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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Sicherheit durch Sich-Vertragen? Oder: Sicherheit durch Sich-Bewaffnen?
Datum: 20. November 2020 um 15:19 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Nützliche Dokumente
Verantwortlich: Albrecht Müller
Die Bundesverteidigungsministerin hat am 17. November an der Bundeswehr-Hochschule in Hamburg eine Grundsatzrede gehalten, mit der sie den totalen Bruch mit der erfolgreichen Außen- und Sicherheitspolitik der Regierungen Brandt, Schmidt und Kohl propagiert und dokumentiert: der Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts begonnene und 1990 endgültig erfolgreiche Versuch, Frieden und Sicherheit durch Verständigung, durch Verträge, durch Sich-Vertragen zu gewinnen, ist jetzt aufgegeben und wird ersetzt durch Aufrüstung, durch Militär. Darum kreist das Denken unserer Verteidigungsministerin. Wir müssen davon ausgehen, dass die Bundeskanzlerin genauso denkt. Und der Bundespräsident und der Bundesaußenminister auch. Das ist ein wirklicher und gefährlicher Bruch. Die Betroffenen, wir alle, wir Erwachsenen und unsere Kinder und Enkel, sind uns offensichtlich dieser gravierenden Veränderung und der damit verbundenen Gefahr nicht bewusst. Deshalb dokumentieren und kommentieren die NachDenkSeiten diese Rede. Darüber hinaus haben wir die Rede Kramp-Karrenbauers in unsere Dokumentation “Interessante Dokumente des Zeitgeschehens” aufgenommen. Auf einige der besonders bemerkenswerten, ideologisch verhärteten und gefährlichen Stellen mache ich aufmerksam. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Bitte lesen Sie die unten wiedergegebene Rede. Es ist ein zeitgeschichtlich relevantes Dokument. Es dokumentiert die Rückkehr zum totalen Kalten Krieg.
Einige, nur wenige der besonders bemerkenswerten Stellen habe ich gefettet. Die Ziffern in Klammern beziehen sich auf die folgenden kommentierenden Anmerkungen, die mit der gleichen Ziffer gekennzeichnet sind:
Die 1969 von Bundeskanzler Willy Brandt formulierte Zielsetzung „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ gilt nicht mehr. Die Bundesverteidigungsministerin erweist sich in mehreren Bemerkungen als besonders feindselige Nachbarin. Auch die 1989 und 1990 vereinbarte enge Zusammenarbeit ist aufgegeben; die von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) zusammen mit Michael Gorbatschow praktizierte Verständigung mit Russland und die damals entwickelte Konzeption der Gemeinsamen Sicherheit gilt auch nicht mehr. Dass man die Sicherheit zum Beispiel des russischen Volkes und die Sicherheit des deutschen Volkes gemeinsam und eben nicht durch gegeneinander gerichtete Bewaffnung bis unter die Zähne und mit Atombomben und Atomraketen sicherstellen kann und sollte, gilt auch nicht mehr. Das ist ein wirklicher Bruch.
Das Wort Frieden kommt in der Rede der Bundesverteidigungsministerin nur beiläufig vor. Entspannung und Entspannungspolitik – Fehlanzeige. Vertragspolitik, sich vertragen – Fehlanzeige. Vertrauensbildung, eine in der Praxis der Entspannungspolitik zwischen 1966 und 1990 wichtige Verhaltensregel – Fehlanzeige. Der Gedanke, sich in die Lage des Anderen zu versetzen – Fehlanzeige. Versöhnen – selbstverständlich Fehlanzeige.
Im Verhältnis zu der Russischen Föderation und zum russischen Volk wird nicht Vertrauen, da wird Misstrauen gesät. Da wird Russland zum Aggressor aufgebaut (1). Von Russlands „Aufrüstung mit konventionell und nuklear bestückten Raketensystemen“ ist die Rede, aber nicht davon, wer mit der Aufrüstung angefangen hat und wer die Verabredungen gekündigt hat.
