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Titel: Weshalb Großbritanniens Leiden an Covid ein Menschheitsverbrechen ist
Datum: 1. August 2020 um 13:00 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Länderberichte, Markt und Staat, Neoliberalismus und Monetarismus, Privatisierung öffentlicher Leistungen
Verantwortlich: Redaktion
Eines der Länder, das die Pandemie weltweit am heftigsten getroffen hat, ist das Vereinigte Königreich. Es rächt sich, dass das staatliche Gesundheitssystem, der National Health Service, schon seit Jahren entkernt wird. Bereits Ende der 1970er Jahre stand die Privatisierung dieses nationalen Heiligtums auf Margaret Thatchers Agenda. Sie wurde bewusst schleichend, kaum merklich betrieben. Schließlich hätte den Regierenden sonst massiver öffentlicher Protest geblüht. Wie weit der Privatisierungsprozess schon gediehen ist, lässt sich jetzt schlaglichtartig an den Verheerungen durch das Coronavirus ablesen. Die Briten hatten nicht einfach nur Pech. Vielmehr hat sie ihre politische Führung ins Messer laufen lassen, schreiben die beiden britischen Ärzte Sarah Gangoli und Bob Gill im folgenden Artikel. Aus dem Englischen von Susanne Hofmann.
Als rationaler Mensch kommt man nicht umhin zu fragen, weshalb Großbritannien in der Covid-19-Pandemie so schlecht abschneidet. Es ist doch ein reiches Land mit der sechstgrößten Wirtschaft der Welt, einer stolzen Geschichte öffentlicher Gesundheitsversorgung und einem Gesundheitssystem (National Health Service, NHS), das aus der Asche des Zweiten Weltkrieges erstanden ist. Es bildet die tragende Säule des Sozialstaates, bietet allen Bürgern unabhängig von ihrem Portemonnaie eine umfassende Versorgung. Diesen Vorzügen zum Trotz gibt es eine Übersterblichkeit von mehr als 50.000 Menschen, die lediglich von den USA übertroffen wird, die die höchste Übersterblichkeit in der Welt haben.
Um diese Katastrophe zu verstehen, ist es unerlässlich, die neoliberalen Reformen zu bewerten, die diese Institution in den vergangenen Jahrzehnten stetig verändert haben. Da wir diesen tückischen Prozess als Allgemeinmediziner und NHS-Ärztin seit fast 27 Jahren hautnah erleben und beobachten, sind wir betroffen, jedoch nicht überrascht.
Zwei Jahre nach der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2008 begann die Koalition der Konservativen und Liberaldemokraten ihr Austeritäts-Programm zu verfolgen. Dabei handelte es sich um einen ökonomisch ignoranten Plan, der den falschen Vergleich zwischen Makroökonomie und den Finanzen eines Privathaushalts zog, ein Ansatz, den die frühere Premierministerin Margaret Thatcher populär machte.
Eine getäuschte Öffentlichkeit akzeptierte deren Narrativ und damit den Stillstand bei der Gehaltsentwicklung und Einschnitte bei der öffentlichen Daseinsvorsorge: Eine gewaltige Lüge übertrug die Schuldenlast von Bankenrettungsschirmen auf die Schultern der Schwächsten. Für den NHS bedeutete dies ein Jahrzehnt, in dem ihm die Finanzierung entzogen und die historisch durchschnittlichen jährlichen Steigerungen der Gesundheitsausgaben von vier auf ein Prozent reduziert wurden. Gleichzeitig wurde der NHS weiter restrukturiert, ein Prozess, der in den 1970ern begann, sich aber im Austeritäts-Nebel beschleunigte.
