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Titel: Stefania Maurizi zu Assange: “Das ist ein unglaubliches Versagen des Journalismus”

Datum: 3. November 2020 um 9:31 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Interviews, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medien und Medienanalyse
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Die italienische Investigativ-Journalistin Stefania Maurizi spricht über die Enthüllung geheimer Informationen, die Arbeit mit WikiLeaks und den Mut, den es braucht, um gegen mächtige Feinde vorzugehen. Von Nadja Vancauwenberghe und John Brown. Das Interview ist auf dem Medium „Exberliner“ erschienen, übersetzt wurde es von Ingrid Koschmieder.

Die italienische Journalistin Stefania Maurizi hat für einige der Top-Publikationen des Landes gearbeitet, darunter la Repubblica, l’Espresso und jetzt Il Fatto Quotidiano. 2009 begann sie, mit Julian Assange und WikiLeaks an Geheimakten über den Krieg in Afghanistan, die US-Diplomatendepeschen und Guantanamo-Häftlinge zu arbeiten. Darüber hinaus untersuchte sie streng geheime Akten, die von Whistleblower Edward Snowden durchgesickert waren. Dabei deckte sie u.a. schwerwiegende Fälle von Umweltverschmutzung in Italien und die Ausbeutung pakistanischer Arbeiter in einer Fabrik auf, die unter anderen von einem italienischen Unternehmen betrieben wurde.

Maurizi war Zeugin in den Auslieferungsanhörungen von Assange in den vergangenen Wochen. Während eine Londoner Richterin darüber nachdenkt, ob sie den WikiLeaks-Gründer an die USA ausliefern soll, sprachen wir mit ihr über ihre Erfahrung, sich mächtige Feinde zu machen, über das, was sie als Verleumdungskampagnen gegen WikiLeaks und diejenigen, die mit WikiLeaks arbeiten, bezeichnet – und darüber, warum Assange Berlin nie hätte verlassen dürfen.

Wie sind Sie mit WikiLeaks in Kontakt gekommen?

2008 arbeitete ich für eines der führenden italienischen Nachrichtenmagazine l’Espresso. Ich hatte bereits als investigative Journalistin gearbeitet, und als ich mir WikiLeaks-Publikationen wie das Guantanamo-Standard-Operating-Procedure-Dokument ansah, war ich wirklich beeindruckt. Das Dokument war von der American Civil Liberties Union angefordert worden und das Pentagon hatte den Zugang verweigert. WikiLeaks war in der Lage, das Dokument zu erhalten, und nicht nur das, sie hatten dem Pentagon auch gesagt, dass sie es nicht von ihrer Website entfernen würden. Für mich war das wirklich wichtig, denn dadurch wurde mir klar, wie viel Mut die Menschen hinter WikiLeaks hatten. Das war etwa zu der Zeit, als die New York Times Lügen über den Irak-Krieg veröffentlichte. Die Washington Post hat die Geschichte über die geheimen Gefängnisse der CIA veröffentlicht, aber sie hatte die Namen der osteuropäischen Länder, in denen sich die Gefängnisse befanden, nicht veröffentlicht, weil die Bush-Regierung darum gebeten hatte, dass sie nicht veröffentlicht werden sollten, und die CIA fortfuhr, Menschen in diesen geheimen Gefängnissen zu foltern.

Als mir klar wurde, dass es eine Medienorganisation gab, die nicht bereit war, dem Pentagon zu gehorchen, wusste ich, dass ich Kontakt aufnehmen musste, weil ich ihre Arbeit und ihren Mut mochte. Das tat ich und 2009 riefen sie mich mitten in der Nacht an und sagten: “Sie haben eine Stunde Zeit. Gehen Sie zu Ihrem Computer und laden Sie das Dokument herunter, andernfalls werden wir es entfernen. Sie baten mich, ihnen bei der Überprüfung zu helfen, ob das Dokument echt sei. Sie sagten, wenn es das wäre, könnte ich eine Untersuchung durchführen und mit WikiLeaks arbeiten. Ich ging zu meinem Computer und sah, dass es in dem Dokument um die Müllkrise in Neapel ging, ich verifizierte, dass es echt war und sicherlich im öffentlichen Interesse wegen der angeblichen Beteiligung des italienischen Geheimdienstes lag. Dies war das erste Mal, dass ich mit WikiLeaks zusammengearbeitet habe, und das habe ich seitdem immer getan.