Es ist keine Rede davon, dass die NATO entgegen dem Geist der Verabredung von 1990 bis an die Grenze Russlands ausgedehnt worden ist. In diesem Zusammenhang hat die Bundesverteidigungsministerin sogar die Chuzpe, Russland anzuklagen. Das Land habe, jetzt wörtlich: „ … in direkter Nachbarschaft der Europäischen Union, unmittelbar an der Ostgrenze der NATO“ mit nuklear bestückten Raketensystemen aufgerüstet. – Wer einen Vorgang so verdreht, so auf den Kopf stellt, sät Misstrauen. Meine Gesprächspartner in Russland halten dieses Verhalten für unanständig. Sie haben mit dieser Einschätzung recht.
Bei Frau Kramp-Karrenbauer ist keine Rede davon, dass der Westen alles getan hat, um Russland aus Europa „hinauszuwerfen“, und deshalb versucht hat, ein Land nach dem anderen aus der engen Zusammenarbeit mit Russland herauszubrechen. Konkret zum Beispiel: Die USA haben mit 5 Milliarden $ für Public Relations und NGOs die Ukraine destabilisiert und aus der Verbundenheit mit Russland herauszulösen versucht – mit Erfolg, wie man heute sieht.
Ihre militärisch orientierte und aggressive Denkweise und die davon geprägte Politik nennt die Bundesverteidigungsministerin „Verantwortung“ (2). Und sie beruft sich dabei auf den Bundespräsidenten. Der damit verbundene Bruch mit der Friedenspolitik und mit dem Prinzip, dass wir uns mit anderen Völkern vertragen wollen und nicht gegen sie rüsten wollen, ist schon seit längerem so angelegt, schon mit der Beteiligung am Krieg gegen Jugoslawien und dann deutlich zum Beispiel bei der Münchner Sicherheitskonferenz von 2014. Dort haben gleich drei der hierzulande mächtigen Personen das Schlagwort von „mehr Verantwortung übernehmen“ eingebracht. Seitdem ist das das Kürzel für die Bereitschaft, militärisch zu intervenieren.
Die Bundesverteidigungsministerin belebt eine olle Kamelle. Sie nennt den „internationalen Systemwettbewerb“ eine der Herausforderungen, denen wir uns stellen müssten (3). Und dann kommt der gesamte ideologische Wust, den wir eigentlich glaubten, überwunden zu haben. Dann ist vom westlichen Modell der offenen Gesellschaft die Rede, von Demokratie und Rechtsstaat, denen wir wohl angeblich verpflichtet sind. Dem würden einige Staaten ein anderes Modell entgegenstellen. Auch behauptete sie, diese autoritären Systeme seien wirtschaftlich, gesellschaftlich und militärisch auf Expansionskurs und arbeiteten mit Nachdruck daran, Völkerrecht umzuschreiben und zu entstellen. Wer hat denn damit begonnen, das Völkerrecht umzuschreiben? Zum Beispiel mit der militärischen NATO-Intervention in Restjugoslawien?
Dann kommt gleich der Satz: „Handelsrouten und Lieferketten geraten unter Druck“. (4)
Wo denn, muss man da fragen? Bedroht Russland die Handelswege und die Lieferketten? Tut China das? Wer denn sonst? Wer von jenen Völkern, gegen die der Westen Krieg führt, hat denn unsere Handelswege und Lieferketten bedroht? Syrien? Der Irak? Afghanistan? Libyen? Der Iran?
Russland möchte gerade – so wie es vertraglich vereinbart ist – den Handelsweg für russisches Gas nach Deutschland ausbauen – mit Nordstream 2. Die Bundesverteidigungsministerin verdreht offensichtlich mit Lust die Tatsachen.