Mark Britnell, ein früherer NHS-Generaldirektor für die Auftragsvergabe erklärte dies 2010 so: „Künftig wird der NHS ein staatlicher Versicherungsanbieter sein und keine Leistungen mehr direkt liefern. In Zukunft wird ‘jeder willige Anbieter‘ aus dem privaten Sektor Güter und Dienstleistungen an das System verkaufen können. Dem NHS wird keine Gnade erwiesen, und die beste Zeit, davon zu profitieren, wird in den nächsten Jahren sein.“
Der Health and Social Care Act von 2012 stellte sicher, dass die Vorteile genutzt wurden und schuf einen vollständig marktorientierten NHS. Die „Verpflichtung“ des Ministers, ein Gesundheitswesen bereitzustellen, entfiel und wurde ersetzt durch die „Verpflichtung, Gesundheitsdienstleistungen zu fördern“. So wurde die Grundvoraussetzung des NHS abgeschafft. Es wurden neue Finanzierungsstrukturen errichtet, die die privaten Krankenversicherungsgemeinschaften in den USA kopierten (die als Clinical Commissioning Groups bekannt sind), um die Auslagerung medizinischer Dienstleistungen zu forcieren.
Es wurden QUANGOS (quasi nicht-staatliche Organisationen) geschaffen – NHS England und Public Health England –, die von Regierungsbeamten geleitet wurden. Die fest etablierte dezentralisierte Infrastruktur der öffentlichen Gesundheitsversorgung wurde abgebaut und die Erfahrung und Expertise der Institution zusammen mit 10.000 Stellenstreichungen und einer Mittelkürzung um 700 Millionen Pfund in einem Zeitraum von fünf Jahren fortgeworfen.
Das Brexit-Referendum von 2016 erzeugte eine breite öffentliche Anti-Establishment-Stimmung. Der Schmerz der Austerität wurde durch das Balsam des Nationalismus und der Ablehnung der europäischen Bürokratie gelindert. Es kam eine Mehrheit für das Verlassen der EU heraus, was Großbritannien in eine politische Zwickmühle brachte und eine erbitterte Spaltung des Landes bewirkte.
Ein Land mitten in einer Produktivitätskrise, die darauf zurückzuführen ist, dass eine Regierung nach der anderen die Industrie abgebaut, Arbeitsplätze prekarisiert und die Wirtschaft dem Finanzmarkt unterworfen hat, beseitigte auch grundlegende Sicherungssysteme. Wachsende Ungleichheit, die Popularität von Null-Stunden-Verträgen sowie steigende Lebenskosten führten zu Unsicherheit und dazu, dass zehn Millionen Haushalte ohne Rücklagen dastanden.
Bis zum Jahr 2019 war der NHS in die Knie gegangen: Ein Jahrzehnt der Kürzungen mündete in die Streichung von 17.000 Betten, es fehlten 40.000 Pflegekräfte. Großbritannien hatte nun die wenigsten Ärzte und Krankenhausbetten pro Kopf in Westeuropa.
Ein dermaßen geschwächtes Gesundheitssystem und eine dermaßen geschwächte Bevölkerung mussten nun diese Pandemie abwehren, mit einer menschenverachtenden Regierung am Ruder, die der Maxime „Brexit über allem“ folgte.
Da nun die Vorarbeiten erledigt waren, konnten die Überreste des NHS nun den Unternehmen übergeben werden. Die Armen waren nicht mehr abgesichert; ihre Misere hatte der Satiriker Rick Mayall 1980 schon vorhergesagt: „Wissen Sie, in der guten alten Zeit war man arm, man wurde krank und man starb. Und doch scheinen die Leute heutzutage zu denken, dass sie ein gottgegebenes Recht darauf haben, behandelt zu werden!“
Die Parlamentswahl 2019 ergab eine erdrückende Niederlage für Labour. Die einfache Botschaft der Tories “Get Brexit Done”, unablässige Antisemitismus-Vorwürfe an die Adresse von Labour, die Attacke vonseiten rechter Medien und parteiinterne Zerwürfnisse führten einen ermutigten Boris Johnson in einem Erdrutschsieg zurück an die Macht.
Er hatte alle Hände voll zu tun, war vertieft in Churchill-Fantasien und darauf bedacht, sein Vermächtnis zu sichern und er freute sich über die Aussicht, in einem Handelsabkommen mit den USA Arbeiterrechte, Umwelt- und Gesundheitsschutz zu schreddern. Da kam aus Wuhan die Nachricht von einem tödlichen neuen Coronavirus, Covid-19, durch das einige Infizierte schwere Atemprobleme bekamen, die eine lebenserhaltende Beatmung erforderlich machten. Wenig später wurde die Mensch-zu-Mensch-Übertragung bestätigt. Weitere Länder, darunter Südkorea, meldeten Fälle und am 30. Januar erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO einen „internationalen Gesundheitsnotstand“.
