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Titel: Das Monster Bahn-AG zerschlagen
Datum: 6. Juli 2020 um 12:00 Uhr
Rubrik: Verkehrspolitik
Verantwortlich: Redaktion
Das Corona-Virus ist fatal für die Gesellschaft: Es tötet, macht Menschen arbeitslos, zerstört Freund- und Bekanntschaften. Aber noch aus einem anderen Grund ist dieses Virus fatal: Dank ihm ist noch ein Minister an der Macht, für den es schon seit allzu vielen Monaten keinen Grund gibt, noch im Amt zu sein. Die Rede ist von Andreas Scheuer, dem Verkehrsminister (CSU), dem Maut-Mann, der ohne rot zu werden vor Scham, es versteht, den größten Unfug, nämlich Flugtaxis, als Mobilitätskonzept für die Zukunft anzupreisen, der dafür gesorgt hat, dass E-Roller, diese unwürdigste Art der menschlichen Fortbewegung, die Innenstädte vermüllen. Von Arno Luik, Autor des Buches „Schaden in der Oberleitung“.
Dieser Andreas Scheuer, eigentlich unfassbar, ist der Herr über ein Ministerium mit 60 angeschlossenen Behörden, er ist der Herr über einen Etat von 30 Milliarden Euro. Mit diesem Batzen Geld könnte man viel im Land verbessern, gerade er, denn er ist ja auch der Herr über die Bahn AG – und dass es der Bahn gut gehen sollte, ist in Zeiten des Klimawandels das Gebot der Stunde.
Wer sich für die Bahn einsetzt, der macht derzeit Punkte – das weiß natürlich auch Scheuer, dem auch klar ist, dass er ist, was er nicht sein will: ein Minister auf Abruf. Und so tritt er am 30. Juni vor die Presse, präsentiert ein 80-seitiges Dossier, nennt es „Schienenpakt“ und dieser Pakt ist voller Verheißungen und Versprechungen, ist voller Versprechungen und Verheißungen – wie man sie seit Jahrzehnten von Verkehrsministern und Bahnchefs halt immer wieder so hört: Öfter, schneller, pünktlicher, leiser, zuverlässiger – Bahnfahren soll nun schöner werden. Man werde deswegen viel Geld, sehr viel Geld in die Bahn investieren, bis 2030 fast 90 Milliarden Euro. Das Ziel: Mehr Güter, ja wirklich, versprochen, sollen auf die Schienen, die Fahrgastzahlen sollen sich verdoppeln und, ganz, ganz wichtig, die neue DB-Wunderwaffe soll jetzt rasch zum Einsatz kommen: der Taktverkehr.
Zwischen den Großstädten sollen ab 2025 alle 30 Minuten Züge fahren, „eine kleine Revolution“ nennt das der Minister (oh Mann, dieser Verkehrsminister müsste mal auf die Fahrpläne schauen: Auf den Hauptstrecken etwa Dortmund – Frankfurt, Stuttgart – München, Hamburg – Fulda, Nürnberg – München gibt es den Halbstundentakt schon längst). Aber egal, dieser Minister ist sehr stolz auf all die Dinge, die er vollmundig verkündet, und dann verspricht er auch noch dies: Auf der Renommierstrecke zwischen Hamburg und Berlin werden die Züge schon ab diesem Dezember halbstündlich fahren! Scheuer: „Es ist der Pakt für den Takt“.
Hört sich gut an. Nur: Der Pakt für den Takt wird nie Fakt.
