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Titel: „Wir, die Gesellschaft, sind schon selber schuld, dass wir diese ‚nukleare Teilhabe‘ noch dulden!“
Datum: 24. Juli 2020 um 9:19 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufrüstung, Interviews, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Neue Atomwaffentests, die die USA in Erwägung ziehen, die Aufkündigung des Abrüstungsvertrags INF, eine Verharmlosung in der Sprache von Politik und Medien, wenn es um die atomare Bedrohung geht: Das Thema Atomwaffen ist brandaktuell, aber nicht nur die Institutionen, auch die Gesellschaft tut sich schwer, damit umzugehen. Matthias van der Minde, der sich in seinem Buch „Die Dialektik der Bombe – Chronologie und Kritik des atomaren Zeitalters“ mit der Bedrohung auseinandersetzt, beleuchtet für die NachDenkSeiten in einem Interview die aktuellen Entwicklungen. „Die Lage“, sagt van der Minde, „ist von Beginn an komplex“, doch bedeute das nicht, dass in der Gemengelage „keine Hauptverantwortlichen mehr“ auszumachen seien. Dies ist der erste Teil eines zweiteiligen Interviews. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Gibt man bei einer großen Suchmaschine die Formulierung „nukleare Teilhabe“ ein, spuckt diese derzeit rund 58.000 Treffer aus. Was auffällt: Es gibt sehr viele Beiträge in großen Medien, die diesen Begriff gebrauchen – ganz ohne Distanzierung.
Was sind Ihre Gedanken, wenn Sie davon hören, dass in den Medien von einer „nuklearen Teilhabe“ gesprochen wird?
Gute Frage – welche Gedanken? Das Perfide an dieser Begrifflichkeit ist ja, dass sie zum einen harmlos klingt – „Teilhabe“ wirkt durchweg positiv, fast wie „Demokratie“ – und dass sie zum anderen so sehr in den kollektiven Sprachgebrauch eingedrungen ist, dass eben kaum noch jemand aufhorcht, wenn von „nuklearer Teilhabe“ die Rede ist; dass sich eben kaum noch jemand Gedanken macht. Dabei sprechen wir immerhin über Waffen, von denen Einzelne jeweils einen hunderttausendfachen Massenmord verüben könnten. Hinter all den sogenannten „rationalen“ oder „strategischen“ Überlegungen stecken potentiell hunderte oder tausende von Hiroshimas und Nagasakis.
Das Prinzip ist auch aus der neoliberalen Sprache bekannt. Wenn es beispielsweise um Entlassungen und Kündigungen geht, wird davon gesprochen, dass Arbeitnehmer „freigestellt“ werden. Was bedeutet es, wenn Medien diese Begrifflichkeit verwenden? Birgt das Gefahren?
Medien spiegeln eine gesamtgesellschaftliche Unfähigkeit wieder, den atomaren Status Quo zu hinterfragen.
Die sogenannte „nukleare Teilhabe“ erschien aus US-Sicht seit jeher stringent: Die Verbündeten wie Deutschland, Italien, Belgien oder Türkei werden an die große Schutzmacht gebunden, ihre geographische Lage wird genutzt – ohne dass diese Staaten selbst nach der Bombe und damit nach strategischer Eigenständigkeit greifen. Die finale Entscheidung über die Androhung oder gar Durchführung eines atomaren Angriffs bleibt natürlich bei den USA. Es ist insofern keine „Teilhabe“, sondern eine Vergrößerung der US-amerikanischen Atomschlagkapazitäten. Ob dies überhaupt im Einklang mit dem Nichtverbreitungsvertrag von 1970 sein kann, bleibt umstritten – was sämtlichen Administrationen in USA, Deutschland und Co. allerdings ohnehin stets egal war.
Ähnlich wie Franz Josef Strauß damals den Begriff des „Atomwaffensperrvertrages“ erfolgreich prägte – bis heute – so hat sich auch der Euphemismus der „nuklearen Teilhabe“ in Politik, Medien, Wissenschaft und Gesellschaft eingenistet. Das hätte nicht so kommen müssen. Die NATO präferiert zwar diese gesellschaftliche Blindheit gegenüber ihrem atomaren Overkill, einen uns unterwerfenden Masterplan dahingehend gibt es aber nicht. Wir, die Gesellschaft, sind schon selber schuld, dass wir diese „nukleare Teilhabe“ noch dulden; wir hätten spätestens nach Beendigung des Ost-West-Konflikts darauf drängen müssen, eine andere, bewusste Weltordnung aufzubauen.
Im vergangenen Jahr sind die USA aus dem INF-Vertrag ausgestiegen. Kurz: Was hat es mit diesem Vertrag auf sich?
