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Titel: Corona: Ein Land ignoriert seine Kinder

Datum: 23. Juni 2020 um 9:15 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Familienpolitik, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Viele Corona-Maßnahmen treffen Kinder besonders hart – der verwehrte Schutz für diese Gruppe ist ein Skandal. Neue Untersuchungen zeigen, wie sehr Kinderrechte aktuell missachtet werden. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Junge Menschen werden durch die Auswirkungen zahlreicher Corona-Maßnahmen besonders hart getroffen. Das hat eine neue Studie für die Bundestagsfraktion der LINKEN festgestellt. Gleichzeitig warnt der aktuelle „Weltbildungsbericht“ der UNESCO vor dem Ausschluss von Millionen Kindern und Jugendlichen aus den Bildungssystemen in aller Welt: Die Reaktionen auf Corona hätten die ohnehin bestehenden Ungleichheiten noch verstärkt. Und bereits im April mahnte UN-Generalsekretär António Guterres, hunderttausende Kinder könnten in ihren Familien nicht mehr richtig versorgt werden, sie seien wegen der Folgen der Corona-Maßnahmen weltweit in akuter Gefahr. Die allein in diesen drei Dokumenten beschriebene Verweigerung, den Kindern Schutz zu bieten, ist empörend. Die Leichtfertigkeit, mit der „wegen Corona“ die Schwächsten ignoriert und gefährdet werden – in materieller, sozialer und psychologischer Hinsicht – das ist einer größten aktuellen Skandale.

Kinderrechte werden mit Füßen getreten

Die aktuelle Studie vom Professor für Kinderpolitik Michael Klundt für die Bundestagsfraktion der LINKEN ist „Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement? Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen junger Menschen“ überschrieben. Laut dem kinder- und jugendpolitischen Sprecher der Partei, Norbert Müller, ließ sich in den vergangenen Wochen besonders gut beobachten, welche gesellschaftliche Gruppe mit wieviel Macht ausgestattet sei. Denn im Ausnahmezustand würden, noch mehr als sonst, die Interessen der Stärkeren regieren, so Müller. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen, ihre Bedürfnisse würden in der Krise sträflich vernachlässigt. Außerdem seien Kinder aus benachteiligten Haushalten ungleich schwerer von der Krise betroffen: Ohne die sonst wertvolle soziale Infrastruktur vergrößern sich Unterschiede von Arm und Reich immens.

Auf den NachDenkSeiten wurde der fragwürdige Umgang mit Kinderrechten und mit dem Betrieb von Schulen und Kitas „wegen Corona“ bereits thematisiert – etwa in dem Artikel „Wie evidenzbasiert sind die Kontaktverbote für Kinder?“ oder im Artikel „Exit-Strategien: Maßnahmen für Kinder sollten schnellstens überdacht werden“ oder im Artikel „Schule mit Abstand, Maske und Desinfektionsmitteln – ist das kindgerecht und medizinisch geboten?“. Für das Anliegen der Schulöffnungen wurde von den Autorinnen Sandra Reuse und Silke Mettlin im Mai auch eine Petition bei weact/campact initiiert. Nach Schilderungen von Reuse war diese Petition aber zu entscheidenden Terminen nicht erreichbar, wodurch mutmaßlich viele Unterstützer verloren gegangen sind (diesen und andere mutmaßliche Versuche der Zensur in der Corona-Debatte haben die NachDenkSeiten kürzlich in diesem Artikel beschrieben). Auch aus diesem Grund wurde eine neue Petition hochgeladen. Das Problem der durch Corona verschärften sozialen Benachteiligung wurde in dem Artikel „Corona und Benachteiligung – Computer dringend benötigt“ thematisiert und wie die durch Corona forcierte „Digitalisierung der Schulen unsere Kinder systematisch und vorsätzlich entmündigt“ haben wir in diesem Artikel beschrieben.

Corona-Maßnahmen „völkerrechts-verstoßend und bundesgesetzwidrig“

In der aktuellen Studie für die LINKE werde nachgewiesen, dass die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in der Praxis weitgehend versäumt wurde. Nachweislich seien in Deutschland elementare Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verletzt worden. Praktisch alle Entscheidungen und Maßnahmen der Politik seit März/April 2020 seien somit „völkerrechts-verstoßend und bundesgesetzwidrig ohne vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls“ vorgenommen worden.

Dies habe sich auch mit dem Lockerungsprozess kaum gebessert, bei dem die Kinder und Jugendlichen ebenfalls so gut wie nicht weiter gefragt worden seien, in welcher Form Schulen, Horte, Kitas, Spielplätze und andere Bildungseinrichtungen am sinnvollsten wieder »hochgefahren« werden sollten. Eine Entmündigung ohnegleichen habe stattgefunden.

Zudem würden sich vonseiten der Regierung „keinerlei wirksame Gegenmaßnahmen zu den Kinderrechtsverletzungen hinsichtlich Partizipation, Förderung (z.B. Bildung, Jugendhilfe-Infrastruktur) oder Schutz (z.B. vor Armut) erkennen“ lassen, sodass ein „gesellschaftspolitischer Rückschritt“ diagnostiziert werden müsse. Die Regierungsbeschlüsse für Familienhilfen seit Ende April 2020 seien „viel zu spät“ gekommen, seien viel zu gering und zu bürokratisch strukturiert.

Wie viele „Armuts-Studien“ braucht es noch?

Vor Spaltungen wird gewarnt: Der berechtigte Frust von Eltern dürfe sich nicht auf Fachkräfte und Erzieherinnen konzentrieren, sondern sollte auf die verantwortliche, aber weitgehend konzeptionslose Regierungspolitik fokussieren. Auch seien arme Kinder in der Regel Kinder armer Eltern – auch diese beiden Gruppen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Studie verweist auch darauf, dass die Verantwortlichen für gesellschaftliche Spaltungen und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten oft am sichtbarsten Krokodilstränen über die selber angerichteten Zustände vergießen:

„Darum sind die dafür Hauptverantwortlichen aus Regierung, Politik und Wirtschaft moralisch nicht wirklich legitimiert, am lautesten für Kinderschutz und Kindeswohl zu trommeln, während sie Kinder- und Familienarmut in diesem Kontext oft ausblenden.“

Zu der Studie und der (erneuten) Untersuchung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Ungleichheiten ist zu sagen: Es ist einerseits gut, dass die LINKE auf diesem Weg langsam aus dem von Teilen der Partei praktizierten politischen Corona-Lockdown herauskommt, den die NachDenkSeiten kürzlich in diesem Artikel beschrieben haben. Die verantwortlichen Politiker aber muss man andererseits fragen: Wie viele „Armuts-Studien“ braucht es noch, bis (längst bekannte) Fakten zur wirtschaftlichen Spaltung in wirtschaftspolitische Maßnahmen umgesetzt werden?

Titelbild: Uni Hirano / Shutterstock


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