Wie war der Verifizierungsprozess, als Sie mit WikiLeaks-Dokumenten gearbeitet haben?

Zunächst einmal müssen Sie begreifen, dass es eine völlige Lüge ist, dass WikiLeaks einfach Sachen ins Internet stellt. Ich habe an all ihren Dokumenten gearbeitet, abgesehen von den wenigen, die sie ohne Medienpartner veröffentlicht haben. In den meisten Fällen führen WikiLeaks ihren eigenen Verifizierungsprozess durch und die Medienpartner führen ihren parallel dazu durch. Wir tauschen Meinungen und Bedenken über die Authentizität eines Dokuments aus und wir haben uns noch nie geirrt. Wenn man für einen Medienpartner arbeitet, erhält man meistens so etwas wie 100.000 Dokumente und vielleicht fünf Millionen E-Mails. Sie durchsuchen diese Datenbanken nach winzigen Bits an Informationen und führen Ihren eigenen Überprüfungsprozess mit den klassischen journalistischen Techniken durch. Als wir zum Beispiel E-Mails über Stratfor erhielten, überprüften wir, ob alle Stratfor-Mitarbeiter die richtigen waren und ob die in den E-Mails beschriebenen Fakten der Wahrheit entsprachen. Wenn Sie diese Dinge falsch machen und Ihr Ruf geschädigt wird, ist es sehr schwer, ihn wiederherzustellen. Ihr Ruf ist Ihre Währung als Journalist.

Meistens will das Unternehmen, aus dem die Dokumente stammen, nicht kooperieren. Im Fall der undichten US-Diplomatendepeschen war es nicht schwierig, weil wir ein Team mit US-Kollegen hatten, die wussten, wie die Berichte geschrieben und redigiert werden. Diese Arbeit ist nur möglich, weil wir zusammenarbeiten. Bei den Guantanamo-Dateien arbeiteten wir mit der Washington Post, Le Monde und einem sachkundigen Guantanamo-Experten, Andy Worthington, zusammen. Ich glaube, WikiLeaks war gut darin, das richtige Team von Leuten mit Fachwissen zusammenzustellen, um die Dokumente zu überprüfen. Die Verifizierung ist das gravierendste Problem, denn Sie können sich vorstellen, dass es sehr leicht ist, den Ruf der Organisation zu zerstören, indem man ihr falsche Dokumente schickt.

Eine Hauptanklage gegen WikiLeaks ist, dass die meisten durchgesickerten Dokumente geheimes Material enthielten, das aus einem bestimmten Grund geheimgehalten wird. Glauben Sie, dass alle geheimen Informationen geeignet sind, der breiten Öffentlichkeit ohne Diskriminierung zugänglich gemacht zu werden?

Sehen Sie, als Journalisten erhalten wir ständig vertrauliche Dokumente. Ohne die Verwendung vertraulicher Informationen gibt es keinen Journalismus. Natürlich sind wir vernünftige Menschen und kümmern uns um die Konsequenzen dessen, was wir veröffentlichen. Gleichzeitig müssen Sie aber auch erkennen, dass nicht alle Geheimnisse gleich sind. Wenn man zum Beispiel die Sicherheitsmaßnahmen für ein Kernkraftwerk hat, gibt es einen Grund, diese Informationen geheimzuhalten, nämlich, dass sie von Terroristen genutzt werden könnten. In anderen Fällen hat man Informationen, die geheim sind, nur weil sie unangenehm sind, weil jemand versucht, Kriegsverbrechen, Folter oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen – und wir haben absolut das Recht, diese Geheimnisse zu enthüllen.

Was war für Sie persönlich das bedeutsamste Leak bei WikiLeaks?