China vorzuwerfen, es setze Handelsrouten und Lieferketten unter Druck, ist besonders witzig. China will die Handelswege sogar mit neuen Eisenbahnverbindungen weiter ausbauen. Welches Interesse sollte dieses exportorientierte Land an der Bedrohung von Handelsrouten und Lieferketten haben? In diesem Zusammenhang muss ich auf eine Meldung in meiner Zeitung aufmerksam machen, die die Absurdität der Politikerin Kramp-Karrenbauer, die ja aus dem Saarland kommt, besonders sichtbar macht. Diese Meldung vom 18. November lautet:
Saarland: Bau einer Batteriefabrik für 2 Milliarden €
Saarbrücken. Der chinesische Automobilzulieferer Svolt Energy Technology will seine Europa-Produktion im Saarland ansiedeln und dort 2 Milliarden € in den Bau einer Batterieproduktion für E-Autos investieren. Dabei sollen 2000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
Sieht so die Bedrohung unserer Handelswege und Lieferketten aus? Das Saarland wird von einem CDU-Ministerpräsidenten regiert. Dessen Amt hatte vorher die jetzige Bundesverteidigungsministerin. Es wäre alles zum Lachen, wenn es nicht so gefährlich wäre.
Gefährlich ist die Neigung zur Kriegsspielerei, die bei der jetzigen Bundesverteidigungsministerin und der Bundesregierung sichtbar wird.
Damit bin ich bei einem besonderen Stück: Statt sich – ganz im Sinne der großen Investition eines chinesischen Unternehmens im Saarland – für dauerhafte Zusammenarbeit und Sich-Vertragen einzusetzen, setzt unsere Bundesverteidigungsministerin ein vor kurzem begonnenes neues Spielchen fort: In einem Abschnitt ihrer Rede (5) kommt sie auf den sicherheitspolitischen „Multilateralismus“ zu sprechen. Sie meint damit konkret die Partnerschaft zu Freunden in Australien, Japan, Südkorea oder Singapur. Diese Partnerschaft müsse man stärken. Daran anschließend geht es wörtlich weiter:
„Deutschland wird präsenter, etwa durch mehr Verbindungsoffiziere und im kommenden Jahr, so Corona das zulässt, durch ein Schiff der deutschen Marine. Wir werden Flagge zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner“
Da soll also ein Schiff der deutschen Marine ins südchinesische Meer geschickt werden, um „Flagge zu zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner“. Das ist wörtlich zitiert und rundum abenteuerlich. Und es ist gefährlich. Denn damit wird die Bundesrepublik Deutschland auf leichtfertige Weise in Konflikte hineingezogen, über deren Ursachen wir keinerlei Entscheidungsmacht haben. Außerdem ist die ganze Geschichte mit dem einen (!) Schiff rundum lächerlich.
Ich könnte diese kritischen Bemerkungen zu der Rede von Frau Kramp-Karrenbauer weiter fortsetzen. Aber es reicht. Es reicht, um festzustellen, dass unser Land in dieser wichtigen Funktion eine Person wirken lässt, die ideologisch noch über den elenden Zustand der Kalten Krieger der Fünfzigerjahre hinausragt. Dass die CDU immer wieder solche Politiker/innen hervorbringt, ist schrecklich, und dass wir heute drei davon, noch dazu Frauen in entscheidenden Positionen haben – die Bundeskanzlerin, die EU-Kommissionspräsidentin und die Bundesverteidigungsministerin – ist besonders bedrückend.
Frau Kramp-Karrenbauer hat vor jungen Studenten und Soldaten geredet und sie hat dort einen Geist verbreitet, den wir gerade nicht in der Bundeswehr haben wollen. Und auch nicht gebrauchen können.
Anlage
2. Grundsatzrede der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer
vom 17.11.2020 in Hamburg, Bundeswehrhochschule
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrter Herr Professor Dr. Beckmann,
liebe Mitglieder der Hochschulleitung,
werte Generale,
sehr geehrte Damen und Herren,
aber vor allem Sie, liebe Studierende,
wieder einmal müssen wir uns dem Virus beugen und auch diese Zusammenkunft ins Virtuelle verlegen.