Am 18. April schlug ein Artikel der Sunday Times mit dem Titel „Coronavirus: 38 Tage, in denen Großbritannien in die Katastrophe schlafwandelte“ wie eine Bombe ein. Er enthüllte, dass Boris Johnson fünf Kabinetts-Sitzungen, in denen es um das Virus ging, geschwänzt hatte, dass Aufrufe, Schutzkleidung zu bestellen, ignoriert wurden und dass die Warnung von Wissenschaftlern auf taube Ohren stieß. Versäumnisse im Februar könnten tausende Menschenleben gekostet haben.“
Johnson war von persönlichen Angelegenheiten vereinnahmt und damit beschäftigt, seinen historischen Brexit über die Bühne zu kriegen. Die Notsitzungen der Regierung wurden von anderen geleitet, obwohl international die Sorge wegen des Virus wuchs. Seine Minister und wissenschaftlichen Berater versicherten vielfach, wie gut der NHS gerüstet sei und spielten die Bedeutung der pandemischen Bedrohung herunter.
Die Politik der Herdenimmunität, wie sie der wissenschaftliche Chefberater der Regierung, Sir Patrick Vallance, erläuterte, sollte dazu dienen, die Übertragung zu verlangsamen, um die Überforderung des NHS zu verhindern. Währenddessen sollte die Bevölkerung eine natürliche Immunität aufbauen, indem sie sich infizierte. Großbritannien sollte die grundlegenden Maßnahmen zur Eindämmung in Form von Testungen, Kontaktverfolgung und Quarantänemaßnahmen, die in vielen Ländern so erfolgreich ergriffen wurden, in den Wind schlagen.
Wiederholte Ermahnungen der WHO, zu „testen, testen, testen“, stießen auf taube Ohren und Johnson fasste die abqualifizierte Herdenimmunität wie folgt zusammen: „Eine der Theorien besagt, dass man sozusagen den Kopf hinhalten, in einem Rutsch damit fertig werden könnte und dass man der Krankheit erlauben könnte, die Bevölkerung quasi zu durchdringen.“
Bis Anfang März hatten mehrere europäische Länder, darunter Großbritannien, Todesfälle durch das Coronavirus gemeldet. Italien und Griechenland hatten Schulen geschlossen und öffentliche Versammlungen verboten. Trotz des Fehlens klarer Regierungsanweisungen beschlossen einige britische Organisationen und Sportvereine, Veranstaltungen abzusagen. Johnson jedoch ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit 82.000 anderen Zuschauern ein Six Nations Rugbyspiel zu besuchen.
Dramatische Videoaufnahmen aus Norditalien zeigten, wie das italienische Gesundheitssystem in die Knie ging, obwohl es über doppelt so viele Intensivbetten wie Großbritannien verfügte. Freunde, die als Anästhesisten auf Intensivstationen arbeiteten, zeigten sich angesichts der Bedrohung beunruhigt über die leichtsinnige Untätigkeit und die mangelnde Vorbereitung.
Eine Erhebung des britischen Ärztebundes ergab, dass überwältigende 99 Prozent der Befragten sagten, sie hätten das Gefühl, der NHS sei für die Pandemie nicht gerüstet. Auch wiesen sie auf Personalmangel und fehlende Schutzausrüstung hin. Von den 18 Millionen Menschen, die zwischen Januar und März nach Großbritannien einreisten, wurden weniger als 300 unter Quarantäne gestellt. Am 12. März stellte die Regierung Massentestungen und die Kontaktverfolgung ein.
Johnson hatte seine Prioritäten bereits am 3. Februar in einer Rede dargelegt, die auf Twitter rasend schnell verbreitet wurde: „… und wenn das Risiko besteht, dass neue Krankheiten wie das Coronavirus eine Panik und einen Wunsch nach Marktsegregation auslösen, die über das medizinisch Rationale hinausgehen und handfesten und unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichten, dann braucht die Menschheit in diesem Augenblick eine Regierung, die zumindest bereit ist, sich kraftvoll für die Freiheit des Austauschs einzusetzen. Ein Land, das dazu bereit ist, die Clark-Kent-Brille abzunehmen, in die Telefonzelle zu hechten und mit wehendem Umhang herauszustürmen als der mit Superkräften ausstaffierte Verfechter des Rechts der Völker der Erde, untereinander frei zu handeln.
