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Titel: Der Angriff auf das armenische Karabach – wie der Westen den Konflikt am Kochen hält und die Türkei für seine geopolitischen Zwecke missbraucht

Datum: 8. Oktober 2020 um 11:11 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Im aktuellen Konflikt auf dem Kaukasus geht es nicht nur um regionale, sondern auch und vor allem um geopolitische Fragen. Hans-Joachim Dübel analysiert für die NachDenkSeiten die geopolitische Dimension und führt unsere Leser dabei gleich mit in die Vorgeschichte des Konflikts ein. Sein besonderer Fokus liegt dabei auf der Türkei und ihre Rolle für den Westen.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zunächst zu meiner Person: Ich bin ehemaliger Weltbankmitarbeiter und arbeite als Wohnungsbau- und Finanzsektorexperte seit 25 Jahren sowohl mit der Türkei als auch Armenien, darüberhinaus in jedem Land um die Türkei herum, auf dem Balkan, im gesamten Nahen Osten sowie in Zentralasien. Ich verfolge die ethnischen und politischen Konflikte an der muslimisch-orthodoxen, teils türkisch-slawischen Bruchlinie zwischen Bihac im Westen und Alma Ata im Osten intensiv. Am Tag nach dem serbischen Massaker an bosnischen Muslimani in Srebrenica 1995 habe ich in einem Brief an den Generalinspekteur der Bundeswehr den Wehrdienst in der feige danebenstehenden NATO nachträglich verweigert. Ich war – trotz erheblicher Bauchschmerzen aufgrund der gut begründeten historischen serbischen Ansprüche und betroffenen serbischen Minderheit – damals für die Unabhängigkeit des Kosovo.

Der armenische Anspruch auf Berg-Karabach

Trotz oder gerade wegen dieser Vorgeschichte sage ich: Die Armenier, die 90% ihres Siedlungsgebietes nach dem Völkermord von 1915 bis zum Jahr 1922 an die Türkei verloren haben, haben ein Recht darauf, das wenige Land im niederen Kaukasus, das ihnen noch bleibt, zu schützen. Und dazu gehört Berg-Karabach, das seit 2.500 Jahren von Armeniern bewohnt wird, als die Türken noch als Nomaden durch die Steppe Zentralasiens ritten und die Deutschen in primitiven Holzhütten lebten. Die herrlichen Klöster dieser Landschaft sind beredtes Zeugnis der uralten armenischen Geschichte. Anders als im Kosovo oder in der benachbarten aserbaidschanischen Exklave Naschitschevan haben sich in Berg-Karabach über die Jahrhunderte keine massiven ethnischen Verschiebungen zugunsten der türkischen bzw. muslimischen Seite eingestellt.

Aus völkerrechtlicher Sicht ist der Ausgangszeitraum des Karabach-Konfliktes nicht der des Zerfalls der Sowjetunion um 1990 mit dem Ergebnis von Massakern (wie 1915-1917 vor allem an Armeniern), dem Berg-Karabach-Krieg (mit dem Ergebnis einer hohen Zahl von Vertriebenen auf beiden Seiten) und der Erklärung der Unabhängigkeit der Republik Berg-Karabach, sondern die frühen 1920er Jahre und hier insbesondere das Jahr 1923. Die Annexion von Berg-Karabach durch Aserbaidschan wurde in diesem Jahr vom damaligen Kommissar für die Nationalitäten der Sowjetunion, dem Georgier Josef Wissarionowitsch Stalin, vorangetrieben. Zu den Motiven Stalins gehörten dubiose Versprechen sowie unfaire Verträge an bzw. mit der Türkei, mit denen Moskau die Armenier bereits seit dem armenisch-türkischen Krieg von 1920 im Nachgang zum von Deutschland erzwungenen Frieden von Brest-Litowsk von 1917 hintergangen hatte, sowie sein Kalkül, dass beide Republiken und die Völker der Armenier und Aseris, ethnische Türken, durch den ungelösten Konflikt auf ewig gegeneinander kämpfen und damit Moskau das Regieren erleichtern würden. Dieser Ansatz des „Teile und Herrsche“ durch Zuschlagen einzelner Gebiete an den jeweiligen Todfeind ist auch anderswo in der Sowjetunion verfolgt worden, so etwa im Fall von Georgien und Ossetien, das 1920 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, oder im Fergana-Tal mit der usbekisch besiedelten Stadt Osch, die man Kirgisien zuschlug.