Ich freue mich, trotzdem heute zum ersten Mal zu Ihnen sprechen und mit Ihnen diskutieren zu können.
Ich bedanke mich herzlich bei all jenen, die das möglich gemacht haben.
Meine Damen und Herren,
Wir erleben derzeit einen Augenblick von großer Tragweite. Vor unseren Augen verändert sich die strategische Gesamtlage, verdichtet sich und wird klar erkennbar.
In den Vereinigten Staaten von Amerika haben wir eine Präsidentschaftswahl gesehen, deren Ausgang uns alte Herausforderungen präsentiert und uns neue Optionen in der internationalen Politik, auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eröffnet.
Jetzt können wir Europäer zeigen, dass wir und wie wir diese Chance nutzen wollen.
In Berg-Karabach ist zwischen Aserbaidschan und Armenien gerade der erste echte Drohnenkrieg der Geschichte ausgetragen worden, mit schwerwiegenden Konsequenzen für die unterlegene Seite.
China hat soeben mit vierzehn anderen Staaten des Indo-Pazifiks das größte Freihandelsabkommen der Welt abgeschlossen. Dieser Vertrag in der dynamischsten Wirtschaftsregion der Welt, illustriert die globale Machtverschiebung hin zum Pazifik.
Hallo
Das strategische Gleichgewicht und potenziell auch die nukleare Balance in Europa werden dadurch empfindlich gestört.
Dies alles geschieht, während sich global die Covid-19-Pandemie noch immer ausbreitet. Wir können noch nicht vollständig absehen, welche wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und strategischen Folgen das winzige Virus haben wird.
Meine australische Amtskollegin Linda Reynolds sagte sehr treffend bei einem gemeinsamen Webinar vor zwei Wochen: „Es ist die Aufgabe von Verteidigungsministerinnen, die Welt erst einmal nüchtern so zu betrachten, wie sie ist – nicht, wie wir sie uns wünschen.“ Das fällt uns in Deutschland nicht immer leicht.
Wenn wir unsere Arbeit gut machen, können wir jedoch dazu beitragen, dass Deutschland und Europa sich außen- und sicherheitspolitisch in die von uns gewünschte Richtung entwickeln.
Deshalb ist es gut, dass es heute über die politischen Lager hinweg einen Konsens für „mehr Verantwortung“ Deutschlands und Europas gibt. (2)
Doch heißt dieser Konsens auch, dass man den Menschen im Lande die mit der höheren Verantwortung einhergehenden, mitunter auch unbequemen Wahrheiten zumuten kann und darf?
Wer glaubt, das nicht zu können oder nicht zu dürfen, der ist arrogant. Der respektiert die Menschen nicht. Der behandelt sie wie Unmündige.
Die Bürgerinnen und Bürgern in einer Demokratie haben ein Recht auf unbequeme Wahrheiten.
Denn wenn wir in Deutschland vom Konsens über mehr Verantwortung zu einem Konsens des konkreten Handelns kommen wollen, wenn wir die Einsicht, dass Deutschland mehr tun muss, nicht mehr abstrakt bereden, sondern konkret umsetzen wollen, dann geht das nur mit der demokratischen Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger.
Die Herausforderungen sind klar erkennbar, der internationale Systemwettbewerb auch. (3)
Einige Staaten stellen dem westlichen Modell der offenen Gesellschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats ein anderes Modell entgegen, das mit unseren Werten in keiner Weise vereinbar ist.
Manche bauen mit unterschiedlichen Methoden aggressiv ihren Einfluss in Europa aus, um in unseren Ländern und unseren Institutionen mitzuregieren.
Autoritäre Systeme sind wirtschaftlich, gesellschaftlich und militärisch auf Expansionskurs und arbeiten mit Nachdruck daran, Völkerrecht umzuschreiben und zu entstellen.