Der INF-Vertrag, 1988 in Kraft getreten, war der erste wirkliche Abrüstungsvertrag des Kalten Krieges; bis dato gab es nur Verträge, die großzügige Obergrenzen für Waffen und Trägersysteme festgeschrieben haben. Der INF-Vertrag jedoch verlangte Abzug und Zerstörung aller US-amerikanischen und sowjetischen bzw. russischen landgestützten Raketen und Marschflugkörper sogenannter mittlerer und kürzerer Reichweite.
Also Reichweiten zwischen 500-5.500 Kilometern. Die allgemein verwendete Bezeichnung für so etwas ist „Mittelstreckenrakete“. Bis 1991 vernichteten die USA und die Sowjetunion im Rahmen des Vertrages 846 US-amerikanische und 1846 sowjetische Raketen. Der INF-Vertrag war auch der erste, der eine umfangreiche „Verifikation“ vorsah, also gegenseitige Kontrollen der jeweiligen Abrüstungsverpflichtungen.
Was waren Ihre Gedanken, als Sie von der Aufkündigung des Vertrages gehört haben?
Ich war darüber nicht mehr empört, weil die INF-Kündigung seitens der Trump-Administration, neben all den anderen Regime-Aufkündigungen von Open Skies bis Pariser Klimaabkommen, erwartbar und angekündigt war. Ich kann nur hoffen, dass die US-amerikanischen Wählerinnen und Wähler im Herbst diesen Spuk beenden und wir anderen in der Zwischenzeit lernen, das Thema Atomwaffen ernstzunehmen und dementsprechend zivilgesellschaftlich zu handeln.
Außerdem: Es ist kein Geheimnis, dass Russland Trägersysteme entwickelt, die den Gehalt des INF-Vertrages verletzen. Es wäre aber an den USA als militärisch und ökonomisch überlegenerem sowie politisch einflussreicherem Akteur gewesen, den absehbaren Weg der Entfremdung und gegenseitigen militärischen Aufrüstung zu durchbrechen und – im Sinne des GRIT-Programms von Charles Osgood aus dem Kalten Krieg (Graduated and Reciprocated Initiatives in Tension Reduction) – den ersten Schritt hin zum Kontrahenten zu wagen. Die meisten Denkschulen der internationalen Beziehungen würden in einem solchen Fall davon ausgehen, dass die Wahrscheinlichkeit hoch wäre, dass sich Russland einer solchen Diplomatie-Offensive sowie einem eventuellen Folgevertrag mitsamt Verifikation der Vertragsbedingungen nicht entziehen könnte.
Also auf Deeskalation setzen?
Natürlich. Aber das wurde nicht getan. Stattdessen hat man den INF-Vertrag mitsamt der jahrzehntelang aufgebauten Erfahrungen und Vertrauensverhältnisse aufgekündigt – was allerdings Trumps pathologischer Rolle der beleidigten Leberwurst viel eher entspricht als eine ernst gemeinte und gut geplante Vertragsrettung und -verlängerung.
Im Mai haben die USA erstmals seit 1992 wieder einen Atomwaffentest in Erwägung gezogen. Worum geht es dabei? Die zerstörerische Wirkung dieser Waffen ist bekannt. Sind das Muskelspiele?
Jetzt einen Atomtest durchzuführen, so dumm kann noch nicht mal Trump sein. Das erscheint eher ein schlechter Versuch zu sein, die rationale Irrationalität eines Richard Nixon und Henry Kissinger zu imitieren. Russland und China sollen sich offenbar eingeschüchtert fragen, was die US-Regierung wohl als nächsten genialen, unerwarteten Schachzug präsentiert. Dabei sind klassische atmosphärische oder unterirdische Atomtests seit Jahrzehnten nicht mehr notwendig, die großen Atommächte testen die Funktionstüchtigkeit ihrer Waffen schon längst in Laboren oder mit Computersimulationen.
Langfristig verhängnisvoller als solche – in der Tat – „Muskelspiele“ ist die abseits der großen medialen Aufmerksamkeit betriebene Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals.
Warum?
Sie geht einher mit der Präzisierung der US-Atomwaffendoktrinen seit der Bush-Junior-Administration, zuletzt 2018 mit der neuen „Nuclear Posture Review“ der Trump-Regierung. Die Letztere kreist um das Konzept der maßgeschneiderten Abschreckung, der tailored deterrence, in deren Rahmen die USA auf jedwede Art der Bedrohung den Umständen entsprechend, auch mit „präzisen“ Atomschlägen, reagieren könnten. Für Otfried Nassauer sind Ziel und Ergebnis der tailored deterrence „ein besser einsetzbares nukleares Kriegsführungspotential.“
„Präzise Atomschläge“. Ist das auch wieder eine verniedlichende Formulierung?
