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Titel: Die neue Spießigkeit

Datum: 28. August 2020 um 13:30 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Rezensionen, Wertedebatte
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Manche erinnern sich vielleicht noch an den Medienhype um die „Neue Bürgerlichkeit“, der etwa Anfang der 2000er Jahre begann. Wahrscheinlich waren diese Diskussionen die Vorboten einer neuen Spießigkeit, die der Ende 2019 verstorbene österreichische Soziologe Karl Kollmann in seinem letzten Buch mit dem Titel „Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment“ aufs Korn nimmt. Seine These: Die Rebellion gegen den verstockten Nachkriegskonservatismus ist zu einem neuen Establishment erstarrt, das sich durch soziale Ungleichheit nicht aus der Ruhe bringen lässt. Unser Autor Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.

Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch von Karl Kollmann ist sperrig zu lesen. Und das liegt nicht an seiner Sprache. Sein Buch ist leicht verständlich geschrieben, bisweilen sogar etwas zu alltagssprachlich. Was es sperrig macht, ist, dass hier jemand geschrieben hat, der echt sauer war. Die Folge: Bisweilen ist es doch etwas ressentimentgeladen. Damit macht Kollmann es dem von ihm entblößten linksliberalen Milieu etwas zu leicht, ihn als Autor zu diffamieren und nach dem Muster, das er selbst treffend beschrieben hat, in die rechte Ecke zu stellen. Aber da gehört er nicht hin. Auch wenn er an einigen Stellen im Buch richtig analysiert, aber unsinnige Schlussfolgerungen zieht (zum Beispiel beim Thema „Erben“ auf Seite 196). Man könnte sagen, Karl Kollmann war so etwas wie ein Jan Fleischhauer auf altlinks. Für ihn sind die konkreten Lebensbedingungen und Lebensrealitäten entscheidend für eine politische Einordnung, Bewertung und Positionierung. Und in seinem Buch verhehlt er nicht, dass er von der identitätspolitischen Linken nichts, aber auch gar nichts hielt. Seine Milieubeschreibungen sind dementsprechend polemisch, böse und gnadenlos. Aber eben auch ein Lesegenuss. Denn sie treffen fast immer den Nagel präzise auf den Kopf. Und deshalb lohnt sich die Lektüre eben doch. Denn Kollmann beschreibt sehr treffend die Scheinheiligkeit, den Hochmut, die Infantilitäten und die Feindseligkeit und Vernichtungslust des linksliberalen, städtischen Mittelschichtmilieus, das sich selbst ja nur allzu häufig für den Gipfel der Schöpfung hält, was Lebensstil und Moral angeht.

Der Autor

Karl Kollmann wurde 1952 im niederösterreichischen Heidenreichstein geboren und war promovierter und habilitierter Soziologe und Ökonom. Sein beruflicher Weg führte ihn vom Verein für Konsumenteninformation (VKI) zur Kammer für Arbeiter und Angestellte (AK), wo er ab 2002 bis zu seiner Pensionierung 2012 stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung Konsumentenpolitik war. Bis Ende 2018 war er Vorsitzender des Verbraucherrats beim Austrian Standards International. Er verfasste eine Vielzahl an wissenschaftlichen und journalistischen Beiträgen in Zeitungen, Zeitschriften, Fachjournalen und Online-Zeitschriften und war Mitherausgeber des Jahrbuchs für Nachhaltige Ökonomie. Wie schon erwähnt verstarb er im September 2019.

Über sich selbst schreibt er in seinem Buch, dass er in seiner Familie und Generation das einzige Kind war, das studieren konnte:

„Üblicherweise werden solche Kinder entweder überangepasst und identifizieren sich mit dem früher als solchem nur unbewusst empfundenen Aggressor, zu dessen Milieu sie jetzt endlich zugehören (wollen). Oder sie werden nie im neuen Milieu heimisch und bleiben fremd. Die schmähliche Anpassung dürfte mir erspart geblieben sein, jedoch wirklich vertraut bleibt oder wird man dann nirgendwo mehr. An keinem Ort ganz zugehörig, also als sozialer Grenzgänger, hat einer jedoch die Chance des kühlen und scharfen Blicks, wenn zumindest das ein kleiner Trost sein kann“ (S. 10).

