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Titel: Bolivien – Nach monatelanger Ermittlungsbehinderung der Senkata- und Sacaba-Massaker sitzt De-facto-Präsidentin Jeanine Añez auf der Anklagebank
Datum: 3. November 2020 um 15:33 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Ein Jahr nach den Massakern von Sacaba und Senkata steht die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez vor Gericht. Was geschah am 11. und 19. November 2019 bei Cochabamba und La Paz? Ein Bericht von unserem Südamerika-Korrespondenten Frederico Füllgraf.
Nach umstrittenen und bald widerlegten Vorwürfen von „Wahlfälschung“ durch die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS/OEA), unter dem Druck meuternder Polizei und der Androhung eines Militärputsches trat Präsident Evo Morales am 11. November 2019 zurück und begab sich nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Mexiko Mitte Dezember ins argentinische Exil.
Wenige Tage darauf wurden am 15. November im Distrikt Sacaba, nahe Cochabamba, mindestens 11 Zivilisten getötet und weitere 120 verletzt. Weitere vier Tage später wurden am 19. November in Senkata, bei der oppositionellen Hochburg El Alto und nahe der Hauptstadt La Paz, weitere 11 Zivilisten getötet und 78 verletzt. Am 10.12.2019 verurteilte die zur OAS gehörende Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (IACHR/CIDH) nachdrücklich die Massaker und „empfahl“ eine internationale Untersuchung der verheerenden Menschenrechtsverletzungen von Sacaba und Senkata.
Aus Hubschraubern niedergemäht
In beiden Fällen handelte es sich um Protestaufmärsche der Parteibasis der bis dahin regierenden „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS). Im Fall Sacaba versuchten tausende von mit der MAS sympathisierenden Koka-Bauern in die Stadt Cochabamba einzumarschieren, um gegen den Sturz von Evo Morales zu protestieren. Die Polizei blockierte jedoch die Zufahrtswege, schoss erbarmungslos in die Menge und strickte eine Farce, wonach die Morales-Anhänger im Besitz großer Mengen Geld, Schusswaffen und Sprengstoff gewesen seien, um „terroristische Attentate“ zu verüben.
Im Fall Senkata wiederholte sich das gleiche Strickmuster. Demonstranten hatten ihrerseits die Zufahrt zum staatlichen Gasvertriebswerk (YPFB) blockiert. Auf neue Anweisung der De-facto-Regierung Jeanine Añez versuchte die Polizei, die Blockade zu brechen. Aus der Luft wurde sie von Militärhubschraubern unterstützt, aus denen brutal auf die Demonstranten am Boden mit schwerkalibrigen Militärwaffen gefeuert wurde.
Zur Begründung die zweite Farce: Añez‘ rechtsradikaler Kabinettschef Arturo Murillo beeilte sich mit der zynischen Unterstellung, die erschossenen Demonstranten seien „mit Schrotflinten, Kugeln vom Kaliber 22 und Dynamit von ihren eigenen Kameraden“, also als Folge einer „Vendetta“, getötet worden. Zur Erhärtung der Darstellung zog Generalstaatsanwalt Juan Lanchipa Gutachten des Instituts für forensische Untersuchungen (IDIF) heran, wonach bei „Angriffen“ auf das Gasvertriebswerk in Senkata Molotow-Cocktails und Dynamit verwendet wurden, um die Anlage „in die Luft zu jagen“.
„Sie schossen auf uns, so wie man Tiere umlegt“
Die „Empfehlung“ der konservativen OAS-Menschenrechtskommission blieb monatelang ein frommer Wunsch und löste ein diplomatisches Säbelrasseln im ultrakonservativen Regierungslager aus. Dort wurde die Verwendung des Wortes „Massaker“ als Teil einer angeblichen „Desinformations- und Fake-News-Kampagne“ verschrien. Der Bericht sei „voreingenommen“ und „beschämend“. Minister Arturo Murillo verstieg sich zu verschwörungstheoretischen Pleonasmen. Der Bericht „widerspiegelt nicht die Realität“ und begünstige nur „den Narkoterrorismus“.
Ende Juli 2020 vollzog sich jedoch eine radikale Wende in den angeblichen Untersuchungen der bolivianischen Behörden, als die Harvard International Human Rights Clinic (IHRC) den Bericht „They Shot Us Like Animals“: Black November & Bolivia’s Interim Government („Sie haben uns wie Tiere erschossen“) vorlegte. Der 92 Seiten umfassende Bericht beruht auf sechsmonatigen, unabhängigen Untersuchungen vor Ort in Bolivien, während denen mehr als 200 Opfer, Augenzeugen, Journalisten, ferner Polizei und Militärbeamte, die an den Einsätzen in den Putschtagen beteiligt waren, interviewt wurden.
Die Autoren des Berichts attestieren der Putschregierung Jeanine Añez „eine der tödlichsten und repressivsten Perioden in Bolivien in den letzten Jahrzehnten sowie die wachsende Angst indigener Gemeinschaften und regierungskritischer Menschen, dass ihr Leben und ihre Sicherheit in Gefahr sind“. „Wir haben unglaubliche Muster von Menschenrechtsverletzungen ermittelt, seit die Übergangsregierung die Macht übernahm“, erklärte Thomas Becker, Jurist und einer der Autoren des Harvard-Berichts, und er befürchtete gar, „damit sei ein Umfeld geschaffen worden, das die Möglichkeit freier und fairer Wahlen untergraben hat“. Die unwidersprochene Akzeptanz von Luis Arces spektakulärem Wahlsieg am vergangenen 18. Oktober hat zumindest vorerst Beckers berechtigten Pessimismus zerstreut.