Der Fall Abu Omar. Italien ist das einzige Land der Welt, das in der Lage war, die CIA-Agenten zu verurteilen, die an der Entführung des Mailänder Geistlichen beteiligt waren. Er wurde mitten am Tag im Zentrum von Mailand gefangen genommen. Unsere Staatsanwälte waren so gut, dass es ihnen gelang, 26 US-Bürger zu identifizieren, die meisten von ihnen CIA-Agenten. Sie stellten Ermittlungen gegen sie an und verurteilten sie alle. Die USA übten Druck auf die italienischen Politiker aus und sagten: “Es gibt nichts Gefährlicheres für unsere bilateralen Beziehungen“.

Aus diesem Grund lehnten sechs Justizminister den Haftbefehl gegen die CIA-Agenten ab. Zwei italienische Präsidenten, darunter unser derzeitiger Präsident Mattarella, begnadigten drei CIA-Agenten und den Sicherheitschef der US-Basis in Aviano zweimal. Dorthin wurde Abu Omar unmittelbar nach seiner Entführung gebracht. Diesen Menschen wurde Straffreiheit gewährt und sie verbrachten keinen einzigen Tag im Gefängnis. Im Jahr 2016 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien wegen Gewährung von Straffreiheit. All dies geschah jedoch im öffentlichen Raum, dank der Berichte. Ich konnte den Druck belegen, den US-Diplomaten auf italienische Politiker ausübten. Ohne die Berichte hätten wir nie einen Beweis dafür gehabt, dass all dies geschah. Es gibt keinen anderen Weg, an diese Informationen heranzukommen, und es wäre für die Staatsanwälte unmöglich gewesen, Beweise zu haben.

Sie sagen also, dass dies im öffentlichen Interesse liegt, weil das italienische Volk über die politische Korruption seiner Regierung Bescheid wissen sollte.

Ja, aber das geht über Korruption hinaus – es ist ungesetzlich, Menschen, die an Entführungen beteiligt sind, Straffreiheit zu gewähren. Es gibt keine andere Möglichkeit, Beweise über diese äußerst schwerwiegenden Dinge zu erhalten. Wir brauchen “Whistleblower”, aber wir brauchen auch Organisationen wie WikiLeaks, die Informationen veröffentlichen. Man hat vielleicht die besten Informanten, die explosivsten, geheimsten Dokumente, aber wenn Sie nicht den Mut haben, sie öffentlich zu machen, ist das wertlos. Die Leute sagen: “Nun, wir mögen Chelsea Manning, sie hatte den Mut, aber WikiLeaks war nur ein passiver Empfänger”. Das ist völlig falsch. Wenn Sie jemals ein Journalist gewesen sind, wissen Sie, was es bedeutet, etwas zu veröffentlichen, das jemand sehr Mächtiges verhindern will. Sie wissen, was es bedeutet, Angst um sein Leben und seine Freiheit zu haben. Man muss äußerst mutige Journalisten und Verleger haben, die sagen: “Ich werde veröffentlichen, egal was passiert”. Das ist es, was mich von Anfang an beeindruckt hat. Ich bin seit 19 Jahren Journalistin und ich habe noch nie jemanden “Nein” zum Pentagon sagen hören.

Was halten Sie von Informanten wie Snowden, die, anstatt eine Plattform wie WikiLeaks zu nutzen, sich dafür entschieden haben, stattdessen zwei berühmten Journalisten und der traditionellen Presse zu vertrauen?

Natürlich ist es Sache des Hinweisgebers, zu entscheiden, womit er sich wohlfühlt. Ich kann Ihnen sagen, dass, wenn ein Hinweisgeber sich an WikiLeaks wendet, seine Dokumente mit Sicherheit veröffentlicht werden. Wenn man einzelne Journalisten auswählt, muss man sie gut kennen und ihnen wirklich vertrauen und wissen, ob sie das Risiko eingehen werden, gefährliche Informationen zu veröffentlichen. Im Falle von WikiLeaks liefern sie immer, sie veröffentlichen immer. Sie haben eine lange Geschichte der Veröffentlichung riskanter Dokumente. In den letzten 14 Jahren haben sie, egal was passiert, den Mut gehabt, sich den schwerwiegenden Konsequenzen zu stellen. Julian Assange hat seit der Veröffentlichung der geheimen US-Dokumente keine Freiheit gekannt.