Wie losgelöst von der Realität das ministerielle Großgetöne ist, zeigt sich schon an dieser Renommierstrecke: Die wird im Herbst 2021 für zehn Wochen komplett gesperrt, Fahrpläne ade (nur in Klammern: So etwas wie Vollsperrungen ganzer Strecken über zig Kilometer, bei der Bahn AG heute der Normalfall, gab es bei der Deutschen Bundesbahn nie. Da wurde meist unbemerkt von den Reisenden unterm „rollenden Rad“ repariert – die angeblich so verschnarchte Beamtenbahn war da fix). Wie losgelöst von der Realität dieser Minister agiert, agieren darf, zeigt sich auch daran: Eigentlich sollte am vergangenen Dienstag der sogenannte „Zielfahrplan“ für das Jahr 2030 präsentiert werden, der integrale Taktverkehr für Deutschland. Aber das hat nicht geklappt, weil es doch noch ein paar Leute im Bahntower und im Verkehrsministerium gibt, die wissen, dass dieser Taktverkehr, der in der Schweiz seit langem normal ist, nicht zu realisieren ist. Es ist in den vergangenen Jahren – seit der Bahnreform 1994 und dem damit angestrebten Börsengang – einfach zu viel zerstört worden, so viel, dass diese Bahn heute in einem fast nicht mehr reparablen Zustand ist. Das ist keine Polemik, nein.
Dass Scheuer seine Pläne nun als „kleine Revolution“ überhöht, zeigt nur seine Unwissenheit in Sachen Bahn. Taktverkehr ist eine uralte Sache, den gab es schon 1904 bei der Königlich-Preußischen Staatsbahn (da hieß er „Rhythmischer Zugverkehr“), den gab es schon in den frühen 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Ruhrschnellverkehr, den gab es ab 1979 bei der Deutschen Bundesbahn. Deutschland, fast vergessen, war über 100 Jahre lang, bevor es zum Autoland wurde, ein Bahnland, Vorbild für die Bahnen weltweit, Vorbild auch für die Schweiz, die heute in Sachen Bahn so bewundert wird. Vorbei. Das nahezu Perfekte wurde kaputtgemacht. Das wissen die Verantwortlichen bei der Bahn und der Politik, und ihre Versprechungen, auch das wissen sie, sind Märchenerzählungen. Und auch das, leider, ist keine Polemik.
Wie hoffnungslos inkompetent die Verantwortlichen agieren, komplett an der Wirklichkeit vorbei, zeigt gerade dieser angestrebte Halbstundentakt. Wenn er realisiert wird, wird er für die Bürger wenig bringen, aber eine sehr teure Sache werden, denn: Es gibt Stoßzeiten, zu denen mehr Züge gebraucht werden, und es gibt Flauten und saisonale Schwankungen. Als die Eisenbahner noch Profis waren und nicht überzahlte Azubis aus bahnfernem Gewerbe (Bahnchef Dürr: Autoindustrie, Bahnchef Mehdorn: Auto- und Luftfahrtindustrie, Bahnchef Grube: Autoindustrie, Bahnchef Lutz: eifriger Schüler von Dürr, Mehdorn, Grube), wusste man das, hatte man auch noch das fachliche Knowhow, um flexibel auf die Kundenströme zu reagieren. So gab es zum Beispiel an Ostern, Weihnachten und zum Ferienbeginn sogenannte Vor- und Nachzüge zu den fahrplanmäßigen Zügen, damit die Kunden bequem reisen konnten. Und heute? Da kosten die Fahrkarten zu den Stoßzeiten, etwa an Ostern, deutlich mehr, aber dafür darf man dann in den hoffnungslos überfüllten Zügen vor den Toiletten auf dem Flur sitzen.
Ein Blick in die alten Fahrpläne zeigt, wie modern früher die Bahn war, zum Beispiel im letzten Friedenssommer 1939, da fuhr man dichtgetaktet, wenn nötig: Abfahrt von Hamburg HBF nach Berlin: 7:03 Uhr, 7:10 Uhr, 8:10 Uhr. Rückfahrt von Berlin nach Hamburg: 18:11 Uhr, 18:26 Uhr, 18:35 Uhr. Am späten Vormittag, am frühen Nachmittag fuhren entsprechend der Nachfrage weniger Züge, da fuhren sie dann im Stundentakt. Also: Was bringt ein starrer Halbstundentakt, wenn morgens und abends für zwei Stunden viele Pendler die Züge dringend brauchen, danach aber die Züge dann fast leer sind? Dann ist der Halbstundentakt rausgeworfenes Geld. Der außerdem, und das zerstört wieder Geld, den Güterzugverkehr behindert.
