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Titel: Selbstgleichschaltung der Hauptmedien auf der Stufe der Ignoranz

Datum: 2. September 2010 um 17:07 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Rente
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Die Tiraden des Herrn Sarrazin haben für die herrschenden Kreise aus der Oberschicht und oberen Mittelschicht einen angenehmen Nebeneffekt: Indem S. die Unterschichten im allgemeinen und die Zuwanderer im besonderen für tendenziell dümmer erklärt, erscheinen die Oberen spiegelbildlich als klüger. Das steht im Widerspruch zu seit längerem angestellten Beobachtungen. Im gehobenen Management wie auch im oberen Feld des Journalismus grassiert Ignoranz und der Mangel an Umsicht und Differenziertheit. Albrecht Müller

In den Hinweisen von heute ist schon auf Robert Misiks Stück in der TAZ. Misik spricht von einem „dummen Demagogen“ und nennt seine Thesen „haarsträubend dämlich“ und sein Werk „Schrott“. Das ist wohl die richtige Kennzeichnung und es ist wichtig, dies auszusprechen, weil im Kontext der Schrott-Produzenten, die die Talkshows bevölkern, also den Henkels, Barings, Metzgers, Friedmans, Dohnanyies, etc. Sarrazin als Leuchtturm erscheinen könnte.

Bei Äußerungen von Spitzenvertretern der Wirtschaft fällt oft auf, wie eng deren Perspektive ist. Meist betriebswirtschaftlich. Viele sehen z.B. nicht mehr, wie wichtig Arbeitsvertragssicherheit und soziale Sicherheit für die Kreativität ihrer Mitarbeiter ist. Bei der Bewertung und dem Einsatz finanzieller Anreize endet oft ihr Horizont. – Sie reden bei volkswirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Problemen mit, sind aber auch da zumeist undifferenziert, weil Opfer der Klischees, die ihre Verbände und ihre Freunde in den Medien verbreiten. Ihre Urteile z.B. über Konjunkturprogramme, über den angeblichen Sparzwang und die Schuldengrenze, über die gesetzliche Rente und über die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, über die Globalisierung und über den demographischen Wandel sind meist geliehene Urteile. Ignoranz grassiert in diesen Oberschichten. Man könnte es auch Dummheit nennen. Sie sympathisieren mit Sarrazin auch deshalb, weil er sie durch seine Zuweisung von Dummheit an die Unterschicht quasi automatisch „hochhebt“.

Sicherheit durch Selbstgleichschaltung bei den Hauptmedien

Mittelmaß und Ignoranz beherrscht leider auch die oberen Schichten der Publizistik. Am Umgang mit dem Thema Demographie kann man dies besonders gut beobachten. Die meisten Medienschaffenden kommen über die Standardbetrachtung nicht hinaus. Diese lautet: Da immer mehr Alte auf weniger Arbeitsfähige kommen, muss das Renteneintrittsalter angehoben werden und/oder die Renten können nicht mehr steigen. Die vielen anderen Stellschrauben zur Lösung des Problem werden in der Regel ignoriert. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die Erhöhung der Erwerbsquote insbesondere von Frauen und die Verringerung der Arbeitslosigkeit wie auch die Möglichkeit, den 8,6 Millionen Menschen, die nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes gerne mehr arbeiten würden, Arbeit zu verschaffen werden nicht als Mittel zur Lösung des Problems gesehen. Auch die möglichen Veränderungen der Finanzierungsbasis durch Einbeziehung von bisher nicht herangezogenen Beitragszahlern oder gar die Erwägung einer Wertschöpfungsabgabe werden in der Regel nicht in betracht gezogen. Gerade die Missachtung der Chancen der Erhöhung der Arbeitsproduktivität ist nicht zu begreifen, weil diese Chancen allein vermutlich schon reichen, um das Problem ohne Verlust an Wohlstand für Arbeitende und Rentner zu lösen.

Einen eindrucksvollen Beleg für die grassierende Einfalt schuf Jörg Schönenborn im Presseclub vom 15.8.2010. (Siehe unten Anlage) Der Diskussionsleiter und Chefredakteur des WDR-Fernsehens bezeugte beim Thema Rente mit 65, 67 oder 70 auf bemerkenswerte Weise die Selbstgleichschaltung der Medien. Er hatte ein Gremium von vier Journalistinnen und Journalisten geladen, die alle einschließlich seiner Person gleicher Meinung waren – für die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Um diese Selektion der Gäste als glaubwürdig erscheinen zu lassen, erklärte er in der Minute 9’29’’ der Sendung, „wir“ hätten bei der Einladung gesucht, aber es sei kaum möglich, unter den Journalistinnen und Journalisten der gängigen Zeitungen jemanden zu finden, der eine deutlich andere Meinung vertrete als die geladenen Gäste, nämlich eindeutig für die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dann verwies er noch auf die abweichende Mehrheitsmeinung im Volk und insbesondere im Gästebuch des Presseclub. Dort könne man kaum jemanden finden, der die Position vertrete, die „hier am Tisch“ geäußert werde.
Die am Tisch geäußerten Meinungen waren so einfältig und undifferenziert wie oben skizziert.
Das ist kein Einzelfall. Offensichtlich steigt man in die gehobenen Kreise der Publizistik (wie auch anderer Milieus) nur auf, wenn man die Differenzierung aufgibt und sich auf einfache und grobe Erkenntnisse und Lösungsmöglichkeiten beschränkt. Vermutlich ist diese Beschränkung eine Voraussetzung für die notwendige Gleichrichtung. Das nenne ich Selbstgleichschaltung. Sie ist deshalb notwendig, damit das Mittelmaß insgesamt nicht auffällt. So gewinnt man Sicherheit.

Anlage 1:
Presseclub 15.8.2010

Quelle 1: Link zur gesamten Sendung im Hörfunk
Quelle 2: YouTube

Mit Jörg Schönenborn zum Thema
65, 67, 70 – das Geschacher um die Rente
und folgenden Gästen:

  • Richard Kiessler
    Chefredakteur und Sonderkorrespondent Außenpolitik
    WAZ-Gruppe
  • Michael Sauga
    Stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros
    Der Spiegel
  • Kerstin Schwenn
    Korrespondentin in der Berliner Parlaments-Redaktion
    Frankfurter Allgemeine Zeitung
  • Dorothea Siems
    Mitglied der Parlamentsredaktion
    Welt


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