Für Aserbaidschan kann aus der stalinistischen Annexion von 1923 kein völkerrechtlicher Anspruch auf das armenisch besiedelte Gebiet von Berg-Karabach entstehen. Die Aseris, die im Berg-Karabach-Krieg aus den nach 1923 angelegten Wehrdörfern rund um das armenische Berggebiet vertrieben wurden, haben zwar ein Recht auf Rückkehr. Auch ist ein Gebietsaustausch von nicht zu Berg-Karabach gehörigem Territoritium Aserbaidschans, das armenisch besetzt wurde, zu recht Thema von Verhandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Aber eine Wiedereingliederung von Berg-Karabach in den Staat Aserbaidschan kann aus völkerrechtlicher Sicht nicht zur Debatte stehen.

Die Rolle des Westens

Warum also erkennt der Westen, dessen Regierungen von Juristen dominiert werden, die eindeutige Rechtslage zugunsten des armenischen Anspruchs über Berg-Karabach nicht an und verteidigt einen stalinistischen Unrechtsakt?

Die Antwort ist, wie fast immer, wenn das Völkerrecht bedenkenlos gebrochen wird, Geopolitik: Die politische Situation, die aus der Abspaltung von Berg-Karabach entstanden ist, wird heute von Washington und London, sowie deren Mitläufern in Berlin, genutzt, um die Konflikte im Kaukasus im Allgemeinen am Kochen zu halten und Moskau über seine Proxies in Ankara und Baku anzugreifen. Es geht wirtschaftlich um Öl- und Gas-Pipelines nördlich und südlich des großen Kaukasus. Es geht um die große geopolitische Ost-West-Achse, die durch Tiflis und Baku mitten ins Halford Mackinders‘ Herzland der Geopolitik, nach Zentralasien, verläuft und sich dort mit der Nord-Süd-Achse zwischen Moskau, Teheran und Baghdad kreuzt.

Jede Erstarkung Armeniens, und sei es durch noch so kleine und unbedeutende Gebietsveränderungen, ist da im Weg, selbst wenn der aktuelle Präsident in Eriwan für eine politische Annäherung des Landes an den Westen steht. Wer von dort aus die wenigen Kilometer zum traumhaft schönen Kloster Khor Virap fährt, steht inmitten dieses geopolitischen Konfliktes an einer Grenze zwischen Armenien und der Türkei, die undurchdringlicher ist, als es die innerdeutsche Grenze von 1961-1989 je war – mit Schießbefehl, aber ohne jeden Grenzverkehr und mit gegenseitiger Totalblockade. Die Armenier können nur sehnsüchtig auf ihren heiligen Berg, den Ararat, oder weiter nördlich ihre alte Hauptstadt Ani, die beide auf türkischem Gebiet liegen, blicken – dorthin fahren können sie nicht. Dass dies so ist und bleibt, ist politisch im Westen so gewollt.

Ich kann dies persönlich bestätigen, weil ich die Haltung vor allem aus Londoner Kreisen aus erster Hand kenne. Ich habe vor einem Jahrzehnt, nach dem Kosovo-Krieg, der zu dem von Serbien nicht anerkannten Ergebnis führte, einen Kommentar geschrieben, in dem ich einen ‚Kosovo-Karabach-Tausch‘ vorschlug, d.h. einen Interessenausgleich zwischen der türkisch-muslimischen und der slawisch-orthodoxen Seite, verlängert in die nicht-slawischen Gebiete des Kaukasus, durch den Austausch umstrittener Gebiete an mehreren Orten. Solche Austausche mit dem Ziel eines dauerhaften Friedens sind lange diplomatische Tradition. Sie sind eine wirtschaftliche Notwendigkeit für die betroffenen Länder. Serbien und der Kosovo haben dies inzwischen verstanden und in den letzten Jahren, 15 Jahre nach dem Krieg, die Verhandlungen über den Austausch von Gebieten weit vorangetrieben.