Und hier in Greenwich, in der ersten Februarwoche 2020, kann ich Ihnen in aller Bescheidenheit sagen, dass das Vereinigte Königreich dazu bereit ist.“
Johnsons Bekenntnis zum freien Austausch und seine Ansichten zur drohenden Überbevölkerung passten zu seinem Laissez-Faire-Ansatz hinsichtlich der Pandemie. Einige rechte Kommentatoren warnten vor einem Schaden für die Wirtschaft. Sie wollten lieber, dass die Älteren und Kranken für das übergeordnete Wohl zugrunde gingen.
Laut einem Bericht der Sunday Times vom 22. März umriss der Berater des Premierministers Dominic Cummings bei einem privaten Termin Ende Februar die Strategie der Regierung wie folgt. „Die Anwesenden sagen, sie bestand aus ‚Herdenimmunität und dem Schutz der Wirtschaft, und sollte das bedeuten, dass einige Rentner sterben, tja schade‘.“
Die britische Regierung ließ zu, dass sich das Coronavirus ausbreitete und eine Bevölkerung heimsuchte, die bereits durch Austerität geschwächt war. Wissenschaftliche Analysen gehen von einer Übersterblichkeit von 120.000 Menschen aufgrund der Austeritätsmaßnahmen sowie einer sinkenden Lebenserwartung und einer Zunahme der Säuglingssterblichkeit aus. Eine Politik, die das teure, dysfunktionale, wenngleich höchst profitable US-Gesundheitssystem kopieren möchte, geht zwangsläufig einher mit vielen weiteren vermeidbaren Todesfällen. Die Untätigkeit der Regierung war vollkommen konsequent und vorsätzlich. Der Profitgedanke stand dahinter, nicht das Ziel, Leben zu schützen.
Vietnam, das eine Landesgrenze mit China teilt und 96 Millionen Einwohner hat, meldete keine Coronavirus-Todesfälle. Der indische Staat Kerala mit 34 Millionen Einwohnern hatte zum 24. Mai nur sechs Tote zu beklagen. Beide Beispiele zeugen davon, wie effektiv einfache, intensive Maßnahmen sind, die die Verbreitung der Krankheit drastisch eindämmen und Leben retten konnten.
Großbritanniens Ansatz, der darin bestand, wertvolle Vorbereitungszeit zu verschwenden, widersprüchliche Botschaften auszusenden und das Risiko herunterzuspielen, wirkte sich völlig anders aus. Intensivstationen füllten sich mit Coronavirus-Patienten, in Spitzenzeiten starben knapp 1000 Menschen am Tag. Ärzte und Pflegepersonal harrten aus, ohne angemessen mit geeigneter Schutzausrüstung ausstaffiert zu sein. Es kursierten Berichte, dass einige zu ihrem Schutz auf Plastik-Müllbeutel und selbstgemachte Masken zurückgriffen.
Eine BBC Panorama-Dokumentation legte offen, wie die Entscheidung der Regierung, das Coronavirus nicht mehr als Infektionskrankheit mit „hoher Konsequenz“, sondern lediglich als Infektionskrankheit mit „geringer Konsequenz“ einzuordnen, zur neuen Empfehlung an medizinische Fachkräfte führte, lediglich Plastikschürzen und Papiermasken zu verwenden. Dies war nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückzuführen, sondern auf die vollkommen unzureichenden Lagerbestände an Schutzmaterialien.
Eine Pandemie-Vorsorge-Übung im Jahr 2016 hatte gezeigt, dass es zu wenige Beatmungsgeräte gab. Den Empfehlungen des Berichts wurde nicht Folge geleistet. Wer sich nicht vorbereitet, bereitet sich auf das Scheitern vor. Diesen Preis mussten mehr als 220 Ärzte und Pflegekräfte bezahlen, die bislang (Stand 25. Mai) am Coronavirus gestorben sind.