Ja, „präzise“ heißt hier, etwa eine große Militäranlage oder unterirdische Bunker mit potentiell vielen hundert Menschen darin atomar zu vernichten; nicht aber eine Großstadt mit hunderttausenden von Einwohnern. Dennoch ist der Begriff vollkommen zynisch, da selbst diejenigen Atomwaffen mit „geringer“ Sprengkraft (low-yield warheads), die im Rahmen der vorhin erwähnten Modernisierung seit Anfang 2020 auf Langstreckenraketen in US-amerikanischen U-Booten stationiert werden, immer noch rund acht Kilotonnen TNT-Äquivalent entfachen; die Hiroshima-Bombe entwickelte 12,5 Kilotonnen, ist also mit diesen neu stationierten Sprengköpfen durchaus vergleichbar – insofern kann von „präzise“ keine Rede sein. Eine solche Waffe tötet nicht nur Kriegsteilnehmer, sondern durch ihre enormen Hitze- und Druckwellen und durch die langanhaltende Radioaktivität immer auch Zivilisten – und verletzt demnach das grundlegende Prinzip des sogenannten „Humanitären Völkerrechts“ oder „Kriegsrechts“, wonach zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten unterschieden werden muss.
Eine weitere Modernisierung ist die super-fuze-Technologie, die Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen noch zielgenauer über möglichen Feindobjekten zünden lässt. Und ein weiteres potentielles Schlachtfeld der Zukunft ist das Weltall: Russland entwickelt gerade Anti-Satelliten-Raketen, die US-Fähigkeiten zur Kriegsführung empfindlich treffen könnten; auch andere Länder vergrößern ihre technischen Möglichkeiten, den Weltraum für ihre militärischen Zwecke zu nutzen – die USA werden sich dies sicherlich nicht gefallen lassen.
Verhängnisvoll sind diese Entwicklungen, weil sie dazu führen können, dass zukünftige Akteure, etwa in den Regierungen von USA und Russland, ihre Entscheidungen durch solche Doktrinen und modernen Waffen beeinflussen lassen werden. Wenn die Doktrin präzise Atomschläge ermöglicht, wenn das Arsenal es ermöglicht – dann ist es nicht ausgeschlossen, dass der scheinbar freie politische Wille sich auch davon leiten lässt.
Wir haben es im Hinblick auf die Atomwaffen mit mehreren „Playern“ zu tun.
Und ziemlich komplexen politischen Verhältnissen. Oder?
Ja! Die gängige Erzählung , früher im Kalten Krieg sei alles übersichtlich gewesen, heute bedrohten „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea oder Iran die „Weltordnung“, simplifiziert allerdings die Lage. Früher war es auch kompliziert.
Inwiefern?
Denken Sie etwa allein an das Jahr 1979, in dem das kommunistische China im kommunistischen Vietnam einfällt – die CIA war eingeweiht – um der Welt zu zeigen, dass die kommunistische Sowjetunion ihren Beistandspakt mit Vietnam nicht erfüllt.
Außerdem – das ist wichtig zu betonen – ist die Zahl der „Player“ nicht so hoch, wie US-Präsident Kennedy und andere Anfang der 1960er Jahre fürchteten, dass sie es werde. Daran hat der Nichtverbreitungsvertrag einen wesentlichen Anteil. Harald Müller und Andreas Schmidt haben untersucht, dass zum Beispiel nach In-Kraft-Treten des Vertrags nicht eine einzige Demokratie mehr damit begonnen habe, ein Atomwaffenprogramm zu entwickeln.
Des Weiteren steht zumindest die atomare Gefahr, die heute von sogenannten „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea und Iran ausgeht, in keinem Verhältnis zu derjenigen, die von den Overkill-Arsenalen von USA und Russland ausgeht. Was stimmt: Auch die nordkoreanischen Atomraketen könnten Millionen Menschen töten – aber die heute oft verbreitete Weltdeutung, in der die frühere übersichtliche Bipolarität durch Iran, Nordkorea, Indien und Pakistan aufgelöst worden sei, verschleiert nur den Unwillen der beiden Großen, von ihren alles dominierenden Arsenalen zu lassen.
Die Lage ist also von Beginn an komplex – doch das heißt nicht, darin keine Hauptverantwortlichen mehr für die ganz große Gefahr ausmachen zu dürfen.
Leseempfehlung: Matthias van der Minde. Dialektik der Bombe. Chronologie und Kritik des atomaren Zeitalters. VSA Verlag.
Titelbild: gerasimov_foto_174 / Shutterstock
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