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Titel: Risiken und Nebenwirkungen, aber keine Packungsbeilage. Die Corona-Eindämmung droht mehr Leid zu verursachen, als sie verhindert.
Datum: 20. November 2020 um 9:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Vorbemerkung der NachDenkSeiten-Redaktion: Weil die Folgen der Corona-Maßnahmen offensichtlich nicht im Blick der politisch entscheidenden Personen sind, haben wir auf den NachDenkSeiten am 22. Oktober unter der Überschrift „Die im Dunkeln sieht man nicht“ um Erfahrungsberichte unserer Leserinnen und Leser gebeten. Diese haben wir dann am 26. Oktober und am 10. November dokumentiert. Die Erfahrungsberichte und einschlägige NachDenkSeiten-Artikel zu den Risiken und Nebenwirkungen vom April und Juni werden demnächst in einer gedruckten Dokumentation erscheinen. – Ralf Wurzbacher hat zum Thema der Folgen eine sehr informative Ergänzung geschrieben, die wir hiermit veröffentlichen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Risiken und Nebenwirkungen, aber keine Packungsbeilage. Die Corona-Eindämmung droht mehr Leid zu verursachen, als sie verhindert.
Mit dem harten Lockdown im Frühjahr und seiner „Light“-Neuauflage im November bewahrt die Politik Menschen vorm Sterben und das Gesundheitssystem vorm Kollaps, heißt es. An der Ansage und der Art ihrer Umsetzung kann man zweifeln. Unstrittig ist dagegen, dass die verhängten Maßnahmen erhebliche Folgeschäden provozieren, die die Bundesregierung niemals auf dem Zettel hatte. Das gilt für Deutschland, für die Armenhäuser dieser Welt aber noch viel mehr. Ein Toter weniger bei uns lässt sich mit etlichen Hungertoten anderswo aufrechnen. Oder man lässt es bleiben und hüllt sich wie die politisch Verantwortlichen dazu in Schweigen. Die NachDenkSeiten liefern an dieser Stelle einen Überblick zum „blinden Fleck“ der Corona-Krise.
Scheinbar kleine Eingriffe in ein System zeitigen mitunter katastrophale Folgen. 1958 ordnete Chinas Kommunistische Partei die kollektive Ausrottung von Sperlingen als Beitrag zur landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung an. Die Vögelchen waren verrufen, beträchtliche Teile der Ernte wegzupicken. Ergo wurden in einer nationalen Kraftanstrengung binnen kurzer Zeit bis zu zwei Milliarden der gefiederten „Volksfeinde“ per Lärmattacke zur Erschöpfung gehetzt und erschlagen. Nicht bedacht hatte die Staatsführung, dass Spatzen die natürlichen Fressfeinde von Insekten sind, darunter Heuschrecken. Diese vermehrten sich umgehend und ungehindert und fielen in Massen über die Felder her. Die Folge war ein humanitäres Desaster mit Dutzenden Millionen Hungertoten.
Ein Eingriff in eine gewachsene Ordnung ist fraglos auch die hierzulande und nahezu weltweit praktizierte Strategie zur Eindämmung des Sars-Cov-2-Virus. Die getroffenen Maßnahmen – wie Kontaktbeschränkungen, Quarantäne, Isolation von „Infizierten“, Alten und Kranken, „Berufsverbote“, Schließung von Schulen, Universitäten, Kultureinrichtungen, Restaurants und Kneipen, Maskenpflicht und das Außerkraftsetzen von Grund- und Freiheitsrechten – sind weitreichend und treffen ein empfindliches gesellschaftliches Gefüge ins Mark. Ob und inwieweit dies alles im Lichte des erklärten Ziels zu rechtfertigen ist, vor allem ältere Menschen vorm Sterben zu bewahren und das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, haben die NachDenkSeiten wiederholt problematisiert.