Seine Motivation zum Soziologen erklärt er so:

„Wie im vorvorletzten Absatz hinreichend klar geworden sei dürfte, war ich seit meiner Jugend mit der Gesellschaft, in der ich lebe, eher unzufrieden, trotz des möglichen Aufstiegs. Zivilisiert, wenn auch eher ärmlich aufgewachsen, hat mich weder unverhohlene Anpassung noch Anomie (die Unfähigkeit, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen; UB) erfasst und mich dann zwangsneurotisch, hysterisch, unleidlich, kriminell oder zum Terroristen werden lassen. Sondern die indirekte Sublimationsleistung (Sublimieren = ins Erhabene steigern, läutern, verfeinern; UB) der Zivilisation, diese mächtige und doch gewaltsame friedensstiftende Kraft, hat mich dazu gebracht, das Interesse der Frage zuzuwenden, warum denn diese Gesellschaft (genauer: diese Gesellschaften der Welt) so unfreundlich, ungerecht, strukturell gewalttätig und für viele Menschen so mies ist. Warum können Menschen nicht in Frieden miteinander leben, sei es im Kleinen, etwa in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, oder im Großen? Warum gibt es charakterlich gute und viel zu oft charakterlich schlechte, gehässige Menschen? Unterschiedliche gesellschaftliche Systeme haben daran übrigens nichts geändert, überall ließen sich zu viele miese Charaktere finden“ (S. 12).

Die Milieus unserer Gesellschaft

Kollmann unterscheidet in unserer gegenwärtigen Gesellschaft zwischen zwei Großmilieus: Die Postmaterialisten, die er auch als „die neuen Biedermenschen“ bezeichnet, und die sich nach seiner Diagnose als fortschrittliche, weltoffene und vor allem tonangebende Großgruppe der gegenwärtigen Gesellschaft verstehen. Die andere Großgruppe besteht nach seiner Definition aus den eher konventionell, bodenständig gebliebenen Traditionalisten, den Konservativen, die heute mitunter als „rechts“ verachtet würden oder gar unter „Nazi-Verdacht“ gestellt würden. Der Autor sagt selbst, dass er mit dieser Aufteilung vereinfache:

„Die Feststellung von diesen zwei Milieus ist natürlich eine grobe Vereinfachung, genauer hingesehen sind es ohnedies vier Milieus: die neue linksliberale urbane akademische Mittelschicht, die alte traditionelle Mittelschicht, die mehr und mehr abgehängte traditionelle Unterschicht und dann eine kleine Oberschicht, die wirklich Wohlhabenden, über die allerdings die wenigsten Bescheid wissen“ (S. 7).

Kollmann hat sein Buch über eine Zeitachse strukturiert und schildert ausführlich die Entwicklung seit den 1960er-Jahren, weil er der Auffassung ist, dass man die heutigen gesellschaftlichen Zustände und „die neuen Biedermenschen“ nur verstehen kann, wenn man sie als die Nachfahren der 68er-Generation begreift. Für meinen Geschmack ist dieser historisch-soziologische Überblick allerdings etwas langatmig ausgefallen. Außerdem enthält er einige Passagen, bei denen ich wirklich ratlos bin, was er damit sagen will. Das von ihm so gut beschriebene Milieu der Linksliberalen würde ihm dafür garantiert den Nazi-Verdacht anhängen. Denn er schreibt an einer Stelle von einer „von den Siegermächten indoktrinierten Schuldkultur der Mitteleuropäer“. Wie ich schon sagte: Das Buch ist an einigen Stellen sperrig geschrieben.

Die „urfaschistische“ Falle

Die „urfaschistische Falle“ nennt Kollmann einen Abschnitt im 7. Kapitel des Buches. Darin kritisiert er, dass es ein großes Versäumnis 68er-Generationen gewesen sei, dass sie gegenüber ihrer eigenen sozialen Gruppe viel zu unkritisch gewesen seien, sich diese schöngeredet und nicht hinterfragt hätten:

„War man für entspannteres, alternatives Leben und bessere Musik, so hieß das, dann sind das die Guten, und wie diese Guten sozial ticken, hat vorerst nicht weiter interessiert. Hauptsache man gehörte dazu. Es wurde zwar viel über eine bessere Gesellschaft geredet, mitunter gelesen und geschrieben, aber wie soziale Mechanismen nun wirklich funktionieren, war nicht von Belang. Und das ist bis heute so geblieben, das linksgrüne Milieu etwa hat sich in den letzten Jahrzehnten überhaupt kein Wissen zum Thema Gruppenpsychologie, zur grundsätzlichen menschlichen Verfasstheit, also zu den Basics, wie das Soziale funktioniert, und damit zum – um einen Ausdruck von Umbert Eco an dieser Stelle zu verwenden – urfaschistischen, ur-archaischen Charakter der Gruppen und Gemeinschaften angeeignet, geschweige denn das thematisiert“ (S. 131-132).