Handelsrouten und Lieferketten geraten unter Druck. (4)
In der Cyberwelt haben wir es täglich mit einer Vielzahl staatlicher oder staatsnaher Angriffe zu tun, viele davon auf die Institutionen unserer Demokratie oder auf kritische Infrastrukturen.
Hochmoderne Waffensysteme, von KI-gesteuerten Drohnenschwärmen bis hin zu bisher kaum abwehrbaren hypersonischen Flugkörpern, sind bereits im Einsatz oder werden es bald sein.
Krisen und Kriege bestimmen leider den Alltag auch in unserer europäischen Nachbarschaft.
Gleichzeitig bleibt Terrorismus, besonders der islamistische, eine Geißel für alle Menschen überall auf der Welt.
Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs müssen wir uns eingestehen: Das Ende des Kalten Krieges war nicht das Ende der Geschichte. Der Frieden ist nicht überall ausgebrochen. Unsere Sicherheit, unser Wohlstand, unser friedliches Zusammenleben werden ganz real bedroht.
Hinzu kommt, dass wir auch in der NATO und der EU derzeit fundamentale Ungewissheiten spüren:
Und schließlich wird auch Covid-19 die Verteidigungspolitik treffen. Die kommenden Verteidigungshaushalte benötigen aber einen gesunden Wachstumskurs. Denn die geschilderten Bedrohungen und Herausforderungen bleiben auch während der Pandemie bestehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
um diesen Entwicklungen gerecht zu werden, brauchen wir Offenheit und Ernsthaftigkeit in der Debatte.
Ich möchte als verantwortliche Ministerin dazu meinen Beitrag leisten.
In einer vernetzten Welt brauchen wir ein vernetztes Politikverständnis. Wir brauchen eine gut abgestimmte Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Handels- und Entwicklungspolitik, wenn wir als Deutschland und Europa künftig besser weltpolitikfähig werden wollen und wenn aus unseren Fähigkeiten eine wirksame Verteidigungsdiplomatie erwachsen soll.
Im vergangenen Jahr habe ich deshalb an der Universität der Bundeswehr in München den Vorschlag gemacht, in Deutschland einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten.
In der Zwischenzeit haben in diesem besonderen Jahr 2020 gleich eine ganze Reihe von Ereignissen gezeigt, wie hilfreich ein solches Instrument zur Koordinierung und Strategieentwicklung wäre. Auch die Coronakrise gehört dazu.
Ich bin sicher, dass in kommenden Koalitionsverhandlungen darüber gesprochen wird.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung umfassende Leitlinien zum Indo-Pazifik beschlossen hat, die auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst. Die strategische Bedeutung der Region wird damit voll anerkannt.
Eine stärkere verteidigungs- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit füllt den für uns so wichtigen Multilateralismus mit Leben und stärkt die Partnerschaft zu Freunden in Australien, Japan, Südkorea oder Singapur.
Deutschland wird präsenter, etwa durch mehr Verbindungsoffiziere und im kommenden Jahr, so Corona das zulässt, durch ein Schiff der Deutschen Marine.
Wir werden Flagge zeigen für unsere Werte, Interessen und Partner. (5)
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Seit dem Ende des 2. Weltkrieges lebt Deutschland von einer Stabilität, die es gemeinsam mit seinen europäischen Nachbarn und den USA geschaffen hat.
Wir waren und sind für Freiheit, Frieden und gutes Leben der Menschen in unserem Land immer auf Verbündete angewiesen.
Der wichtigste Verbündete in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik waren und sind nach wie vor die Vereinigten Staaten von Amerika. Und sie werden es auf absehbare Zeit auch bleiben. Ohne die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas können Deutschland und Europa sich nicht schützen. Das sind die nüchternen Fakten.
Das renommierte Londoner RUSI-Institut schätzt, dass die USA derzeit 75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten stellen.
Die USA stellen 70 Prozent der sogenannten „strategic enabler“, das heißt beispielsweise Aufklärung, Hubschrauber, Luftbetankung und Satellitenkommunikation.