Ich sage nicht, dass Assange und WikiLeaks perfekt sind. Manchmal haben sie Fehler gemacht, aber manchmal macht man Fehler, wenn man sich auf unbekanntem Terrain bewegt. Es ist immer eine Herausforderung, besonders wenn man Originaldokumente veröffentlichen will, eine Datenbank mit einer Million Dokumenten, ohne persönliche Informationen preiszugeben. Wenn man diese Dokumente nicht veröffentlicht, macht man natürlich keine Fehler. Zehn Jahre später greifen wir immer noch auf die Depeschen zu und sie sind immer noch relevant. Ich greife täglich auf die WikiLeaks-Depeschendatenbank zu. Ich suche nach einem einzelnen Politiker, Diplomaten oder einer NGO und sehe nach, ob es Informationen über sie gibt. Sie müssen Assange nicht anrufen und um Zugang zu der Datenbank bitten, Sie gehen einfach auf die Website und schauen nach.

Wie erklären Sie, dass die Mainstream-Medien WikiLeaks nicht mehr unterstützen?

Seit 2010 gibt es einen Propagandakrieg gegen WikiLeaks. Seither gibt es natürlich keine Sympathie und Unterstützung mehr. Die US-Regierung hat damit gleich begonnen. Von dem Moment an, als das Pentagon sagte, “es könnte Blut an ihren Händen kleben”, berichteten alle Medien über die gleiche Sache. Diese Propaganda trug dazu bei, die öffentliche Meinung zu verändern. So ist es auch mit Russland – bringen Sie mir Beweise dafür, dass WikiLeaks mit dem Kreml gekungelt hat. Uns wurden nie Beweise gezeigt. Ich habe aus erster Hand gesehen, wie diese Propaganda funktioniert. Bei der Arbeit an den Podesta-E-Mails [die E-Mails von Podesta, einem ehemaligen Stabschef des Weißen Hauses und Vorsitzenden der US-Präsidentschaftskampagne 2016 von Hillary Clinton, dessen Gmail-Account von damals unbekannten Parteien gehackt und später von Wikileaks veröffentlicht wurde] war ich der einzige Medienpartner, weil niemand die E-Mails anfassen wollte, weil die Medienkampagne behauptete, dass sie von russischen Spionen stammten. Es funktionierte.

Aber es kann nicht angehen, dass Journalisten so anfällig für Propaganda sind. Es ist das Gegenteil von dem, was man von einem professionellen Journalisten erwarten würde. Wenn man bedenkt, dass kein einziger Journalist versucht hat, an die Dokumente für den Fall Julian Assange und WikiLeaks heranzukommen, sagt das viel über das Niveau des Journalismus aus. Sie haben über den Fall berichtet, ohne jemals nach sachlichen Informationen zu fragen oder nach den Dokumenten zu fragen. Sie berichteten über alles, was die Staats- und Rechtsanwälte ihnen erzählten. Ich habe versucht, Zugang zu diesen Dokumenten zu erhalten. Nach fünf Jahren war es schwer, den Fall zu verstehen, insbesondere die schwedischen Vergewaltigungsvorwürfe, weil die Berichterstattung so schlecht war.

Ich sagte mir, dass ich mit einem solchen Chaos nicht fertig werde, und begann, meinen Antrag auf Informationsfreiheit in Schweden, Großbritannien, den USA und Australien einzureichen. Dieser Fall läuft schon seit 10 Jahren und ich habe die letzten fünf Jahre damit verbracht, die Dokumente unter Anwendung des FOIA [Freedom of Information Act] zu bekommen, und habe meinen FOIA in vier Gerichtsbarkeiten verklagt: Meine Anwälte und ich kämpfen immer noch um die Dokumente, was Ihnen die unerträgliche Geheimhaltung dieses Falles zeigt. Ich habe sieben Anwälte, vier Gerichtsbarkeiten. Ich erzähle Ihnen das, damit Sie erkennen, wie oberflächlich die Berichterstattung ist, obwohl Hunderte von Journalisten darüber berichtet haben. Das ist ein unglaubliches Versagen des Journalismus.

Was sagen Sie zu Leuten, die normalerweise Whistleblowing und WikiLeaks unterstützen würden, Assange aber wegen des schwedischen Falles, d.h. der Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn, nicht unterstützen wollen?