Der IHRC-Bericht, der das Niedermähen der Senkata-Opfer durch MG-Salven aus Hubschraubern des Militärs nachwies, blieb nicht ohne Folgen.
„Staatsterror“: De-facto-Präsidentin auf der Anklagebank
Zehn Monate nach seiner ersten Stellungnahme schwenkte der wegen Korruptionsvorwürfen seinerseits untersuchte Generalstaatsanwalt Lanchipa auf die Version der IHRC und der Opfer ein. Die Justizbehörden hätten „das Militärgeheimnis aufgehoben“ und den Streitkräften „befohlen“, der Staatsanwaltschaft ihren Einsatzplan vom 19. November 2019 auszuhändigen, erklärte Lanchipa.
In einem Untersuchungsbericht vom September 2020 mit dem Titel „Staatskrise, Verletzung der Menschenrechte in Bolivien“ erklärte daraufhin das Büro der bolivianischen Pflichtverteidiger, dass die Einsätze von Polizei und Militär in Sacaba und Senkata sehr wohl Massaker darstellten und dass die Regierung Jeanine Áñez wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich gemacht werden müsse. Einer der schweren Vorwürfe gegen die evangelikale Ex-Senatorin ist ihr Monate später wieder zurückgenommener Erlass 4.078 vom 15. November 2019, mit dem unter anderem Angehörige der bolivianischen Streitkräfte von der strafrechtlichen Verfolgung wegen Einsätzen zur Bekämpfung von Protesten befreit wurden.
Añez‘ Amtszeit endet am 8. November 2020, wenn der demokratisch gewählte Präsident Luis Arce die legitime Nachfolge von Evo Morales antritt. Indes beschloss am vergangenen 27. Oktober die gemischte Verfassungskommission des bolivianischen Parlaments (ALP) die Einleitung von zwei Klagen gegen die De-facto-Präsidentin. Die erste betrifft die Genehmigung des gemeingefährlichen Dekrets 4.078 und die zweite die mutmaßliche Begehung von Totschlag und Völkermord in Sacaba und Senkata.
Die Berichte der Harvard Clinic und des Menschenrechtsrats der UN (UNHRC) nennen vier Bereiche, „in denen die Behörden die Menschenrechte bolivianischer Bürger und von Ausländern verletzt haben“. Zum einen habe es sich um einwandfreie „staatliche Gewalt gegen Demonstranten“, insbesondere in Sacaba und Senkata gehandelt, bei denen die polizeiliche und militärische Unterdrückung von Demonstranten „eine direkte Verletzung des Rechts auf Leben“ darstelle. „Zeugen zufolge haben die Sicherheitskräfte an beiden Orten – ohne vorherige Warnung – das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffnet, einschließlich derer, die den Verwundeten geholfen haben“, warnt der Harvard-Bericht. Zweitens schlussfolgert die Untersuchung, dass es in Bolivien „an unparteiischen Ermittlungen und am Zugang zur Justiz mangelt“, ein Zustand, der erkläre, weshalb die Regierung ihren Verpflichtungen zur Aufklärung der Massaker noch nicht nachgekommen ist.
Das Team der Harvard Clinic beanstandete ferner „eine Vielzahl alarmierender Hindernisse, die erschöpfende Ermittlungen geschwächt haben, wie die Manipulation von Beweismitteln, Unregelmäßigkeiten bei Autopsien, eine überarbeitete und mittellose Staatsanwaltschaft, die Weigerung von Beamten, Informationen bereitzustellen sowie Drohungen gegen Zeugen.
Drittens stellt der Bericht fest, es herrsche eine „Jagd auf (MAS-) Dissidenten“. „Zeugen zufolge hat die Regierung von Áñez deren Rechte seit November 2019 weiter geschwächt. Einzelne Beamte haben Journalisten bedroht, Oppositionsmedien geschlossen, Aktivisten gefoltert und willkürlich festgenommen, oppositionelle Politiker mit vagen Anschuldigungen wie „Aufruhr“ und „Terrorismus“ verfolgt. Schließlich beklagt der Bericht viertens, dass seit November 2019 im Land eine Praxis der „bürgerlichen und parastaatlichen Gewalt“ herrsche, nämlich dass sich in Bolivien „einige Bürger in parapolizeilichen Überwachungsgruppen organisiert haben und mit Zustimmung des Staates polizeiliche Maßnahmen ergriffen haben, um Angriffe auf politische Gegner durchzuführen“.
Diesen Verfolgten, darunter eine Vielzahl von Familienangehörigen ermordeter Opfer, zollte Präsident Luis Arce am Allerheiligen-Feiertag einen Tribut mit bewegenden Szenen und versprach ihnen nun staatliche Unterstützung zur Findung der schuldigen Gerechtigkeit. „Das Volk hat unter den Diktaturen zu viel gelitten. Unsere Solidarität gilt den Familien, die ihre Lieben verloren haben, von denen viele noch vermisst werden. Viele bolivianische Männer und Frauen kamen bei der Verteidigung der Demokratie ums Leben“, erklärte Arce.
Titelbild: Radoslaw Czajkowski/shutterstock.com
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