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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: In Texas ist ein Sack Mais umgefallen – We’re all living in Amerika!
Datum: 29. September 2020 um 8:58 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Medienkritik
Verantwortlich: Jens Berger
Wer sich vorwiegend über Medien wie den SPIEGEL informiert, könnte glatt auf die Idee kommen, Deutschland sei der 51. Staat der USA. Alleine an diesem Wochenende wurde der Leser dort mit gleich elf Artikeln zur Neubesetzung eines Richteramts am obersten US-Gerichtshof bombardiert. Während der aufmerksame Leser mittlerweile wohl fast alle Mitarbeiter von Donald Trump namentlich aufzählen kann, wissen sicher nur die allerwenigsten, wer der Regierungschef von Frankreich und Russland ist oder wie der Ministerpräsident von Brandenburg oder der Oberbürgermeister[*] von Bremen heißt – von den notwendigen Hintergründen, um Vorgänge auch bewerten zu können, ganz zu schweigen. Die Methode hat System – solange wir uns als „kleine Amerikaner“ fühlen, fällt es uns schwer, uns von diesem Land loszusagen. „We’re all living in Amerika, Amerika ist wunderbar“, wie es die deutsche Band Rammstein ironisch textete. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Hand auf’s Herz – wissen Sie, wer in Deutschland die Richter des Bundesverfassungsgerichts nominiert, wer sie bestimmt und welche Funktion diese Institution überhaupt hat? Wenn nicht, können Sie sich trösten. Dafür sind Sie als aufmerksamer Leser des SPIEGEL sicher mittlerweile so gut über alle Haupt- und Nebenaspekte des US Supreme Courts informiert, dass es für eine Facharbeit im Studienfach „American Studies“ reichen könnte. Über die verstorbene Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg findet man im SPIEGEL ganze 102 Artikel inkl. Nachruf – mehr als doppelt so viel wie über den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth. Wer zur Personalie Harbarth jedoch etwas Kritisches lesen will, sollte ohnehin lieber bei den NachDenkSeiten vorbeischauen.
Ob es in Ländern wie Frankreich, Österreich, Russland oder Polen überhaupt so etwas wie einen obersten Gerichtshof gibt und welche politische Funktion er hat, ist dabei schon Expertenwissen – darüber berichtet man nicht. Warum auch? Die Musik kommt aus Washington. Während man der Personalbesetzung des Supreme Court ja noch – wenn auch ganz sicher nicht in diesem Umfang – einen gewissen Nachrichtenwert für das Auslandsressort zusprechen mag, gilt dies für den Großteil der Berichte aus den USA keinesfalls. Alleine in den letzten drei Wochen überschlug sich der SPIEGEL wieder einmal mit US-Nachrichten, die beim besten Willen keinen Nachrichtenwert haben.
So konnte der geneigte SPIEGEL-Leser am 7. September eine ausführliche Reportage über den Immobilienmarkt und den Trend, in die Vorstädte zu ziehen, lesen – freilich nicht aus Deutschland, sondern aus den USA. Nur was interessiert es den deutschen Leser, was ein Reihenhaus im Süden Washingtons kostet? Wäre es nicht viel informativer, mal etwas über den erstaunlich gut funktionierenden sozialen Wohnungsbau in Wien zu lesen und ihn mit dem erstaunlich schlecht funktionierenden sozialen Wohnungsbau in Deutschland zu vergleichen? Wer will sich schon ein Reihenhaus in Washington kaufen?
Am 14. September berichtete der SPIEGEL über den planmäßigen Abschied des US-Botschafters in Peking. Der Mann heißt übrigens Terry Branstad. Kennen Sie einen einzigen deutschen Botschafter mit Namen? Macht nichts. Denken Sie gar nicht erst darüber nach und erfahren Sie lieber alle Details über das „Ehe-Aus“ einer leidlich bekannten US-Popsängerin. Nicht Hintergründe, sondern Namen haben zu interessieren – je profaner die Person, zu der der Name gehört, desto besser.
US-Promis scheint man beim SPIEGEL ohnehin einen sehr hohen Nachrichtenwert zuzuschreiben. So erfahren wir beim selbsternannten Nachrichtenmagazin, wie ein US-Schauspieler sein Familienleben „in der Pandemie“ organisiert oder dass ein US-Model ihre Kinder „vor Rassismus warnt“ – „Unabhängig von Geld oder Status, sie werden immer ihre Hautfarbe haben“. So so. Aber was sind das für Meldungen? Wäre es für die Leserschaft nicht viel relevanter, wie eine alleinerziehende Kassiererin ihr Familienleben „in der Pandemie“ organisiert oder welche Rassismuserfahrungen junge Mütter ohne Geld und Status in Deutschland machen müssen?
Am 19. September hielt es der SPIEGEL dann für berichtenswert, dass ein zweitklassiger US-Seriendarsteller wegen „mutmaßlicher Vergewaltigung“ vor Gericht steht. Wenige Stunden später erfuhren die Leser, dass in Alaska ein Zahnarzt, der „auf einem Hoverboard stehend operierte“, verurteilt wurde. Und am 25. September veröffentlichte man eine Story über eine Schwangere, die ihren Mann in Florida Keys vor einem Haiangriff rettete. Solche seichten „Panorama-Storys“ mögen ja als leichte Unterhaltung für zwischendurch durchaus ihre Leser finden. Aber warum kommen diese Meldungen, die zweifelsohne keinen echten Nachrichtenwert haben, immer aus den USA?