Seine Schlussfolgerung:

„Unsere menschlichen Gruppen sind keine harmonischen und netten Gebilde, sie bestrafen Abweichung, Renegatentum, Unterschiedlichkeiten, individuelle Differenz meist unerbittlich. Da hat sich wohl seit den steinzeitlichen Sammlern und Jägern, den mittelalterlichen städtischen Kommunen und den modernen Freundeskreisen nichts, an sich überhaupt nichts geändert. Insofern sind Gruppen, Gruppierungen, Vereine, traditionelle Parteien, moderne Grüne, Hooligans, postmoderne Feminist*innen und alle anderen Grüppchen ähnlicher Art, an sich nur alte Formen in neuen Schläuchen: immer wird, wer nicht mittut, hinausgedrängt und ausgeschlossen“ (S. 131).

Das klingt in manchen Ohren vielleicht so, als ob hier ein alter frustrierter Mann, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist, klagt und jammert. Bei Feministinnen und Grünen soll es genauso zugehen wie bei Hooligans oder Steinzeitmenschen? Na, ist denn das nicht übertrieben? Das sind doch alles so zivilisierte Menschen! Der Gründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hat es aber im Prinzip genauso gesehen. Er schrieb (frei aus dem Gedächtnis zitiert) „Der Firnis der Zivilisation ist dünn“. Und wenn man sich ansieht, was für Vernichtungsfeldzüge im Rahmen der „Cancel Culture“ neuerdings auch in Deutschland im Namen der guten Sache praktiziert werden, dann kann man nur sagen: Der Mann hat Recht. Man sollte nicht glauben, dass es bei den „guten“ Linksliberalen nicht auch ein hohes Maß an Anfälligkeit für hochgradig aggressives und faschistisches Denken und Handeln gibt.

Die systematische Selbstüberschätzung vieler Menschen

Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt, den auch Kollmann thematisiert, und der auch hier auf den NachDenkSeiten immer wieder Thema ist (siehe zum Beispiel im Text „Flüchten oder Standhalten“): Konformitätsdruck. Kollmann schreibt dazu:

Konformitätsdruck schleicht sich von selbst und meist unbemerkt ein, wo sich mehr als zwei Leute gruppieren. Dominante Meinungen in der Gruppe schaffen still und leise ein Framing, also eine Rahmung der eigenen Wahrnehmung und der anderen Gruppenmitglieder. Öfter geäußerte Haltungen bewirken selbst bei einem zufälligen Empfänger passives Lernen (Lernkurve: je öfter jemand eine Meinung hört, desto geläufiger ist sie ihm). Gruppen und Gemeinschaften produzieren genau damit Gruppendenken, heute modisch oft als Filterblase oder, noch moderner, als ‚bubble’ bezeichnet. Menschen sind tief geprägt vom Bestreben nach Dissonanzminderung, also dem Vermeiden widersprechender Meinungen in der eigenen Anschauung, damit sind sie ausgesprochen anfällig für Konformität. Ein Ausbrechen aus diesem Konformitätsdruck ist schwierig, mitunter gelingt das durch Reaktanz (Widerstand gegen Beeinflussung, wenn sie als solche erkannt wird, wenn man etwa darauf aufmerksam gemacht wird, dass man jetzt mit einer bestimmten Botschaft gerade manipuliert wird). Die meisten Menschen glauben jedoch, selbst wenig beeinflussbar zu sein, das ist eine systematische Selbstüberschätzung. (….) Durch Konformitätsdruck zustande gekommen, bleibt dann dem Einzelnen beim Verlust seines eigenständigen Denkens immerhin der wärmende Stallgeruch des Wir-Gefühls. Das hat bei den mittelalterlichen Hexenverbrennungen gut (im Sinne der Gesellschaft damals) funktioniert, im Faschismus, Stalinismus und Maoismus war das ebenso. Und das lässt sich recht gut teilnehmend im Fernsehen beobachten, wenn Parteien einen Wahlsieg bejubeln und dabei johlen, schreien und feiern. Sich mit seiner Gruppe identifizieren, ist menschliche Verfassung und hier hat sich nichts geändert. Die 68er-Bewegung hatte so eine zweite Phase der Aufklärung schlichtweg vergessen und nicht einmal versucht, die Psychologie oder diesen ’Urfaschismus’ der Gruppe aufzubrechen“ (S. 133-134).