Zu Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Unternehmung an sich kommen noch solche an der Umsetzbarkeit. Hingewiesen sei auf eine jüngst im „New England Medical Journal“ publizierte Studie, die sich mit einem Fall von Corona-„Bekämpfung“ unter militärischer Aufsicht beschäftigt. Dabei wurden über 3.000 Rekruten der US-Marine in einer großangelegten Versuchsanordnung einer zunächst zweiwöchigen strikten Quarantäne zu Hause unterzogen. Daran anschließend wurden sie 14 Tage unter strengsten Hygienevorschriften, Distanzregeln, Maskenpflicht und Vorgaben zur Kontaktminimierung einkaserniert und dabei penibel überwacht. Das Resultat nach einen Monat: Sowohl unter den anfangs negativ getesteten Soldaten als auch denen ohne Vorabtest zeigte sich am Ende eine Positivrate um den Dreh von zwei Prozent. Das besagt entweder, dass die Vermeidung einer Einschleppung und Übertragung des Erregers praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist oder der gängige PCR-Test nicht die behauptete Verlässlichkeit bietet. So oder so versieht das Ergebnis die herrschende Eindämmungspolitik mit einem dicken Fragezeichen.
Dies gilt um so mehr, fragt man nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel, also danach, in welcher Relation die möglichen „Gewinne“ zu den „Verlusten“ eines Vorgehens stehen, das einem unsichtbaren Erreger mit Verboten, Disziplinierung, Bestrafung und dem Erzeugen von Angst beizukommen versucht. Um dabei zu einer Einschätzung zu gelangen, muss der Blick notwendig auch über den nationalen Tellerrand hinausgehen. Zum Beispiel hat die UNICEF Mitte September vorgerechnet, dass infolge des durch den quasi globalen Lockdown im Frühjahr provozierten ökonomischen Zusammenbruchs zusätzlich 150 Millionen Kinder in Armut gestürzt wurden. Schon im Juli warnten Experten des Welternährungsprogramms WFP, durch die Corona-Krise könnten in diesem Jahr 130 Millionen Menschen zusätzlich von Hunger bedroht sein. Für den indischen Subkontinent konstatierte im August die State Bank of India, je nach Bundesstaat werde die Wirtschaftskrise vier- bis zwanzigmal so viele Tote fordern wie die Krankheit Covid-19. In ärmeren Regionen wie Uttar Pradesh stünden pro 1.000 Einwohnern 0,16 Covid-19-Tote statistisch 3,41 ökonomisch bedingte Todesopfer gegenüber.
Aber auch in Deutschland selbst deutet vieles und immer mehr darauf hin, dass allein schon das mit dem ersten Shutdown angerichtete Leid ein Ausmaß erreichen könnte, das den Nutzen, gemessen an den womöglich geretteten Menschenleben, mindestens auf lange Sicht übersteigen wird. Da wären etwa die in großem Stil aufgeschobenen Operationen, um Kapazitäten für Corona-Patienten freizuhalten, die gar nicht in der vorhergesagten Größenordnung in die Kliniken drängten. Oder die Sterbenden in den Alten- und Pflegeheimen, die ihre letzten Wochen, Tage und Stunden ohne ihre Angehörigen verbringen mussten. Dazu kommen Hunderttausende Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder Lohneinbußen hinnehmen mussten, zahllose Soloselbstständige, Kulturschaffende und Kleinunternehmer, die vor dem Ruin stehen. Sie alle ließ die Bundesregierung praktisch ins offene Messer laufen, weil sie die möglichen Folgeschäden ihrer Politik schlicht nicht bedacht hat.