Nein, was Scheuer & Lutz an jenem Dienstag präsentierten, lässt nichts Gutes für die Bahn erwarten – da ist keine Strategie erkennbar, nicht mal die profansten Fragen werden beantwortet: Wo sollen denn plötzlich die Züge und das Personal herkommen? Wo sollen die erforderlichen Strecken plötzlich herkommen?
Um auf den Standard der Schweiz zu kommen, was das Minimum für den so oft bejubelten Hochtechnologiestandort Deutschland wäre, müsste das Bahnnetz augenblicklich um 25.000 Kilometer erweitert werden – ein Ding der Unmöglichkeit. „Pitoyabel“, höhnen Schweizer Zeitungen, sei die Situation bei der Deutschen Bahn.
Wie bedauernswert die Lage ist, dokumentieren ein paar Zahlen: Hatte die Bahn 1994 noch 130.000 Weichen und Kreuzungen, sind es heute gerade noch 70.000 Stück, war die Netzlänge 1994 noch über 40.000 Kilometer, sind es heute noch 33.000 Kilometer, hatte die Bahn vor zwölf Jahren noch knapp 120.000 Güterwagen, sind es heute noch 65.000, und die sind im Schnitt gut dreißig Jahre alt. Gab es 1994 noch knapp 12.000 Gleisanschlüsse für die Industrie, sind es heute knapp über 2000.
Und noch etwas: Seit 1994 sind über hundert Groß- und Mittelstädte vom Fernverkehr abgehängt worden, etwa Potsdam, Chemnitz, Bremerhaven, Krefeld, Trier, Heilbronn. Für 17 Millionen Bürger ist das Bahnfahren unattraktiver gemacht worden.
Wohin man blickt: Abbau, Zerfall.
Für diese Zerstörung gibt es natürlich Täter: Sie sitzen, Damen und Herren, im Bahntower, im Verkehrsausschuss, im Verkehrsministerium und im Bundeskanzleramt, dort vor allem, da wird bestimmt, wer Bahnchef sein darf. Zum Beispiel Hartmut Mehdorn. Dass Mehdorn, dieser Bahn-Azubi, 1999 an die Spitze der Bahn kam, ist fatal. Als er die Konzernführung übernahm, machte die Bahn noch 95 Prozent ihres Umsatzes in Deutschland und über 90 Prozent mit dem Fahren von Zügen. Heute macht die Bahn AG weit über 50 Prozent ihres Umsatzes im Ausland und über 50 Prozent mit, wie sie es nennt, „Non-Rail-Aktivitäten“. Die Deutsche Bahn ist in 140 Ländern aktiv – zu Luft, zu Wasser und auf dem Land, in Ländern wie Aserbaidschan, Usbekistan, Mongolei, Sri Lanka, Mauritius, Trinidad-Tobago, Aruba oder Madagaskar. Deutsche Steuergelder, weit über zehn Milliarden Euro, wurden investiert, um die Deutsche Bahn AG zu einem weltweit operierenden Logistikkonzern zu transformieren. Ein finanzieller Großeinsatz, der sich nie amortisieren wird. Diese Bahn AG ist ein weltumfassendes Reich, in dem die Sonne nie untergeht, aber die Bahn hierzulande ist bloß noch ein lästiges Anhängsel.
Der Steuerzahler zahlte und zahlt für diese unverantwortliche Transformation der Bahn (Politik und auch Medien schauten weg oder fanden es gut, was da im neoliberalen Privatisierungsrausch entstand), doch jetzt wird die Rechnung für das selbstproduzierte Desaster präsentiert: Unpünktlichkeit. Zerfall. Verkommene Bahnhöfe auf dem Land, oft verdreckt, ohne Personal, ohne Service, ziemlich trostlos alles.
Wird es nun mit diesem Schienenpakt, diesem ministeriell bejubelten Masterplan, der merkwürdigerweise von 25 Organisationen, etwa dem Nabu, der Deutschen Umwelthilfe, Gewerkschaften, Unternehmen mitgetragen wird, besser? Gibt es nun eine Rückkehr zur Vernunft?