Der schwedische Fall war eines der wichtigen Dinge, die benutzt wurden, um den Ruf von Julian Assange zu zerstören. Wann immer man einen Vorwurf wegen sexueller Übergriffe oder Pädophilie hat, stehen die Menschen sofort solidarisch mit den angeblichen Opfern. Ich glaube nicht, dass der schwedische Fall eine Verschwörung war, ich glaube nicht an Verschwörungen. Was ich sage, ist, dass dieser Fall voller Rätsel war, zum Beispiel warum dieser Fall so lange offengehalten wurde, ohne ihn entweder anzuklagen oder den Fall ein für alle Mal fallen zu lassen.

Ein hochrangiger italienischer Staatsanwalt fragte mich, warum der Fall seit 2010 ohne jeglichen Fortschritt weitergeführt wurde. Ich erklärte, dass der mangelnde Fortschritt darauf zurückzuführen sei, dass die schwedischen Staatsanwälte nicht nach London reisen wollten, um Julian Assange zu befragen und zu entscheiden, ob sie ihn anklagen oder den Fall ein für alle Mal fallen lassen wollten. Als ich Zugang zu den Dokumenten im Rahmen des FOIA erhielt, entdeckte ich, dass es die britischen Behörden waren, die den schwedischen Staatsanwälten gesagt hatten, nicht nach London zu reisen, um ihn [Assange] zu befragen. … , und sie hatten die schwedischen Staatsanwälte auch davon abgehalten, ihren Fall 2013 fallen zu lassen, als sie erwogen hatten, dies zu tun.

Warum sollten sich die britischen Behörden in einen angeblichen schwedischen Vergewaltigungsfall einmischen?

Das ist genau die Frage, die ich mir zu stellen begann. Welche besonderen Interessen hätte die britische Behörde in diesem Fall? Ich bat um weitere Dokumente und mir wurde gesagt, sie seien vernichtet worden, was höchst verdächtig ist, denn als sie die Dokumente vernichteten, war der Fall noch nicht abgeschlossen und höchst umstritten.

Fünf Jahre später versuche ich immer noch, eine Antwort darauf zu bekommen, warum das passiert ist. Dies geschah durch die CPS (Crown Prosecution Service), dieselbe Behörde, die für die Auslieferung von Assange an die USA zuständig war. Das macht mich sehr misstrauisch. Dieser schwedische Fall hat großen Einfluss auf Assanges Ruf gehabt, da er ihn als Vergewaltiger erscheinen ließ, der der Justiz entkommen ist. Nun ist die Untersuchung geschlossen und kann wegen der Verjährung nicht wieder aufgenommen werden.

Was denken Sie über die Art und Weise, wie Großbritannien auf diesen ganzen Fall reagiert hat?

Sie müssen erkennen, dass London und Großbritannien eine besondere Beziehung zu den USA haben, nicht nur historisch, sondern auch eine starke Partnerschaft für den Austausch von Informationen. Das Vereinigte Königreich könnte sogar noch unnachgiebiger als die USA sein, wenn es um den Geheimdienst geht. Es ist kein Zufall, dass sie die James-Bond-Saga produziert haben, die Geheimagenten verherrlicht: Sie haben eine echte Kultur und Liebe zum Geheimdienst, zur Geheimhaltung, zu den Geheimdiensten. Julian Assange hätte nie nach Großbritannien gehen dürfen. Am 27. September 2010 flog er nach Berlin, um mich und andere Journalisten zu treffen. Nach diesem Treffen beschloss er, nach London zu fliegen, um an den Protokollen des Irak-Krieges und den US-Diplomatenkabeln zu arbeiten. Ich neige zu der Annahme, dass er niemals einen so verheerenden Missbrauch von Rechtsstaatlichkeit, Gefangenschaft, Verhaftung und jetzt das Belmarsh-Gefängnis mit dem Risiko einer Auslieferung an die USA erlebt hätte, wenn er Berlin nicht verlassen hätte, um nach London zu fliegen.

Sehen Sie britische Richter als Komplizen der Geheimdienste oder als Teil der politischen Agenda der USA?