Nahezu 100 Prozent der Abwehrfähigkeiten gegen ballistische Raketen werden von den USA in die NATO eingebracht. Und natürlich stellen die USA den weit überwiegenden Teil der Fähigkeiten zur nuklearen Abschreckung.
Etwa 76.000 US-Soldatinnen und Soldaten dienen in Europa. Das umfasst noch nicht die Truppen, die die USA im Ernstfall zur Verstärkung schicken würden.
All dies zu kompensieren würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern und unsere heutigen Verteidigungshaushalte mehr als bescheiden daherkommen lassen.
Wir haben also ein besonderes Interesse daran, dass Amerika weiter an der Verteidigung Europas interessiert ist, während es gleichzeitig seinen strategischen Fokus nach Asien verlegt.
Die beste Art das zu erreichen, ist selbst mehr für unsere eigene Sicherheit zu tun. Nur wenn wir unsere eigene Sicherheit ernst nehmen, wird Amerika das auch tun.
Das hat auch der französische Präsident gerade festgestellt – und ich stimme ihm zu.
Gleichzeitig kann ich nur unterstreichen, was Bundespräsident Steinmeier vor wenigen Tagen, anlässlich des 65. Geburtstags der Bundeswehr, sagte:
„Allein und nur auf die EU zu setzen, hieße Europa in die Spaltung zu treiben. Wir werden den stärksten und größten Partner im Bündnis weiter dringend brauchen. Aber nur ein Europa, das sich selbst glaubwürdig schützen will und kann, hat die besten Chancen, die Vereinigten Staaten in der Allianz halten zu können.“
Genau darum geht es jetzt. Dieses Paradox müssen wir aushalten: wir bleiben sicherheitspolitisch von den USA abhängig und müssen gleichzeitig in Zukunft als Europäer mehr von dem selbst tun, was uns die Amerikaner bisher abgenommen haben.
Die Idee einer strategischen Autonomie Europas geht zu weit, wenn sie die Illusion nährt, wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten.
Wenn es aber darum geht, auch eigenständig als Europäer handeln zu können, wo es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, dann ist das unser gemeinsames Ziel und entspricht unserem gemeinsamen Verständnis von Souveränität und Handlungsfähigkeit.
Deutschland und Frankreich wollen, dass die Europäer künftig selbstbestimmt und wirkungsvoll agieren können, wenn es darauf ankommt.
Wir wollen, dass Europa für die USA starker Partner auf Augenhöhe ist und kein hilfsbedürftiger Schützling.
Der neue amerikanische Präsident Joe Biden muss sehen und spüren, dass wir genau das anstreben.
Ich halte es für wichtig, dass wir Europäer der kommenden Biden-Administration daher ein gemeinsames Angebot, einen New Deal, vorlegen.
Für mich sind aus der Sicht der deutschen Verteidigungspolitik drei Eckpunkte dabei besonders wichtig:
Alles dies passt nahtlos und bruchfrei zu unseren Ambitionen in Europa: wir wollen, dass Europa mehr kann, in der NATO und als EU.
Deutschland hat genau deshalb während seiner Ratspräsidentschaft wichtige EU-Projekte vorangetrieben:
Eine eigene Europäische Streitmacht, wie sie jetzt von einigen wieder vorgeschlagen wird, ist eine Vision unter vielen. Egal, wie man dazu steht, wer am Ende diesen großen Schritt gehen will, der muss vorher konsequent alle kleinen Schritte gehen. Das beginnt damit, die bestehenden Verpflichtungen in der NATO und der EU zu erfüllen.
Das kann nur heißen, die Handlungsfähigkeit Europas nicht nur abstrakt zu beschwören, sondern ganz konkret in sie zu investieren, ganz konkret für sie zu stimmen, sie mit ganz konkretem Handeln zu zeigen.