Die postmaterialistischen Linksliberalen sind alles andere als Konsumasketen

Ein heute politisch sehr einflussreiches Erbe der 68er ist die Idee der Konsumkritik. Auch wird das linksliberal-grüne Milieu gerne als „postmaterialistisch“ (post = nach) bezeichnet, also als ein Milieu, das von seinen Werten her nicht mehr materialistisch ausgerichtet ist. Kollmann schreibt dazu vollkommen zu recht, dass dies eine totale Fehleinschätzung sei:

„Ein weit verbreiteter Fehler der Rezeption der Inglehartschen Ergebnisse und Daten (Roland Inglehart war mit seiner Studie ‚Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt’ von 1989 quasi der Erfinder der Postmaterialismusthese; UB) war jedoch, diese zeitliche Entwicklung als ein Umbrechen von materiellen zu postmateriellen Haltungen misszuverstehen. Nämlich anstelle der herkömmlichen Interessen an materiellen Gütern und Infrastrukturen, also Konsum, nun eine Zuwendung zu nicht an Güter gebundenen Sachen zu unterstellen. So als wären die Menschen, die Jüngeren vor allem, nun bescheidener geworden und hätten Konsum gewissermaßen hinter sich gelassen. Nein – es war eine additive Entwicklung: auf der Basis materiell guten Lebens ging es nun um mehr Mitbestimmung und persönliche Gestaltungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten, hat man halbwegs guten Wohlstand, kann man beim Zuwachs etwas Pause machen, man braucht ihn nicht immer noch besser und größer, sondern jetzt kann es um gutes Gewissen beim Konsum und um mehr Einfluss auf die Wirklichkeit, um eine Art von Selbstverwirklichung gehen“ (S. 64-65).

Mit fiel dazu ein Satz von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu ein, den ich nach meiner Erinnerung in „Die feinen Unterschiede“ gelesen habe: Konsumkritik ist eine Idee von Konsumenten. Genau das ist ein Punkt, denke ich, der vielen Menschen das linksliberale Milieu so unsympathisch macht: Sie glauben allen Ernstes, sie konsumieren auf einer moralisch höherwertigen Ebene und halten sich auch deshalb für die moralisch Überlegenen. Dabei sind sie oft die viel schlimmeren Materialisten als bekennende Materialisten aus der Arbeiterklasse, deren unerfüllter Wunschtraum es ist, einen Porsche zu fahren. Kollmann führt dies in einem eigenen Abschnitt auch noch näher und schön ironisch aus. In dieser bösen Ironie liegt seine große Stärke. Hier noch mal ein Beispiel:

Die premium-veredelte Mittelklasse

„Auch beim Konsum sogenannter Premium-Mediocrity-Produkte geht es um (…) die Signalwirkung. Allerdings nicht mehr wie beim klassischen Luxusprodukt, beim Premiumauto, beim Porsche, um eine Zeigefunktion gegenüber der gesamten sozialen Umwelt, etwa den vielen anonymen Autofahrern, mit denen man im Straßenverkehr zu tun hat. Sondern es geht um die Peergroup, die Freunde und Bekannten. Durchschnittsware wäre das gewöhnliche Mittelmaß der alten Mittelschicht oder Unterschicht, gewissermaßen das BMW-Auto der jungen Prolls und jungen Migranten, das Pril, Persil oder die Siemens-Waschmaschine der Mittelschicht-Mammi. Viel zu gewöhnlich, igitt. Das gesuchte Produkt ist jenes, das vom Durchschnitt abhebt, über das man eine kleine Geschichte erzählen oder begründen kann, warum sie nun so besonders ist. Der Flohmarkt-Fön (egal welche Marke) geht durch, ebenso die vom Großvater geerbte Rolex-Armbanduhr. Neu gekauft wäre sie nur prolo, neureich. Um beim erwähnten Fön zu bleiben: ein Profigerät, das Friseure verwenden, das geht wieder, wegen Usability, Umweltschutz und Nachhaltigkeit usw.“ (S. 168).

