Menschen als verantwortungslos verurteilen, kaum noch diskutiert.

Die starke und schnelle Verbreitung des Coronavirus in den USA könnte aber letztlich viel damit zu tun haben, dass viele Gebäude und auch Fahrzeuge mit Klimaanlagen ausgestattet sind. In vielen chinesischen Neubauten, namentlich in Fabriken, Dienstleistungszentren und Krankenhäusern ist das übrigens auch so, dasselbe gilt für Europa. Auch bei der Fleischfabrik Tönnies war es nach Expertenmeinung die Klimaanlage, die für die starke Verbreitung sorgte. Hinzu kamen die sehr niedrigen Temperaturen und die anstrengende Arbeit, die das Immunsystem der Arbeiter schwächten. Plus der Faktor Unterbringung auf engstem Raum.

Wie gefährlich ist das Singen? Wissenschaftliche Evidenz ist dünn

Der RKI-Steckbrief zu Covid-19 bezieht sich auf zwei Multispreading-Events bezüglich der möglichen Übertragung durch Aerosole beim Singen: Heinsberg und Skagit. Bei dem später durch Prof. Hendrik Streeck ausgewerteten Event in Heinsberg handelte es sich um eine Karnevals-Veranstaltung. Niemand, der je im Rheinland war, wird auf die Idee kommen, die Übertragung von Viren beim Karneval allein dem Singen zuzuordnen. Wie auch bei der Apres-Ski-Bar in Ischgl ist vielmehr anzunehmen, dass neben Tanzen und Küssen vor allem lautstarke Unterhaltungen “face to face“ (vor allem Barkeeper – Gäste) aufgrund der allgemeinen Lautstärke die Verbreitung des Virus gefördert haben.

Das Chortreffen in Skagit wird immer wieder als Beleg für die Gefährlichkeit des Singens herangezogen. Doch wie die Fallstudie zeigt, saßen die Chormitglieder teilweise auch eng beieinander, teilten mitgebrachte Snacks und unterhielten sich. Es war mindestens ein Chormitglied vor Ort, das bereits Symptome hatte. Hinzu kam eine Klimaanlage. Auch gab es nicht nur ein Treffen, das den Wissenschaftlern zufolge zur Verbreitung beitrug, sondern zwei, und die Treffen gingen über insgesamt 2½ Stunden. Daher könnte das gemeinsame Singen – zu welcher Gelegenheit auch immer – in gut gelüfteten Räumen vermutlich als deutlich weniger riskant eingestuft werden als bisher.

Wenn es in den Krankenhäusern voll wird und Menschen an Covid-19 sterben, dann ist das schlimm und traurig. Zu glauben, der Verzicht auf jegliches menschliche Miteinander würde helfen, diese Situation abzumildern, scheint aber doch ein Trugschluss zu sein. Vielmehr zeigen die hier zusammengefassten Fallstudien über tatsächlich stattgefundenes Übertragungsgeschehen, dass es bestimmte Risikofaktoren gibt, die längst nicht jedes Treffen in den Gefahrenbereich verlagern. Die Häufigkeit, Länge und Intensität des Treffens, schlecht programmierte Klimaanlagen ohne Filter und Menschen, die eben doch bereits an Symptomen leiden, gehören dazu.

Das aber ist eine Nachricht, die Hoffnung geben kann.

Titelbild: kzww / shutterstock.com


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