Die Kosten einer strategischen Autonomie im Sinne einer vollkommenen Loslösung von den USA würden im Übrigen ungleich höher ausfallen, als die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, zu denen wir uns selbst im atlantischen Bündnis verpflichtet haben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir müssen europäischer werden um transatlantisch zu bleiben. Deutschland muss dafür bei sich selbst anfangen. Wir können das nicht irgendwo hin-delegieren.
Unsere Anstrengungen in diese Richtung können sich bereits sehen lassen, in der Einsatzbereitschaft, der Landes- und Bündnisverteidigung, im Auslandseinsatz, im personellen Aufwuchs, in der Beschaffung von Ausrüstung.
Auch übrigens als Akteur in der internationalen Verteidigungsdiplomatie, die es uns ermöglicht, für Freiheit, Frieden und Konfliktlösung aus einer Position der Stärke zu agieren – ob durch NATO-Präsenz, durch Ertüchtigung oder Militärbeobachter.
Das alles tut die Bundeswehr schon jetzt.
Ich sage gleichzeitig mit Nachdruck: das Verteidigungsministerium allein kann nicht dafür sorgen, dass unsere sicherheits- und verteidigungspolitische Verlässlichkeit als Verbündeter gestärkt wird.
Das ist eine gesamtpolitische Aufgabe. So muss auch die langfristige Finanzlinie des Verteidigungshaushalts ein gemeinsames Anliegen einer Regierung sein.
Ich kann mir daher gut vorstellen, in kommenden Legislaturperioden dem Vorbild anderer europäischer Länder zu folgen, und ein Verteidigungsplanungsgesetz zu verabschieden, das die Finanzierung unserer Sicherheit überjährig und langfristig festschreibt.
Damit Sicherheit weniger Spielball der Konjunktur und kurzfristiger Stimmungsbilder ist, sondern als absolute Kernaufgabe des Staates stetig unterfüttert bleibt.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn wir über das Geld für unsere Sicherheit sprechen, dann tut auch hier ein realistischer und kritischer Blick gut – auf die Welt, wie sie ist.
Lassen Sie mich daher eine unangenehme Wahrheit aussprechen: Die Anforderungen an Deutschland steigen. Sie verändern sich qualitativ.
Eine Konsequenz daraus ist, dass wir daran unsere Planungen immer wieder messen müssen.
Früher haben wir vor allem aus der Not knapper Kassen heraus priorisiert. Heute müssen wir dies tun, weil eine sich schnell ändernde Weltlage das nötig macht. Was ist wichtiger als anderes? Was ist jetzt dringender? Wir werden das genau benennen. Nicht jeder wird mehr das bekommen, was er sich erträumt hat.
Mir kommt es dabei auch darauf an, dass wir uns dabei gut im Bündnis abstimmen. Wir bleiben Anlehnungspartner. Und wir dürfen nicht an unserer Fähigkeit zur Zusammenarbeit im Einsatz sparen.
Und natürlich dürfen wir erst Recht nicht an der Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten sparen!
Das führt mich zu einem zentralen Punkt: Ich werde einer Finanzierung von Großprojekten zu Lasten der Grundausstattung und der Mittel des täglichen Betriebs nicht zustimmen.
Diesen Fehler hat die Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten gemacht und er hat die Streitkräfte bis ins Mark getroffen. Das darf sich nicht wiederholen.
Neue Großprojekte, so attraktiv sie scheinen und so schön es wäre, die damit versprochenen Fähigkeiten zu haben, können nur dann realisiert werden, wenn dafür in der Finanzplanung zusätzliches Geld bereitgestellt wird – oder wenn andere Großprojekte dafür nicht realisiert werden.
Deswegen bin ich froh, dass wir uns in den aktuellen Haushaltsverhandlungen darauf einigen konnten, einigen dieser Projekte bereits eine mittelfristige Finanzperspektive zu geben:
Das ist gut für die Truppe, verlässlich gegenüber unseren Verbündeten, fördert europäische Eigenständigkeit, industrielle Fähigkeiten und Technologie, und es ist gelebte Gesamtverantwortung in der Bundesregierung und im Parlament.