Vielleicht. Wohl eher nicht. Aber gegen besseres Wissen will ich die Hoffnung nicht verlieren – auch wenn ich nicht sehe, dass sich etwas zum Besseren ändert. Denn die Verantwortlich agieren weiterhin unverantwortlich: Sie propagieren wieder milliardenschwere Großprojekte, unökonomische Rennstrecken, unökologische Tunnelbauten. Milliarden Euro werden gerade in Münchens zweite Stammstrecke versenkt, weitere vielleicht demnächst im Frankfurter Untergrund, schon seit Jahren bei Stuttgart 21.
S 21 kostet derzeit über acht Milliarden Euro. Jetzt wird es nochmals um viele Milliarden teurer und damit zum endgültigen Wahnsinnsprojekt: Am Flughafen soll nun, um Engpässe zu vermeiden, ein zehn Kilometer langer Tunnel gebaut werden, darüber hinaus sind weitere Tunnel angedacht, alles in allem so um die 40 Kilometer zusätzlicher Röhren im Untergrund (zur Erinnerung: S 21 hat schon jetzt ein 60 Kilometer langes Tunnelwirrwarr unter Stuttgart) und damit zusätzliche Kosten von rund sieben bis acht Milliarden Euro – damit dieser Unsinnsbahnhof eventuell irgendwie ein wenig funktioniert, aber trotz des gigantischen Geldeinsatzes definitiv das verhindert, was propagiert wird: den Taktfahrplan. Den Taktfahrplan, den der alte Kopfbahnhof, der perfekt war und trotz der mutwilligen Zertrümmerung noch immer fast perfekt ist, mühelos schaffen würde.
Die Bahnverantwortlichen machen gerne gute Dinge kaputt: Deutschland hat ein perfektes Zugleitsystem. Nun soll das Perfekte – wie bei S 21 – durch etwas Unperfektes ersetzt werden. Und – wieder wie bei S 21 – mit einem gigantischen Geldeinsatz. Obwohl die Schweiz mit ETCS schlechte Erfahrungen macht, wird es als alternativlos bezeichnet. Dabei, das zeigen die Schweizer Erfahrungen, ist dieses System sehr anfällig, unzuverlässig in Bahnhöfen, Tunneln, auf Mischstrecken – und deutlich weniger leistungsfähig als das jetzige System. Aber dafür ist es sündhaft teuer. Seine Implementierung wird weit über 20 Milliarden Euro kosten – ein riesiges Subventionsprogramm für ein paar Konzerne. Und auf der Strecke bleibt ein vernünftiger Bahnverkehr.
Egal. Die Bahnverantwortlichen, vor allem Scheuer und Bahnvorstandsmitglied Ronald Pofalla, auch so ein Bahn-Azubi, schwärmen von Digitalisierung, während analog so viel im Eimer ist und es an so vielem fehlt: Mitarbeitern, Schienen, Lokomotiven, Zügen, Reserven. So desolat ist die Lage, dass überforderte Mitarbeiter nachts in den Ausbesserungswerken, wie mir einer erzählte, „vor Wut und Verbitterung aufschreien, weil wir die Schnauze vollhaben von den kaputten Toiletten in den ICE-3-Zügen“.
Es ist Zeit für ein zweite Bahnreform, Zeit, das bürokratische Monster „Bahn AG“ mit seinen acht Bahngesellschaften und seinen Hunderten von Subunternehmen und Beteiligungen zu zerschlagen, sich von den unseligen Auslandseinsätzen zurückzuziehen und sich auf das zu besinnen, für das die Bürger hierzulande viel Geld ausgeben: Für einen ordentlichen, kostengünstigen Bahnverkehr, der auch auf dem Land abseits der ICE-Prestigestrecken funktioniert, der so seinem grundgesetzlichen Auftrag endlich gerecht wird, nämlich: dem Allgemeinwohl verpflichtet zu sein.
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