Im Mai war ein Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums (BMI) gefeuert worden, nachdem er Interna des Corona-Krisenstabes enthüllt hatte. In seinem mit Ärzten und Wissenschaftlern erstellten Papier beklagte er, „die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in Rechte von z. B. Bürgern ist derzeit nicht gegeben, da staatlicherseits keine angemessene Abwägung mit den Folgen durchgeführt wurde“. An anderer Stelle urteilte er über die Inhalte einer „Zwischenbilanz der Bundesregierung“: „In dem 22-seitigen Bericht gibt es an keiner Stelle eine Beschreibung der Gefahren und auch keinerlei Dokumentation einer systematischen Abwägung von Maßnahmen mit ihren Nebenwirkungen.“ In einem früheren Schreiben vom März an seine Vorgesetzten hielt er fest: „Es erscheint derzeit so, als würden wir unser Gemeinwesen zerlegen, um Schlimmeres zu verhindern. Aber was kann es Schlimmeres geben, als dass unser Gemeinwesen zerlegt ist?“
Die Frage stellt sich heute um so dringlicher, als ein Ende des „Notstands“ nicht absehbar ist und die Folgeschäden mit jedem Tag größer werden. Die NachDenkSeiten wollen diese medial ziemlich unbehelligte Kehrseite der Corona-Maßnahmen aus ihrem Schattendasein befreien. An die NachDenkSeiten-Dokumentation „Die im Dunkeln sieht man nicht“ anknüpfend folgt hier eine Zusammenstellung von Studien, Analysen und Verlautbarungen diverser Verbände, die sich mit schon eingetretenen oder noch drohenden medizinischen „Kollateralschäden“ befassen. Die zugrundeliegende Recherche liefert nicht mehr als eine Momentaufnahme ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Auch konnte nicht jede der Quellen auf ihre Validität, wissenschaftliche Redlichkeit und darauf geprüft werden, welche Interessen jeweils hinter der Veröffentlichung stehen könnten.
Nach einem Bericht der britischen Statistikbehörde ONS vom Oktober könnten in Großbritannien als mögliche Folge der Corona-Maßnahmen 26.000 Menschen mehr als im Langzeitdurchschnitt üblich zu Hause zu Tode gekommen sein. Erklärt werden die Zahlen damit, „dass möglicherweise weniger Menschen im Krankenhaus behandelt wurden“. Demnach starben insbesondere Männer häufiger als sonst üblich dann zu Hause, wenn sie an Herzkrankheiten litten. Bei Frauen seien Demenz und Alzheimer die unbehandelten Erkrankungen gewesen, die zum Tod im Privathaushalt führten. Dagegen sind den Angaben zufolge weniger Menschen an besagten Krankheiten in den Krankenhäusern verstorben.
Wie die italienische Statistikbehörde Istat am 4. Mai berichtete, ging die bis dahin in Italien gemessene Übersterblichkeit nur etwa zur Hälfte auf das Konto von Covid-19. Von den damals gezählten rund 25.000 Toten mehr im Vergleich zum Jahr 2019 waren demnach 13.710 oder 54 Prozent positiv auf Sars-Cov-2 getestet worden. Woran die restlichen über 11.000 Menschen starben, wird in dem fraglichen Report nicht aufgeführt.
Für Aufsehen sorgt hierzulande eine aktuelle Studie des Klinikums Hochrhein im Landkreis Waldshut in Baden-Württemberg. Dort sind in den Vorjahren im April bei 165.000 Einwohnern durchschnittlich 165 Menschen verstorben. In diesem Jahr waren es 227, was einer Übersterblichkeit von 37 Prozent entspricht. Wie aus der noch nicht durch das Gutachterverfahren gelaufenen Untersuchung hervorgeht, lassen sich 34 (55 Prozent) der 62 zusätzlichen Todesfälle mit Corona in Verbindung bringen, die restlichen 28 Fälle gehen auf andere Ursachen zurück. Wie Studienautor Stefan Kortüm, Chefarzt der Notaufnahme, gegenüber der Presse darlegte, stehe fast die Hälfte der Übersterblichkeit „im Zusammenhang mit der reduzierten Nutzung medizinischer Notfallstrukturen“. Vor allem Menschen „mit akuten Verschlechterungen chronischer Krankheiten, etwa Lungen- oder Herzkrankheiten, aber auch Tumorerkrankungen, haben in diesem Zeitraum keine medizinische Hilfe gesucht“. Besonders tragisch: Mehr als doppelt so viele Menschen wurden leblos alleine aufgefunden.