Was ich sage, ist, dass die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung bestätigt hat, dass Großbritannien und Schweden ihn seit 2010 willkürlich inhaftiert haben. Das ist nicht meine Meinung, das ist es, was die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung festgestellt hat. Die britischen Behörden taten absolut nichts dagegen. Weder die Medien noch die Staatsanwaltschaft oder die Justiz haben etwas dagegen unternommen. Als der UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, ihnen offen schrieb, dass Assange psychologischer Folter ausgesetzt war und sie seine Rechte missbrauchten, wurde wiederum nichts unternommen.

Ich weiß, dass sie einen Ruf für Fairness und Gerechtigkeit haben, aber wenn man sich diesen Fall genau ansieht, leidet ihr Ruf sehr darunter, dass sie sich wie ein gesetzloses Land verhalten. Die Entscheidung der UN-Arbeitsgruppe oder die Berichte von Nils Melzer sind ihnen egal. Sie halten einen Verleger wie jeden anderen Kriminellen in einem Hochsicherheitsgefängnis gefangen. Sie haben ihm sogar eine Stunde im Freien in der Botschaft verweigert, eine Strafe, die nur den schlimmsten Kriminellen zuteil wird. Wenn man sich diesen Fall ansieht, die Rhetorik über britische Institutionen, dass sie die Menschenrechte und die Pressefreiheit respektieren würden, ändert sich das Narrativ.

Sie waren letzten Monat ein Tatsachenzeuge im Prozess gegen Julian Assange. Was halten Sie von dem Verfahren in diesen vier Septemberwochen und was erwarten Sie, was jetzt passieren wird?

Ich denke, der wichtigste Aspekt bei den Anhörungen ist die Tatsache, dass die US-Behörden die Fakten falsch dargestellt haben: Die Anklage behauptete immer wieder, dass die US-Behörden nicht den Journalismus von Julian Assange verfolgen, sondern vielmehr eine eng begrenzte Veröffentlichung unveröffentlichter Dokumente verfolgen, die ihrer Meinung nach US-Quellen und Informanten in Gefahr brachten. Zunächst einmal ist dies nicht wahr: Jeder Journalist, der sich seiner Sache würdig erweist, kann die übergreifende Anklageschrift überprüfen und erkennen, dass die US-Behörden ihn definitiv wegen rein journalistischer Aktivitäten wie dem Empfang und der Beschaffung von geheimen Dokumenten wie den Diplomatenberichten, den Guantanamo-Akten und den Irak-Einsatzregeln strafrechtlich verfolgen.

Sie versuchen auch, ihn für die unbefugte Weitergabe dieser geheimen Dokumente lebenslänglich ins Gefängnis zu bringen. Dies sind rein journalistische Aktivitäten: Wenn Julian Assange dafür ins Gefängnis kommt, ist jeder Journalist in Gefahr. Es wird das Ende des Journalismus sein, der Kriegsverbrechen, Folter und schwere Menschenrechtsverletzungen aufdeckt. Zweitens bringen die US-Behörden immer wieder den Vorwurf vor, Assange hätte Menschenleben in Gefahr gebracht.

Von Anfang an versuchte das Pentagon zu argumentieren, dass WikiLeaks Blut an den Händen haben könnte, und seit 2010 haben sie wirklich hart daran gearbeitet, die potenziell schädlichen Auswirkungen dieser Veröffentlichungen nachzuweisen. Zehn Jahre später sind sie immer noch nicht in der Lage, auch nur den geringsten Beweis dafür zu erbringen, dass jemand infolge der Enthüllungen von WikiLeaks getötet oder verletzt oder ins Gefängnis gebracht wurde. Selbst im Prozess gegen Chelsea Manning fand der Leiter der von den US-Behörden zur Analyse der Publikationen eingesetzten Task Force kein einziges “Opfer”.