Die Antwort, die damals vom Londoner Economist kam, den man, ohne ihm zu nahe zu treten, als Sprachrohr der britischen Regierung und ihrer Geopolitiker in Militär und Geheimdiensten bezeichnen kann, war ein Artikel, den man in einem Wort zusammenfassen kann – NEIN. Geschrieben war er von einem Redakteur, der aus einer hochrangigen britischen Militärfamilie stammt. Und die Antwort von NATO und EU auf die weit fortgeschrittenen Verhandlungen mit Serbien und dem Kosovo ist, wie wir wissen, ebenfalls ein NEIN.

Der aserbaidschanisch-armenische Konflikt hätte also schon vor Jahrzehnten mit einfachen diplomatischen Mitteln gelöst werden können, die noch Fürst Bismarck auf der Berliner Konferenz von 1878 beherrschte. Aber es besteht offenbar im Westen kein Interesse daran, dies zu ermöglichen. Die Opfer sind die Menschen in Armenien und Aserbaidschan, die man mit falschen ‚Vermittlungs’formaten wie der Minsk-Gruppe, die keine tatsächlichen Friedenslösungen hervorbringen, propagandisiert und in den Hinterzimmern über Waffenlieferungen und dazugehörige politische Allianzen weiter aufeinander loshetzt, anstatt Frieden zu schaffen. Dies geht bis hin zur Absurdität, dass Israel, das Land, in dem die Überlebenden des Holocausts eine Heimat fanden, heute Hauptwaffenlieferant Aserbaidschans ist, das mit diesen Waffen die armenischen Überlebenden eines weiteren Völkermords angreift.

Der Missbrauch der Türkei

Die Türkei, die die Angriffe Aserbaidschans auf Armenien militärisch koordiniert und damit aktiv eingreift, weil sich das aserbaidschanische Militär in der Vergangenheit als unfähig erwiesen hatte und von den Armeniern stets geschlagen worden war, steht in der aktuellen Krise einmal mehr als Aggressor da. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der sprühende Nationalismus und vor allem Islamismus, der den türkischen Präsidenten Erdogan zum Angriff auf das christliche Armenien und Berg-Karabach antreibt, das Ergebnis eines geopolitischen Kalküls ist. Die Aggressoren agieren aus dem Hintergrund.

Noch vor der Gründung Israels im Jahr 1948 hatte die Kolonialmacht Großbritannien die auf Sozialismus- und Panarabismuskurs befindliche arabische Welt durch die Schaffung des extremistischen wahabitisch-islamistischen Königreichs Saudi-Arabien 1924 erfolgreich gespalten. Dem folgte die amerikanisch gestützte Machtübernahme des islamistischen Militärmachthabers Zia ul-Haq im Jahr 1978 als östlicher Eckpfeiler des Islamismus in der Region Pakistan. Saudi-Arabien und Pakistan hatten danach gemeinsam den von den USA und Großbritannien geplanten Angriff auf das zentralasiatische, geopolitische Herzland Afghanistan vorgetragen und das Land in einen inzwischen 40-jährigen Bürgerkrieg gestürzt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion hatte Saudi-Arabien zudem den Westen in den Konflikten um die Öl- und Gaspipelinerouten im Kaukasus unterstützt, so vor allem in den auf einen Zerfall Russlands gerichteten Tschetschenienkriegen der 90er Jahre. In diesem Konflikt verdiente sich auch ein junger türkischer Islamist namens Recep Tayyip Erdogan seine ersten Sporen als Diener westlicher Interessen. Das Umdrehen der säkularen, kemalistischen Türkei durch Erdogan und seine AKP-Partei in eine immer radikaler werdende islamische Republik seit 2003, die gegen fast alle ihre Nachbarstaaten Krieg führt oder ihnen Krieg androht, ist angesichts der Vorgänger Saudi-Arabien und Pakistan kein Zufall, sondern intelligente geostrategische Planung.[1]