Auf Warnungen von Menschenrechts- und Hilfsorganisationen vor massiv steigenden Opferzahlen wegen Armut und Hunger als Konsequenz der monatelang gekappten globalen Lieferketten wurde schon eingangs hingewiesen. Dazu passend haben diverse zivilgesellschaftliche Netzwerke Mitte September eine Umfrage mit dem Ergebnis durchgeführt, dass im kommenden Jahr allein 525.000 durch Tuberkulose verschuldete Todesfälle mehr als üblich verzeichnet werden könnten. Der Informationsdienst AlphaGalileo schrieb dazu, Maßnahmen und Richtlinien, die zur Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 auferlegt wurden, hätten Menschen mit Tuberkulose in Armut und soziale Isolation getrieben und die Ungerechtigkeiten und Hürden bei der Bereitstellung von Versorgungsdiensten verstärkt. Durch die Corona-Krise und ihre Folgen würden „zehn Jahre Fortschritt im Kampf gegen die Geißel“ zunichtegemacht.
Nach einer aktuellen Studie der Deutschen Depressionshilfe hat jeder zweite an Depression Erkrankte im ersten Lockdown „massive Einschränkungen in der Behandlung seiner Erkrankung erlebt“. Wie es im „Deutschland-Barometer Depression“ heißt, hätte jeder zweite der Befragten von ausgefallenen Behandlungsterminen beim Facharzt oder Psychotherapeuten berichtet, jeder zehnte von einem geplatzten Klinikaufenthalt. Zudem hätten die Betroffenen die Zeit „als deutlich belastender“ erlebt als der Durchschnitt der Bevölkerung. So litten diese „fast doppelt so häufig unter der fehlenden Tagesstruktur“, in der häuslichen Isolation blieben sie zudem „deutlich häufiger tagsüber im Bett“, was ihr Leiden in aller Regel verschlimmert.
In einem Interview mit dem „Deutschen Ärzteblatt“ vom 21. Oktober warnte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Andreas Heinz, vor erheblichen psychischen Belastungen infolge der Corona-Maßnahmen sowie einer Überforderung der Selbstheilungskräfte. „Die Gefahr ist, dass schwer kranke Patienten den Verzicht auf den persönlichen Kontakt nicht lange aushalten“, gab Heinz zu bedenken. Er verwies auf Forschungsbedarf hinsichtlich der Frage, wie sich Isolation und Quarantäne psychosozial auswirken, gerade für ältere und hochbetagte Menschen, und wie sich soziale Ungleichheit unter Pandemiebedingungen verschärft. Auch zu Aspekten wie dem Auftreten von Psychosen, Somatisierung, Suizidalität, Substanzmissbrauch, Computerspielsucht oder Veränderungen im Sozialverhalten (Aggressivität und Reizbarkeit) lägen „bisher zu wenige Erkenntnisse“ vor.
Aber auch psychisch stabile Menschen leiden unter der gesteigerten Aufgeregtheit in der Corona-Krise, was ohne Frage auch auf die politisch und medial geschürte Panik durch das undifferenzierte Hantieren mit Fall- und Todeszahlen zurückzuführen ist. So haben Forscher für Neuseeland herausgefunden, wo zeitweilig ein deutlich strengerer Shutdown als in Deutschland herrschte, dass seinerzeit ein Drittel der Befragten unter psychischen Stress litt. Nach Auskunft von Susanna Every-Palmer, Leiterin der Abteilung für Psychologische Medizin an der Universität von Otago in Wellington, berichteten 30 Prozent über mäßige bis schwere psychische Belastungen. 16 Prozent klagten über moderate bis starke Angstzustände, während rund 40 Prozent angaben, ihr Wohlbefinden sei insgesamt gering.