Es ereigneten sich mehrere Tragödien. Patienten kämpften auf Intensivstationen um ihr Leben, das Virus verbreitete sich ungehindert, doch am erschütterndsten war das Schicksal besonders gefährdeter älterer Bewohner von Pflegeheimen. Statt einen „Schutzring“ um sie zu legen, wie der Gesundheitsminister Matt Hancock behauptete, wurden Patienten in Pflegeheimen abgeladen, ob man nun bei ihnen das Coronavirus festgestellt hatte oder ob sie getestet waren. Diese sogenannte Politik des „harten Besens“ diente dazu, Kapazitäten in den Krankenhäusern freizugeben.
Ein Kardiologe beschrieb es folgendermaßen: „Unsere Politik bestand darin, das Virus loslegen zu lassen und dann „die Älteren abzuschirmen“. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn man diese Aussage damit vergleicht, was wir tatsächlich taten.
“Wir haben bekannte Fälle, Verdachtsfälle und unerkannte Fälle in die Pflegeheime abgeschoben, die nicht vorbereitet waren. Es gab keine formelle Warnung, dass die Patienten infiziert waren, es gab keine Testmöglichkeit und keine Schutzausstattung, um Übertragungen zu verhindern. Wir haben das Virus aktiv in die Bevölkerungsgruppe hineingepflanzt, die am meisten gefährdet war. Wir haben diese Menschen ohne Schmerzlinderung sterben lassen. Die offizielle Politik bestand darin, keinen Besuch in Pflegeheimen zuzulassen.
Nachdem wir also die älteren Menschen mit einer Krankheit infiziert hatten, die zu einem unerfreulichen Ende führt, verweigerten wir ihnen den Zugang zu einem Arzt – wir verweigerten ihnen den Besuch beim Hausarzt und die Aufnahme in ein Krankenhaus. Selbst einfache Dinge wie Flüssigkeit wurden ihnen verwehrt. Effektive palliative Maßnahmen wie ein Perfusor wurden ihnen vorenthalten.“
Während des 75. Jahrestages des Sieges in Europa gedacht wurde, wurde die Generation, die die Zerstörung des Zweiten Weltkrieges durchlebt hatte, direkt und indirekt dezimiert, eine Schätzung geht von 22.000 Todesopfern aus.
Epidemiologische Modelle des Imperial College, die der Regierung und den beratenden Sachverständigen am 12. März präsentiert wurden, sagten nun voraus, dass mehr als 250.000 Menschen sterben könnten, wenn man am Plan der Herdenimmunität festhalte. Sie empfahlen, umgehend zu handeln.
Andere europäische Länder hatten Schulen und Universitäten geschlossen. Trotz wachsenden öffentlichen und medialen Drucks dauerte es weitere elf Tage, ehe die Schulen geschlossen und öffentliche Versammlungen verboten wurden. Scheibchenweise kam es zu einem teilweisen Lockdown, doch das war zu wenig und kam zu spät.
Bauarbeiter wurden als systemrelevant eingestuft und arbeiteten weiter. Der öffentliche Nahverkehr in London wurde eingeschränkt. In der Folge kam es zu überfüllten Zügen und Bussen. Ein Lockdown ist ohne die notwendigen Maßnahmen wie Testungen, Kontaktverfolgung und effektive Isolation ein stumpfes Schwert. Man hielt an dem Ziel der Herdenimmunität fest, auch wenn man es nicht so nannte.
Da man jegliche Routine-Gesundheitsversorgung ausgesetzt hatte, wurde die Arbeitsbelastung für Allgemeinmediziner und NHS-Krankenhauslabore drastisch reduziert. Öffentliche Mittel hätten zur Verfügung gestanden, um landesweit dezentrale, integrierte Teststellen und Labore mit erfahrenem Personal und vorhandenen IT-Systemen einzurichten.