Inzwischen haben wir dank der WikiLeaks-Publikationen zahlreiche Beweise für Kriegsverbrechen. Die Tatsache, dass die Kriegsverbrecher nie angeklagt wurden und nie einen einzigen Tag im Gefängnis verbracht haben, während Julian Assange nie wieder die Freiheit gekannt hat und nun riskiert, sein Leben im Gefängnis zu verbringen, gibt Ihnen einen Anhaltspunkt dafür, wie sehr die US-Demokratie gestört ist. Der Fall Assange ist ein Weckruf: Die US-Demokratie wird so entstellt, dass die Kriegsverbrecher Straffreiheit genießen, während ein Journalist, der Kriegsverbrechen aufdeckt, lebenslange Haftstrafen erhält. Das ist beispiellos.

Aber wäre es nicht trotzdem ein vernünftiges Argument zu sagen, dass Assange das Leben von Menschen hätte gefährden können, indem er nicht vorsichtig genug war und unzensierte Kabel veröffentlichte?

Der Grund für die Veröffentlichung der Dokumente zu den nicht zensierten Berichten war, dass zwei Journalisten des Guardian das Passwort in einem Buch veröffentlichten und damit die Informationen für jedermann zugänglich machten, während jemand anderes das gesamte Archiv veröffentlichte. WikiLeaks hatte nie vor, unzensierte Berichte zu veröffentlichen. Im Gegenteil, fast ein Jahr lang gab es ein sorgfältiges Verfahren zur Zensur der Berichte. Wenn der Plan gewesen wäre, die Dokumente unredigiert zu veröffentlichen, warum hätten wir das dann getan? Dies war eine laufende Kampagne, WikiLeaks als unverantwortliche Kriminelle darzustellen, die Leben in Gefahr bringen. Sie ist Teil des Propagandakrieges gegen WikiLeaks.

Glauben Sie immer noch, dass Großbritannien den USA nachgeben und Julian Assange ausliefern wird? Es ist illegal, jemanden aus politischen Gründen auszuliefern, nicht wahr?

Auf jeden Fall. Aber das ist ihnen egal. Wir haben gesehen, wie sie mit diesem Fall umgegangen sind. Wenn Menschen in einer Botschaft Zuflucht suchen, bietet man ihnen normalerweise sicheres Geleit. Das haben sie nie angeboten. Die britischen Behörden waren bereit, die Botschaft zu stürmen, während sie ihn dort sieben Jahre lang ohne medizinische Behandlung oder Zugang nach draußen sich selbst überließen. Am Ende des Tages verhafteten sie ihn und brachten ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis, das er nicht verlassen darf, selbst wenn er Gefahr läuft, sich mit Covid-19 zu infizieren. Aus diesen Gründen kann ich nicht darauf vertrauen, dass sie sich an die Regeln halten werden.

Was können Ihrer Meinung nach Menschen, denen die Pressefreiheit am Herzen liegt, in dieser Phase tun?

Ich möchte, dass die Leute in diesem Fall die richtigen Fakten bekommen, wegen dieses Propagandakrieges. Das ist es, was mich antreibt. Ich bekomme kein Geld, ich kämpfe darum, Geld für meinen Rechtsstreit um Informationsfreiheit zu bekommen, und ich kann Ihnen sagen, dass diese Art von Arbeit Ihnen keine mächtigen Freunde beschert. Ganz im Gegenteil – Sie bekommen mächtige Feinde. Niemand will Probleme mit den USA haben. Sie sind zu mächtig, ihr Einfluss ist auf der ganzen Welt spürbar. Ich kämpfe, weil ich in einer Gesellschaft leben möchte, in der man Kriegsverbrechen aufdecken kann, wie es Chelsea Manning getan hat, ohne im Gefängnis zu landen.

Ich möchte in einer Welt leben, in der man Kriegsverbrechen aufdecken kann, ohne seine Freiheit zu verlieren, wie es bei Julian Assange der Fall ist. Wenn wir solche Gesellschaften nicht aufbauen, wird das niemand für uns tun, wir müssen dafür kämpfen, dass es so ist. Ich kann auf die einzige Weise kämpfen, die ich kenne, nämlich mit dem Journalismus. Ich möchte meinen Journalismus nutzen, um die Fakten in diesem Fall richtigzustellen und um den Menschen begreiflich zu machen, wie verkehrt es ist, dass, wer Kriegsverbrechen aufdeckt, deswegen seine Freiheit verliert.

Titelbild: Casimiro PT / Shutterstock


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