Gemäß einer Vorauswertung der sogenannten NAKO-Gesundheitsstudie hat sich die mentale Gesundheit vieler Menschen in Deutschland durch den Lockdown im Frühjahr verschlechtert. Angst, Stress und Anzeichen von Depressionen hätten deutlich zugenommen. Besonders groß sei die psychische Belastung in der Altersgruppe der 20- bis 40-Jährigen gewesen, darunter vor allem bei Frauen bis Ende 30, während die Forscher bei den über 60-Jährigen keine relevanten Ausschläge nach oben registriert haben. Die Untersuchung ist auf mehrere Jahrzehnte angelegt und wird von einem Netzwerk deutscher Forschungseinrichtungen wie der Helmholtz-, der Leibniz-Gemeinschaft und diversen Universität durchgeführt.
Nach einer Erhebung des Fachjournals „Medscape“ vom 10. November sind es vermehrt auch Ärzte, die auf die anhaltende Pandemie mit Anzeichen von Überforderung in Form von Depressionen und Burnout reagieren. So hätte jeder zweite Befragte angegeben, dass sich das Gefühl von Überlastung und schlechter Stimmung durch die Krise verstärkt hat. „Genau wie alle anderen Menschen weltweit plagt Ärzte die Verunsicherung über die ständig veränderten Verhaltensregeln und Arbeitsabläufe“, schrieb das Magazin. „Die Zukunft ist unsicher. Das Vertrauen auf einen Impfstoff als Allheilmittel gegen die Pandemie ist wahrscheinlich zu naiv gedacht. Das verursacht Psychostress.“
Ein Team des University College London hat die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeitsempfindungen untersucht, wie sie viele, gerade ältere Menschen aufgrund der zum Zweck der Viruseindämmung getroffenen Isolierungsmaßnahmen durchleben. Nach den Befunden der Langzeitstudie steigt mit dem Alleinsein das Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko (CVD) deutlich. „Der Anstieg um ein Punkt auf der Einsamkeitsskala ging mit einer Erhöhung des Risikos einer CVD um fünf Prozent einher“, fasste das „Deutsche Ärzteblatt“ die Ergebnisse zusammen. Das Risiko einer Klinikaufnahme wegen einer kardiovaskulären Erkrankung stieg demnach mit jedem höheren Punkt um acht Prozent. Die Zeitung zitierte den Kardiologen Hans-Joachim Trappe mit den Worten: „Menschen jeden Alters sollten deshalb, auch in den schwierigen ‚Coronazeiten‘, versuchen, soziale Kontakte zu pflegen, sich zu beschäftigen und mit anderen Menschen zu kommunizieren.“
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte eine im Mai vorgelegte Studie des Universitätsklinikums Essen. Sozial isolierte Menschen erleiden danach mit über 40 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit einen Herzinfarkt, Schlaganfall oder eine andere größere Herz-Kreislauferkrankung. Darüber hinaus sei die Gefahr, an irgendeiner anderen Krankheit zu sterben, bei sozial isolierten Menschen um fast 50 Prozent höher.
Eine „Epidemie der Einsamkeit“ durch Kontaktverbote und Abstandsregeln befürchtet der Hamburger Erziehungswissenschaftler und Zukunftsforscher Horst Opaschowski. Seit den „Bleib-zu-Hause”-Empfehlungen der Politik wohnen und leben immer mehr Menschen in Deutschland „allein daheim“, sagte Opaschowski dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND). Zum Beleg verwies er auf eine Umfrage von Mitte März dieses Jahres, als der Lockdown begann. Dabei vertraten 84 Prozent die Ansicht: „Für viele ältere Menschen wird in Zukunft die Kontaktarmut genauso belastend wie die Geldarmut sein.“ In einer früheren Befragung im Januar 2019 hatten dies lediglich 61 Prozent geäußert.