Dabei liegt nichts weniger im nationalen politischen Interesse der Türkei, als genau das weiter zu verfolgen, was sie – forciert unter Erdogan – mit ihren Nachbarn von Syrien über den Irak bis Armenien tut. Das Letzte, was ein rational regiertes Ankara wollen wird, ist eine ethnische Säuberung von noch weiteren Armeniern nach einem ‚erfolgreichen‘ Angriff auf Berg-Karabach. Die Angriffe auf die u.a. von Flüchtlingen des armenischen Völkermords von 1915 bewohnten Städte in Nord-Syrien seit 2011 mit islamistischen Terrorgruppen, mit der Folge von schweren Verlusten in der Zivilbevölkerung, haben dem Ansehen der Türkei in der arabischen Welt und Teilen des Westens bereits massiv geschadet. Die aktuellen Wirtschaftssanktionen etwa Saudi-Arabiens gegen die Türkei haben nicht nur mit dem Konflikt um den Mord an Jamal Kashoggi zu tun, sondern auch mit der fortwährenden Besetzung arabischen Landes durch die Türkei. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich klar gegen die Türkei positioniert. In den arabischen Ländern sieht man die Interessen der Armenier und anderer im Konflikt mit der Türkei befindlichen Völker, die man in Ländern wie Libanon, Syrien und Jordanien in der Vergangenheit großzügig aufgenommen hat, mit Sympathie.

Fairerweise muss man sagen, dass die Türkei zur Unterstützung des islamistischen Terrors im Syrienkrieg vom Westen angestachelt wurde. Doch am Ende muss sich Ankara eingestehen, dass man dort in eine Falle gelockt wurde: der dauerhaften Zerstörung der Beziehungen zu seinen Nachbarländern und der Verminderung seiner Rolle in einer Region, in der die Türkei das Potential zu einer zentralen Wirtschafts- und Ordnungsmacht haben könnte.

Eine Wiederholung der Ereignisse Syriens in Armenien muss also für die Türkei um jeden Preis vermieden werden. Die Folgen einer ethnischen Säuberung der Armenier aus Berg-Karabach für den Ruf des Landes wären anders als die von den Medien unter den Tisch gekehrten Ereignisse in Syrien, sie wären verheerend und würden über Generationen anhalten. Nicht nur die Tür in die arabische Welt, auch diejenige zu Europa wäre endgültig verschlossen. Wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen wären die zwingende Folge, die geeignet wären, die bereits am Boden liegende türkische Wirtschaft endgültig zu zerstören. Die deutsche politische Position zu solchen Maßnahmen, was auch immer aktuell die geopolitischen Fußnoten Washingtons und Londons, Merkel und Maas, sagen, würde sich in diesem Fall unter dem Druck der Öffentlichkeit derjenigen Frankreichs annähern, das seine Haltung zum Schutz der Überreste des armenischen Landes unmissverständlich deutlich gemacht hat.

Für die Türkei stellt sich also die Frage, ob sie weiter auf der Seite derjenigen stehen will, die den Karabach-Konflikt fortsetzen wollen, um den Kaukasus weiter zu destabilisieren und Russland anzugreifen, oder ob sie den Konflikt lösen will, um zur Entwicklung der Kaukasusregion und zu guten Beziehungen zu allen ihren Nachbarn beizutragen und damit ihre eigene Rolle in der erweiterten Region des Nahen Ostens zu stärken.

Die beste Chance für die Türkei, und für den Frieden in der gesamten Region, ist dabei, den in geopolitischen Machtspielen verhafteten Westen soweit wie möglich aus dem Konflikt um Karabach herauszuhalten und basierend auf einer vernünftigen Interpretation des Völkerrechts eine gemeinsame Lösung mit Russland zu finden. Außenminister Lawrow, der wohl beste Außenminister seiner Generation, ein Halb-Armenier, erscheint mir hier ein guter Ansprechpartner zu sein. Ob er dies mit oder ohne den Diener des Westens, Erdogan, sein wird, ist die große Frage. Im nationalen Interesse der Türkei ist eine solche regionale Lösung allemal.

Titelbild: MehmetO/shutterstock.com



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