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Titel: Deutschland first – Urlaubs-Nationalismus in Corona-Zeiten

Datum: 9. Juli 2020 um 11:25 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Wer kurzentschlossen seinen Sommerurlaub an der Ostsee oder in Bayern buchen will, braucht viel Glück und sollte sich auf happige Preisaufschläge einstellen. Im türkischen Antalya sind Hotels und Strände menschenleer. Das Auswärtige Amt warnt immer noch vor Reisen in die Türkei. Angeblich wegen Corona. Die Reisewarnung für das viel stärker betroffene Großbritannien wurde jedoch aufgehoben und auch in den bayerischen Urlaubsregionen sind die Infektionszahlen höher als in den türkischen Urlaubsregionen. Für Länder wie die Türkei ist der Einbruch des Tourismus eine einzige Katastrophe. Und nicht nur die Türkei muss sich wegen der fortbleibenden Touristen auf eine schwere wirtschaftliche Krise einstellen. Die Folgen werden tiefgreifend sein – auch für Deutschland. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es sei den Hoteliers und Gastronomen in Grömitz, Kühlungsborn, Oberstdorf oder Thale natürlich gegönnt, dass die Sommersaison nun doch ordentlich anläuft und sie nun sicherlich einen Teil der massiven Ausfälle aus den Lockdown-Zeiten kompensieren können. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Jahr 2020 für den globalen Tourismus frei nach der Queen ein „annus horribilis“ ist, in dem die deutsche Tourismusbranche im Vergleich sogar noch mit einem blauen Auge davonkommt. Der große Verlierer ist weltweit der Auslandstourismus. Der Grund dafür ist offensichtlich: Den Einen ist durch die Angst vor Corona die Lust an Auslandsreisen vergangen, den Anderen wird eine Auslandsreise durch Reisewarnungen und -verbote de facto unmöglich gemacht.

Gereist wird dennoch, wenn auch nicht so viel wie in den vergangenen Jahren. Statt nach Thailand, in die Türkei oder nach Kroatien geht es halt ins Allgäu oder an die Ostsee. Das ist politisch durchaus gewollt, hat doch Markus Söder bereits im April für den Sommer einen „Run“ auf die einheimische Gastronomie- und Hotelbranche prophezeit und daraus im Zusammenspiel mit den Reisewarnungen des Außenministers Heiko Maas eine selbsterfüllende Prophezeiung gemacht. Letzterer pochte bis vor wenigen Wochen noch standhaft darauf, dass es für Deutsche ohnehin in diesem Sommer keine Chance auf einen Auslandsurlaub geben würde. Die Buchungen in deutschen Urlaubsregionen nahmen Fahrt auf, klassische Urlaubsländer wie die Türkei oder Kroatien guckten jedoch in die Röhre. Während Länder wie Deutschland oder Frankreich den Einbruch des Auslandstourismus zumindest zum Teil durch den inländischen Tourismus ausgleichen können, spielt der Inlandstourismus in diesen Ländern keine nennenswerte Rolle.

Was aber heißt das für diese Länder? In Ländern wie Kroatien oder der Türkei hängen ganze Regionen von den eigentlich sicheren Einnahmen aus dem Tourismus ab. Das sind nicht nur Hoteliers und Gastronomen, sondern auch und vor allem Millionen von oft schlecht bezahlten Arbeitskräften, die direkt oder indirekt von den Einnahmen aus dem Tourismus leben – Kellner, Küchenhilfen, Zimmermädchen, Taxifahrer, Supermarktverkäufer, Bauern, die ihre Produkte an Touristen verkaufen, Künstler, Musiker und und und. Dies sind die direkt Betroffenen. Indirekt betroffen sind all jene, die ihrerseits auch von dem Geld leben, dass die direkt Betroffenen mit dem Tourismus verdienen und das ist dann so ziemlich die gesamte Volkswirtschaft in diesen Regionen.

Die Türkei nimmt beispielsweise pro Jahr rund 31 Milliarden Euro mit dem Fremdenverkehr ein. Im letzten Jahr reisten noch fünf Millionen Deutsche in die Türkei. In diesem Jahr ist die Zahl implodiert. Allein in der Region Antalya lebt eine Million Einwohner direkt oder indirekt vom Tourismus. Hier gibt es weder Kurzarbeitergeld noch Rettungsschirme. Die komplette wirtschaftliche Basis dieser Menschen ist weggebrochen. Über die Folgen dieser Katastrophe kann man einstweilen nur spekulieren. In den 1970ern und 1980ern waren Millionen von Kroaten und Türken gezwungen, ihr Glück in der Ferne zu suchen. Ein Szenario, das für die kommenden Jahre auch sehr wahrscheinlich ist, sollte kein Wunder geschehen. Damit wird die wirtschaftliche Basis dieser Länder noch weiter geschwächt, während Länder wie Deutschland – sehr zum Gefallen der Wirtschaft – die heimischen Löhne weiter drücken können.