Mir fällt dazu ein, dass die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli, Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei, einmal einen furchtbaren Shitstorm erleiden musste, weil auf einem Bild zu sehen war, dass sie eine sehr teure Uhr einer Edelmarke trug.

Die Bobo-Linke – blauäugige, narzisstische Dogmatiker

Bobo – diese Abkürzung steht für „Bourgeois“ (satter, zufriedener Besitzbürger) und „Bohemien“ (Mensch, der ein unbürgerliches und ungebundenes Künstlerleben führt). Und genau so sieht Kollmann das linksliberal-grüne Milieu:

„Die Linke, genauer: das linksliberale Milieu der Postmaterialisten, die Bobos und Hipster, sind behäbige Romantiker im Spätkapitalismus. Die Härte und Ungerechtigkeit der Arbeitswelt und des alltäglichen Lebens ist mittlerweile aus dem Vokabular der Linken verschwunden, beklagt sich Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims. (siehe dazu die Rezension auf den Nachdenkseiten). Dies offenbar, da sie, die Linken, nun aus der Mittelschicht kommen, oder die Herkunft aus der Unterschicht umfassend verdrängt und sich an die urbane Mittelschicht ein- und angepasst haben. (….) Alte und neue Linke (das linksliberale, grüne, multikulturelle Milieu) stehen sich heute diametral gegenüber. Verkürzt gesagt: der ewige Kampf gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit und der neue Kampf gegen individuelle und kosmopolitische Respektlosigkeit können nichts miteinander anfangen. Dabei hatte die alte 68er-Linke damals beides halbwegs gut im Blick. Allerdings, alte Linke, vor allen die Undogmatischen und Lernfähigen, bleiben heute kaum sichtbar – sie sind zum einen wohl ausgestorben, zum anderen haben sie sich eingeschüchtert verzogen oder stehen einfach nur still und bescheiden am Rand“ (S. 185).

Kollmanns Schlussfolgerung

„Der beschriebene Konflikt, die Kluft zwischen den zwei großen Milieus, dem kleineren linksliberal-multikulturellen Milieu und dem größeren traditionellen (kommunitaristischen), wird sich wohl nicht auflösen lassen. Ähnlich wie zerstrittene, gehässige Nachbarn, will jedes Lager – zumindest die Aktiven – nur recht behalten, sich durchsetzen, die andere Seite beschädigen, zum Aufgeben zwingen oder vernichten. Das traditionelle Milieu hat dabei die schlechteren Karten, denn kulturelle Hegemonie haben längst schon die Linksliberalen übernommen. Für eine breitere Radikalisierung, außer am linksextremen und rechtsextremen Rand, spricht allerdings wenig, dafür sorgen schon die Konsumgesellschaft und der Erwerbsarbeitszwang, um an jener zu partizipieren“ (S. 203).

Mein Resümee

Kollmann porträtiert das linksliberale Milieu sehr gut. Das ist seine Stärke, und das macht das Lesevergnügen an seinem Buch aus. Es enthält aber auch, wie schon ausgeführt, einige seltsame Passagen, die man eher bei einem traditionellen CDU-Politiker vermutet hätte oder einem Autor wie dem ehemaligen ZDF-Redakteur Peter Hahne. Ich kann sein Buch deshalb nicht uneingeschränkt für jeden empfehlen. Da es auf Amazon keine Leseprobe zum Buch gibt, hier noch das Inhaltsverzeichnis:

Inhalt

Kleine Vorbemerkung

  1. Vergangenheitsbewältigung 2.0: Die 1960er-Erfahrungen
  2. Der Zerfall kam dann doch schnell
  3. Die Ölpreiskrise sprengt den Optimismus – die zweite Hälfte der 1970er- und 1980er-Jahre
  4. Etwas von „postmaterialistischem“ Klima
  5. Moderne Lebensverhältnisse
  6. Die große Ungerechtigkeit – soziale Strukturen
  7. Milieus – Verklumpte soziale Gruppen
  8. Die Gesellschaft bleibt ein großes Internierungslager
  9. Die neue linksliberale Mittelschicht wird Meinungsführer
  10. Normalisierungen: neue Standards, neue Kultur
  11. Die Bobo-Linke – blauäugige, narzisstische Dogmatiker

Nachdenklicher Epilog

Karl Kollmann: Die neuen Biedermenschen. Von der 68er-Rebellion zum linksliberalen Establishment, Wien 2020, 206 Seiten, 19,90 Euro.

Titelbild: Promedia


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