Bei der Ausbildung zum Journalisten lernt man ja, dass der Nachrichtenwert einer Meldung auch etwas mit dem regionalen Bezug zu tun hat. So ist ein tödlicher Motorradunfall im eigenen Stadtgebiet für eine Lokalzeitung eine Schlagzeile wert, während ein vergleichbarer Unfall aus einer anderen Stadt uninteressant ist. Für den SPIEGEL sind Verkehrsunfälle jedoch auch dann interessant, wenn sie jenseits des Atlantiks stattfinden. Da lesen wir dann, dass in New Jersey ein Schulbus mit einem Laster zusammenstieß und von einem Busunglück in New Mexiko mit sieben Toten. In Kalifornien stürzte ein SUV ins Meer und in New Hampshire stieß ein Kleinlaster mit einer Gruppe Motorradfahrern zusammen. Ähnlich tragische Unglücke gibt es zwar auch in der Nachbarschaft, aber anscheinend ist der SPIEGEL-Redaktion New Hampshire zumindest geistig näher als der Harz.
Diese US-Fixierung schlägt sich dann in der „großen“ politischen Berichterstattung nieder. Trump in allen Facetten auf allen Kanälen – Trump, Trump, Trump, sein Umfeld, sein Schwiegersohn, sein Kommunikationsdirektor, seine Berater. Wer ist eigentlich der Kommunikationsdirektor der deutschen Kanzlerin und wer sind ihre namhaften und einflussreichen Berater? Es ist doch paradox, dass in den deutschen Leitmedien viel ausführlicher über den Machtapparat der USA berichtet wird als über den Machtapparat in Berlin. Gestern machte Spiegel Online doch glatt mit den Kosten für Trumps Frisur auf – sollte man nicht lieber mal seine redaktionelle Energie in die Frage investieren, wo die milliardenschweren deutschen „Coronahilfen“ hingehen und warum sie bei den kleinen Firmen nicht ankommen?
Viele deutsche Medien und vor allem der SPIEGEL lesen sich heutzutage wie die Deutschlandausgabe einer US-Zeitung. Die kulturelle Dominanz der USA ist aber auch auf anderen Gebieten skurril bis grotesk. Dank Hollywood und deutschen TV-Sendern, die US-Produktionen auch gerne in der x-fachen Wiederholung hoch- und runtersenden, ist dem Berliner Kalifornien näher als Brandenburg und die Sorgen und Nöte reicher Jugendlicher aus Los Angeles medial vertrauter als die Sorgen und Nöte armer Jugendlicher aus der eigenen Stadt. Dieser aufgepflanzte Kulturimperialismus wird kaum noch hinterfragt und so gut wie nie kritisiert. Wir werden zu kleinen Amerikanern gemacht und nehmen – bewusst oder unbewusst – eine amerikanische Perspektive ein, mit der wir die Welt und die Weltpolitik betrachten. Das pausen- und gnadenlose Nachrichtenstakkato aus der USA vertieft diese Einflussnahme und es wird immer schwerer, sie zu ignorieren oder sich gar aus ihr zu befreien.
Wer die Welt tagein, tagaus über die Medien mit der amerikanischen Brille betrachtet, sieht die Welt irgendwann auch amerikanisch. Wie sollen wir europäischer werden, wenn wir die Welt mit den Augen Amerikas sehen und mehr über das Leben in Miami als über das Leben in Prag wissen? Wie sollen wir uns aus dem politischen und wirtschaftlichen Klammergriff des Imperiums befreien, wenn wir über unseren Medienkonsum immer wieder suggeriert bekommen, dass wir ein Teil dieses Imperiums sind? So lächerlich die Tickermeldungen über den Sack Mais auch sein mögen, der in Texas umgefallen ist, so sehr prägen sie doch unser Denken, ob wir das wollen oder nicht. Steter Tropfen höhlt den Stein. We’re all living in Amerika.
Vielleicht teilen Sie ja diese Kritik an der US-Fixierung der Medien. Wir von den NachDenkSeiten versuchen ja schon seit Langem diese Fixierung aufzubrechen und mit Hintergrundberichten von kundigen Gastautoren zu Russland, Südamerika oder Asien zumindest unseren kleinen Teil dazu beizutragen, die Welt ohne die amerikanische Brille zu betrachten.
P.s.: Um auf die Eingangsfragen zurückzukommen – der Regierungschef von Frankreich heißt Jean Castex, der von Russland Michail Mischustin. Beide spielen im SPIEGEL-Archiv mit weniger als 40 bzw. 30 Einträgen keine nennenswerte Rolle. Der Ministerpräsident von Brandenburg heißt übrigens Dietmar Woidke und kommt im SPIEGEL-Archiv auf genauso viele Treffer wie Bill de Blasio, der Bürgermeister von New York. Der Oberbürgermeister[*] von Bremen heißt Andreas Bovenschulte; Gavin Newsom, seines Zeichens Gouverneur von Kalifornien, kommt auf dreimal so viele Einträge im SPIEGEL-Archiv.
[«*]Anmerkung Jens Berger: Unser Leser Lothar Mentz schrieb uns: “In meiner schönen Heimatstadt Bremen gibt es keinen Oberbürgermeister, sondern allenfalls einen Präsidenten des Senats, der als Bürgermeister bezeichnet wird“. Das ist natürlich richtig, war mir aber spontan gar nicht bekannt. Dafür kenne ich aber den Unterschied zwischen dem Bürgermeister, dem Gouverneur und den Senatoren von/aus New York. Offenbar bin ich selbst Opfer der US-Fixierung unserer Medien geworden.
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