Könnte Deutschland die Folgen lindern? Selbstverständlich! Es gibt beispielsweise keinen überzeugenden Grund dafür, dass die Türkei aufgrund der Covid-19-Lage auf der Liste der Länder steht, für die eine offizielle Reisewarnung ausgesprochen wird. Diese Warnung wird zwar oft als „Empfehlung“ dargestellt. Das ist jedoch eine sehr oberflächliche Betrachtung, schließlich verhindert die Reisewarnung de facto aus rechtlichen Gründen das Angebot von Pauschalreisen. Wer eine Reise in ein Land gebucht hat, für das eine offizielle Reisewarnung besteht, kann diese ohne Angabe von Gründen jederzeit kostenlos stornieren. Das damit verbundene Ausfallrisiko ist für kein Tourismusunternehmen kalkulierbar und auch nicht versicherbar, da hier Sonderklauseln gelten. Zwar können Individualreisende nach wie vor die offizielle Warnung ignorieren und einen der wenigen Flüge nehmen. Doch dann müssen sie sich auch – zu happigen Konditionen – selbst krankenversichern. Der gesetzliche Versicherungsschutz und spezielle Auslandskrankenversicherungen gelten nämlich ohne eine Zusatzklausel nicht für Reisen in Länder, für die eine Reisewarnung ausgesprochen wurde. Der Antalya-Tourist steht damit auf einer Stufe mit einem Entwicklungshelfer, der in eine Kriegsregion reisen will. Doch warum?

Das „Infektionsgeschehen“ in der Türkei ist – wenn auch auf leicht höherem Niveau – durchaus mit dem in Deutschland oder einem Staat wie Großbritannien vergleichbar. In der gesamten Region Antalya mit ihren 2,4 Millionen Einwohnern gab es zwischen dem 4. und 22. Juni gerade einmal 88 positive Tests. Das ist weniger als in den meisten bayerischen Urlaubsregionen und liegt um den Faktor 30 unter dem deutschen Schwellenwert von 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner pro Woche. Selbst die 4,3 Millionen Einwohner große Region Izmir weist mit durchschnittlich rund 30 positiven Testergebnissen pro Tag einen absoluten Wert auf, der auf einem Niveau mit der weniger als halb so großen Stadt München liegt. Die Entwicklung der Zahlen ist übrigens – wie auch in Deutschland – auf niedrigem Niveau stabil. Mit diesen Zahlen lässt sich nicht begründen, warum ein Tourist seinen Urlaub zwar in Bayern oder Großbritannien, nicht aber an der türkischen Mittelmeerküste verbringen darf.

Und die Türkei steht damit keinesfalls allein. Absurd ist beispielsweise die Reisewarnung für das beliebte Fernreiseziel Thailand. Dort gab es insgesamt nur 3.202 positive Corona-Fälle (Deutschland: 198.765), von denen zur Zeit gerade einmal 59(!) als aktiv gelten, also in den letzten 14 Tagen gemeldet wurden. Für die EU will Deutschland künftig eine Warnung aussprechen, wenn die Neuinfektionen die deutsche Leitmarke von 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner pro Woche überschreiten. Für Thailand beträgt dieser Wert 0,04 und dennoch besteht eine offizielle Reisewarnung wegen Corona. Auch Thailands Volkswirtschaft hängt ganz maßgeblich von den Einnahmen aus dem Tourismus ab. Hier wird fahrlässig oder mit Vorsatz die volkswirtschaftliche Basis anderer Länder ruiniert. Deutschland first … zumindest wenn es um den Tourismus geht.

Man kann darüber spekulieren, warum Deutschland an seinen in vielen Fällen nicht durch Fakten begründbaren Reisewarnungen festhält. Politische Gründe könnten da – z.B. bei der Türkei – eine Rolle spielen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass man durchaus im Hinterkopf hat, den Inlandstourismus zulasten der Auslands- und Fernreisen zu stärken. Das könnte man auch Urlaubs-Nationalismus nennen. Die katastrophalen Folgen nimmt man dabei billigend in Kauf.

Als kleine Fußnote muss man an dieser Stelle jedoch noch erwähnen, dass es auch einen Gewinner dieser Entwicklung gibt: Betrachtet man den erzwungenen Trend zum Urlaub im eigenen Lande aus Klimaschutzperspektive, so ist dies natürlich durchweg positiv. Erzählen Sie das aber mal einem Zimmermädchen aus Poreč, einem Surflehrer aus Antalya oder einem Kunsthandwerker aus Chiang Mai.

Titelbild: icemanphotos/shutterstock.com


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