In besagtem RND-Beitrag wird ferner berichtet, dass die Hamburger Telefonseelsorge in der ersten Phase der Pandemie zwischen Mitte März und Mitte Mai 25 bis 30 Prozent mehr Anrufe erhalten hat als sonst. „Viele Anrufe sind Ausdruck tiefer Einsamkeit von Menschen“, befand dazu Stefan Deutschmann vom Diakonischen Werk der Hansestadt. Bundesweit hätten die rund 100 von den beiden großen Kirchen getragenen Telefonseelsorgestellen eine ähnlich große Zunahme der Gesprächskontakte verzeichnet, schrieb RND. Ende Oktober beschied Ralf Meister, Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, gegenüber der Zeitung „Die Welt“: „Ja, das alte Problem der Einsamkeit zu Weihnachten droht in diesem Jahr zu eskalieren.“
Die Deutsche Krebshilfe hatte schon im Sommer beklagt, dass durch den ersten Lockdown im Frühjahr zwischen März und Juli rund 50.000 Krebsoperationen vertagt worden waren. Das entsprach fast einem Viertel der Behandlungen, außerdem seien Vorsorgeuntersuchungen wie etwa Mammografien ausgefallen. Dadurch schöben die deutschen Kliniken und Arztpraxen eine „Bugwelle von verschobenen therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen“ vor sich her, was zu lebensbedrohlichen Situationen für manchen Patienten führen könne, monierte seinerzeit Verbandschef Gerd Nettekoven.
In einer früheren Mitteilung vom Juni wiesen die Deutsche Krebshilfe und der Bundesverband „Haus der Krebs-Selbsthilfe“ (HKSH) zudem auf die finanziellen Nöte von Krebspatienten hin, die sich durch die Krise noch verschärft hätten. Dies betreffe vor allem Menschen, die wegen Kurzarbeit oder aufgrund einer bereits erfolgten Kündigung Angst um ihr Auskommen haben“, erklärte seinerzeit Ernst-Günther Carl, Bundesvorsitzender HKSH. „Wir gehen davon aus, dass derartige Anfragen erheblich zunehmen werden, sobald sich die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie deutlicher abzeichnen.“
Mit Blick auf den ersten Lockdown berichteten im Oktober im Fachjournal „Medscape“ Ärzte aus verschiedenen Ländern von erheblichen Einschränkungen im Bereich der Krebsbehandlungen und dem damit verbundenen Verlust von Menschenleben. Karol Sikora von der University of Buckingham Medical School in London sagte: „Die Krebsdiagnostik kam praktisch zum Stillstand, zum Teil, weil die Patienten keine Hilfe suchten, aber es war auch sehr schwierig, überhaupt Scans und Biopsien zu bekommen. Sogar Patienten, die unter der ‚Zwei-Wochen-Wartezeit-Regel‘ eine Dringlichkeitsüberweisung hatten, wurden abgelehnt.“ Benjamín Domingo Arrué vom Hospital Universitari i Politècnic La Fe in Valencia in Spanien bemerkte: „Ich glaube, dass die von uns übermittelte Botschaft ‚Bleib zu Hause‘ von den Patienten, die viel früher in die Notaufnahme hätten kommen sollen und die deshalb mit einem viel schlechteren Allgemeinzustand eingeliefert wurden, zu rigoros befolgt wurde.“
Eine Modellstudie des britischen Gesundheitsdienstes National Health Service, über die „Medscape“ im Juli berichtete, deutet darauf hin, dass verzögerte Dringlichkeitsüberweisungen mit Verdacht auf Krebs zu Tausenden von zusätzlichen Todesfällen und Zehntausenden verlorenen Lebensjahren führen werden. Im Falle anhaltender Maßnahmen von „Social Distancing“ für einen Zeitraum von zwölf Monaten prognostizieren die Forscher je nach Krebstyp zusätzliche Opferzahlen im Umfang von 4,8 bis 16,7 Prozent gegenüber „Normalzeiten“ innerhalb der kommenden fünf Jahre. Für das Vereinigte Königreich entspräche das dem Verlust von bis zu 63.229 Lebensjahren.
Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft leiden Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen durch die Einschränkung sozialer Kontakte besonders unter der Pandemie. Während des Lockdowns im Frühjahr wären viele Unterstützungsmöglichkeiten, wie etwa Tagespflegen, weggebrochen, hatte Verbandschefin Monika Kraus im September gegenüber dem „Deutschen Ärzteblatt“ beklagt. Michael Rapp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DGGPP) äußerte, dass die Kohorte an Demenzkranken, die jetzt in Pflegeheimen leben, einen deutlichen Verlust an Lebensqualität und ein schnelleres Fortschreiten der Erkrankung erfahren werden. „Das Weglassen einer Therapie bedeutet den Verlust ihrer Wirksamkeit, speziell über drei, sechs oder mehr Monate.“ Gelitten habe auch die Forschung. So seien klinische Untersuchungen von Patienten unterbrochen, Forschungsprojekte gestoppt und der Ambulanzbetrieb massiv heruntergefahren worden.
Die im Zuge der Corona-Krise aufgetretenen Leiden und Probleme gesundheitlicher, sozialer und finanzieller Art könnten vermehrt auch in suizidalen Handlungen münden, warnen Experten. Für Deutschland lässt sich dies bisher nicht statistisch festmachen. Zahlen aus Frankfurt (Main) deuten sogar auf einen Rückgang der Selbstmorde in der ersten Jahreshälfte hin, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ berichtete. Allerdings ist die entsprechende Datenlage nicht repräsentativ und auch sonst ist das Thema mit vielen Unsicherheiten behaftet. So lässt sich vermuten, dass die Zahl der Selbsttötungen im Zusammenhang mit Corona zunehmen könnte, wenn die Notlagen sich weiter verlängern, etwa weil Menschen langfristig in Arbeitslosigkeit und Armut haften bleiben oder mit ihrem Unternehmen bankrott gehen.
Wie eine Studie der Technischen Universität München (TUM) zeigt, sind Menschen mit psychischen Vorbelastungen während der Krise besonders stark suizidgefährdet. Im Untersuchungszeitraum 2020 hatten 49 von insgesamt 231 psychiatrischen Fällen einen Bezug zu Covid-19. Sie litten an akuten Verwirrtheitszuständen, Einsamkeit, Angst vor einer Infektion mit Covid-19 oder Belastungen durch Ausgangsbeschränkungen. Davon unternahmen elf einen Suizidversuch, womit der Anteil an Selbstmordversuchen mit 22 Prozent im Vergleich zu Patienten ohne Anamnese einer Covid-Belastung (sechs Prozent) signifikant erhöht gewesen sei, resümierte Ende Juli das Medizinerportal Univadis.
In der Auslandspresse finden sich aber sehr wohl Anhaltspunkte für eine gestiegene Zahl an Selbsttötungen. So schrieb etwa der US-Nachrichtensender ABC im Mai von einem dramatischen Anstieg der Selbstmorde und Selbstmordversuche. „Das ist ohne Beispiel. Wir haben noch nie solche Zahlen in einer so kurzen Zeitspanne gesehen“, befand Mike DeBoisblanc, Leiter der Notaufnahme des Krankenhauses in Walnut Creek in der Nähe von San Francisco, und weiter: „Ich meine, wir haben in den letzten vier Wochen Suizidversuche in einem Umfang sonst wie in einem ganzen Jahr erlebt“.
Der Rechtsmediziner Michael Tsokos von der Berliner Charité hat im Zusammenhang mit Corona gar ein neues Selbstmordmotiv ausgemacht. „Nämlich, dass Menschen aus Angst vor dem Tod den Tod als Ausweg wählen.“ Das kenne er bisher weder von HIV noch von Krebs- oder Influenzaerkrankungen“, bekundete der Arzt schon im Mai gegenüber dem „Focus“. Konkret berichtete er von seinen Erfahrungen mit acht derartigen Todesfällen. „Das Tragische ist, dass diese Menschen, die wir untersucht haben, ja auch gar nicht an Covid-19 erkrankt waren.“
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