Liebe Studierende,
einige von Ihnen sind bereits Offizier, einige von Ihnen sind noch Offiziersanwärter. Sie alle werden schon bald die Geschicke unserer Bundeswehr mitbestimmen.
Sie haben sich bewusst für einen anspruchsvollen Weg in einer dienenden Funktion entschieden. Nicht wenige von Ihnen werden einmal für das strategische Geschick dieses Landes mitverantwortlich sein.
Sie haben es sicher bereits bemerkt: Große, komplexe Organisationen wie die Bundeswehr neigen durchaus dazu, sich mit sich selbst zu befassen.
Auch in Deutschland und Europa gibt es den Hang dazu, während sich die Welt gleichzeitig rasant wandelt und andere sie nach ihren Vorstellungen gestalten – und auch in unserer direkten Nachbarbarschaft Fakten schaffen.
Meine Damen und Herren,
Wir müssen gemeinsam in die Welt hinausblicken, statt nur auf uns selbst. Mein Anspruch ist es – unser Anspruch muss es sein – dass Deutschland und Europa die eigene Nachbarschaft und die globale Ordnung aktiv mitgestalten.
Dass wir konsequent im Blick haben, welche Interessen wir haben, wie wir ihnen dienen, welche Ziele in der Welt wir verfolgen und wie wir in der Zusammenarbeit mit anderen dort hingelangen.
Ich wünsche mir, dass Sie diesen Blick früh einüben, ihn stetig weiten, und ihn nie mehr verlieren, ganz gleich auf welcher Ebene sie gerade eingesetzt sind, vom jungen Truppenführer bis hin zur militärpolitischen Ebene.
Dafür braucht es Ihre Neugier und Offenheit und unsere Angebote zur geopolitischen und geostrategischen Schulung.
Genau hier möchte ich mit einer Initiative ansetzen, deren Ziel es ist, diesen Blick, also die geopolitische und geostrategische Schulung der Soldatinnen und Soldaten, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr zu stärken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Soldatinnen und Soldaten gehören zu Deutschland nicht nur als Angehörige einer Institution oder eines Verfassungsorgans.
Männer und Frauen in Uniform gehören selbstverständlich überall in der Gesellschaft dazu. Nirgendwo wird das aktuell sichtbarer als bei der Hilfe, die Soldatinnen und Soldaten in der Corona-Pandemie leisten.
Mehr als 7.700 Angehörige der Bundeswehr helfen derzeit in rund 280 Gesundheitsämtern, in vielen Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen deutschlandweit. Es werden weiter mehr.
Die Soldatinnen und Soldaten sind da für unser Land, und die Bürgerinnen und Bürger nehmen das wahr.
Die Männer und Frauen in Uniform gehören auch als Staatsbürger zu dieser Gesellschaft, als Nachbarn und als Mitmenschen. Sie haben sich dazu verpflichtet, im Fall der Fälle mehr für diese Gemeinschaft zu geben als andere.
Wer verspricht, unser Land und unsere Demokratie tapfer zu verteidigen, auch unter Einsatz seiner Gesundheit oder gar seines Lebens, dem gebührt besonderer Respekt.
Meine Damen und Herren,
Der Namensgeber Ihrer Universität, Helmut Schmidt, hat einmal geschrieben:
„Ich bin der Meinung, dass die Probleme der Welt und der Menschheit ohne Idealismus nicht zu lösen sind. Gleichwohl glaube ich, dass man zugleich realistisch und pragmatisch sein sollte.“
Ich wünsche Ihnen bei Ihrem Weg durch die Bundeswehr, dass diese gesunde Mischung aus Idealismus und Realismus für Sie zum Maßstab wird, und dass Ihnen die Balance zwischen beiden immer gut gelingt.
Jetzt ich freue mich auf Ihre Fragen und unsere Diskussion.
Vielen Dank.
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