Stattdessen blieb das unberücksichtigt und man richtete stattdessen drei neue öffentlich-private Lighthouse Labs ein, die laut ihrer Website „aktiv von den pharmazeutischen Unternehmen Glaxo Smith Kline und Astra Zeneca unterstützt wurden, welche Zugang zu Daten und Mitteln bereitstellten, um unsere Kapazitäten weiter zu erhöhen, die wir in Rekordtempo aufbauen. Neben dem Wellcome Trust wurde eine umfangreiche Lieferkette von Ressourcen eingerichtet, einschließlich der Unterstützung von Amazon, Boots und Royal Mail, um weitere Ressourcen in unsere Einrichtungen zu bringen.“
Arztpraxen wurden zugunsten eines Netzwerks von 50 regionalen Testzentren übergangen, die vom Facility-Management-Riesen Serco und den Unternehmensberatern Deloitte betrieben werden sollten. Menschen mit Verdacht auf Corona wurden auf die Telefonhotline und Website der ausgelagerten Notrufzentrale verwiesen. Erfahrene NHS-Ärzte wurden vom Krisenmanagement ausgeschlossen und durch unqualifizierte Mitarbeiter ersetzt, die sich an einem rechnergestützten Flussdiagramm orientierten.
Technikgiganten wurden Verträge zugeschustert, darunter Microsoft, Google, Amazon Web Services, Palantir Technology UK und Faculty. Eine umstrittene Kontaktverfolgungs-App, die Faculty produziert hatte, wurde auf der Isle of Wight pilotiert, obwohl es Bedenken hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre und der Cybersicherheit gibt und trotz des Potentials zur schleichenden Ausweitung in Richtung Massenüberwachung.
Für jedes Problem musste eine Lösung aus dem Privatsektor her statt aus dem erprobten und bewährten öffentlichen Sektor, der nun brach liegt. Man ignorierte die Option, eine Infrastruktur im Bereich der öffentlichen Gesundheitsversorgung wiederaufzubauen, während Johnsons Regierung die Privatisierungen verdoppelte. Tägliche Unterrichtungen aus Downing Street offenbarten die Medienstrategie, die zur Anwendung kam. Der dreiteilige Slogan „Bleib zuhause, schütze die NHS, rette Leben“ war klar und effektiv, und die Mehrheit der Menschen beschränkte sich auf notwendige Fahrten und Einkäufe und arbeitete, wo möglich, von zuhause aus.
Ein Urlaubsprogramm garantierte Millionen von Menschen 80 Prozent des Gehalts. Besorgniserregend war, dass in den Notaufnahmen deutlich weniger los war und 80 Prozent weniger Menschen wegen des Verdachts auf Krebs von ihren Hausärzten überwiesen wurden. Die „Bleib zuhause“-Botschaft sowie die Angst, sich mit dem Virus anzustecken, forderte einen indirekten Pandemie-Tribut, während die Journalisten mit wenigen Ausnahmen die Regierungsentscheidungen nicht überprüften und hinterfragten.
„Unter Führung der Wissenschaft“ wurde zum geflügelten Wort, was einige von uns darauf aufmerksam machte, dass diese Wissenschaftler womöglich künftige Sündenböcke sein würden. Als der Epidemiologe Neil Ferguson öffentlich bloßgestellt wurde, weil er den Rat, die Abstandsregeln einzuhalten, in den Wind geschlagen hatte, indem er seinen verheirateten Liebhaber traf, war das keine große Überraschung. Es bot die Gelegenheit, seine Prognosen infrage zu stellen, die zum Lockdown geführt hatten.
Am Tag der Befreiung, am 8. Mai, waren die rechten Medien in Feierlaune und vermischten den Sieg über den Faschismus 75 Jahre zuvor mit dem Sieg über das Virus und erwarteten Lockerungen des Lockdowns. Zwei Tage später kam Johnson dem Wunsch in seiner Rede an die Nation mit dem neuen Slogan „Bleib wachsam. Kontrolliere das Virus. Rette Leben“ nach. Man hielt es nicht mehr für notwendig, zuhause zu bleiben.
Trotz täglicher neuer hoher Fallzahlen von rund 20.000, unverhältnismäßig wenigen Tests und minimaler Kontaktverfolgung ermunterte die Regierung die Menschen, zur Arbeit zurückzukehren und plante die Wiederöffnung der Schulen. Am Tag darauf mussten sich diejenigen, die keine Alternative hatten oder am dringendsten auf das Einkommen angewiesen waren, wieder im öffentlichen Nahverkehr drängen.
Unabhängige Experten, die offen Kritik geübt hatten, warnten vor einer zweiten Infektionswelle. Lehrer und ihre Gewerkschaften verlangten Klarheit darüber, wie man das Risiko mindern und den Abstand einhalten sollte – schwierig mit kleinen Kindern, die potentiell eine Infektion nach Hause zu ihren Familien einschleppen könnten. Einige Journalisten reagierten darauf, indem sie Lehrer als pflichtvergessen darstellten.
Nach einem Jahrzehnt der Austerität wurden kranke und ältere Menschen rasch ausgesondert. Selbst ein Narr hat eine 50-prozentige Chance, bei einer Wahl zwischen zwei Dingen richtig zu liegen. Soll man einen Pandemie-Bereitschaftsbericht implementieren: ja oder nein? Soll man eine Politik des Testens, Nachverfolgens und Isolierens betreiben: ja oder nein? Soll man angemessene Schutzkleidung für alle bereitstellen, die sie brauchen: ja oder nein? Die Ausbreitung von Infektionen auf die am meisten gefährdeten Personen in der Gesellschaft verhindern: ja oder nein? Vorhandene öffentliche Kapazitätsreserven zur Bekämpfung der Epidemie nutzen: ja oder nein? Aufträge an private Unternehmen zur Erbringung von Dienstleistungen erteilen, für die sie kein Fachwissen oder keine Erfahrung haben: ja oder nein? Eine unerprobte Tracking-App fürs Handy zulassen, wegen der es erhebliche Bedenken gibt: ja oder nein?
Die ideologisch motivierte britische Regierung hat die sozialen Determinanten für Gesundheit verschlechtert und wiederholt Maßnahmen gewählt, die die Zahl der Todesopfer erhöhen mussten.
Die Strategie der Herdenimmunität dient der Regierung immer noch als Grundlage ihres Handelns. Eine mitschuldige Presse beschönigte die vorsätzliche Schaffung einer Situation, in der es zu tausenden vermeidbaren Todesfällen kam. Die Verantwortlichen genießen Straffreiheit, sie sind sicher vor Strafverfolgung für die Entscheidungen, die sie in öffentlicher Funktion gefällt haben.
Diese perverse Ungerechtigkeit muss sich ändern. Wir haben es hier mit der Pandemie zu tun, vor der uns Gesundheitsexperten immer gewarnt haben. Unser einziger Schutz besteht darin, vorbereitet zu sein und rechtzeitig und entschlossen zu reagieren. Daran ist die Regierung grandios gescheitert.
Die BBC und weite Teile der Mainstream-Medien haben das Regierungshandeln nicht kritisch begleitet und sie nicht zur Verantwortung gezogen. Wir müssen daher alternative Stimmen in den Medien stärken und unterstützen. Wir alle können den Wandel mit herbeiführen, indem wir mit anderen von den Hintergründen unserer aktuellen schlimmen Lage sprechen und uns mehr engagieren. Wir müssen den Einfluss der Technologiekonzerne brechen, die versuchen, reale Dienstleistungen durch virtuelle, unerprobte Technologien zu ersetzen, die offensichtlich das Potential für Massenüberwachung und Kontrolle haben.
Wir brauchen eine Graswurzelbewegung, um den Neoliberalismus zurückzudrängen, der zunehmend auf Autoritarismus angewiesen ist, um den Status quo zu erhalten. Handfeste Aktionen zur Unterstützung von Schlüsselarbeitern und Lehrern, die fordern, dass klare und sichere Maßnahmen ergriffen werden, ehe sie zur Arbeit zurückkehren. Besonders dringlich ist es, den Forderungen nach Massentests, Nachverfolgung von Infektionen und Isolation Betroffener Nachdruck zu verleihen und mit dem Coronavirus infizierte Menschen dabei zu unterstützen, sich zu isolieren, um die Übertragung dieses Virus zu unterbrechen.
Dieser Artikel erschien zuerst in Green Left Weekly, Australien. Dr. Bob Gill hat den preisgekrönten australischen Journalisten John Pilger für seinen aktuellen Dokumentarfilm „The Dirty War on the NHS“ beraten. Er ist Allgemeinmediziner in London, NHS-Aktivist und Produzent des Films „The Great NHS Heist“. Sarah Gangoli ist eine NHS-Ärztin. Sie twittern unter @SarahGangoli und @drbobgill.
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