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Titel: Luis Sepúlveda – Von einem, der den Präsidenten mit der Waffe in der Hand verteidigte, die Welt umreiste, Kriminalromane schrieb und am Corona-Virus starb

Datum: 9. Juni 2020 um 11:16 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Kultur und Kulturpolitik
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Mit dem Chilenen Luis Sepúlveda, Autor von mehr als 30 Romanen, schied am vergangenen 16. April im spanischen Oviedo der meistübersetzte und meistgelesene lateinamerikanische Schriftsteller der vergangenen zwanzig Jahre aus dem Leben. Von Frederico Füllgraf.

Es geschah zwar vor eineinhalb Monaten, doch ist es nicht zu spät, dem lesenswerten Geschichtenerzähler einen bescheidenen Tribut zu widmen, vor allem in Erinnerung daran, dass sein Hauptwerk in deutschen Stuben erdacht und niedergeschrieben wurde.

Luis Sepúlveda lebte ab 1980 insgesamt vierzehn Jahre in Deutschland, davon zehn Jahre in Hamburg und vier weitere Jahre im baden-württembergischen Laufenburg, der Heimatstadt der Krankenschwester Margarita Sevens, seiner zweiten Ehefrau, die er 1978 im ecuadorianischen Exil kennengelernt und die ihn dazu motiviert hatte, von Lateinamerika nach Europa überzusiedeln, mit der er drei Kinder hatte und von der er sich aber Mitte der 1990er Jahre trennte.

Von der Augusto-Pinochet-Diktatur 1977 als Staatenloser in die lebenslängliche Verbannung gejagt, besaß Sepúlveda die deutsche Staatsbürgerschaft. Wiederholt und emphatisch, wie zuletzt 2015 in Chile, lobte der exilierte Anhänger Salvador Allendes seine freundliche Aufnahme und berufliche Förderung in Deutschland. Mit Heiterkeit beschrieb er oft in Gesprächen seine „Umschulung“ zu riskanter Arbeit und gewagten Abenteuern. Zum Beispiel seinen Job als Lastwagenfahrer auf der Strecke Hamburg-Istanbul, die von deutschen Kollegen aus Sicherheitsgründen gemieden wurde.

Doch die Anerkennung ließ nicht lange auf sich warten. Von der Stadt Hamburg erhielt Sepúlveda bald ein einjähriges Literatur-Stipendium und er nahm seine durch den Militärputsch vom 11. September 1973 unterbrochene Autorentätigkeit wieder auf. Als Gastautor des Spiegel-Magazins reiste er als Kriegsberichterstatter nach Angola und schrieb für die UNESCO über die soziale Lage in mehreren afrikanischen Ländern. Den Höhepunkt seines Hamburger Aufenthalts bildete zwischen 1982 und 1987 seine Tätigkeit als seefahrender Reporter der Umweltorganisation Greenpeace an Bord legendärer Schiffe wie des „Rainbow Warrior“ im Kampf gegen die illegale Waljagd auf Feuerland.

Luis Sepúlveda war von der Sorte seltener werdender Intellektueller, dessen Literatur von Verbitterung und politischem Aktivismus gegen die weltweite Umweltzerstörung geprägt ist; ein Vernichtungs-Feldzug gegen Naturvölker, Landschaften, Fauna, Flora und Wasservorräte, der den Artenschwund in ungeahntem Ausmaß und die Freisetzung fataler Krankheitserreger vorantreibt.

Der Todeskampf mit dem Virus

Nach einem fünftägigen Besuch des internationalen Literatur-Festivals “Correntes d’Escritas“ vom 18. bis 23. Februar im nordportugiesischen Póvoa de Varzim wurden Luis Sepúlveda und seine Ehefrau – die chilenische Dichterin Carmen Yáñez – drei Tage nach ihrer Rückkehr aus Portugal von den Gesundheitsbehörden im spanischen Asturien als Covid-19-Infizierte diagnostiziert. Was auf die Meldung folgte, liest sich wie überstürzte Episoden einer SciFi-Verfilmung und verdeutlicht exemplarisch, wie die Pandemie grenzüberschreitend von der Welt Besitz nahm.

Auf beiden Seiten der Grenze machte sich Unruhe breit. „Hatte sich das Ehepaar in Portugal angesteckt?“, fragte man sich in Asturien, wo der chilenische Autor als erster positiver Fall die Statistik anführte und das übrige Spanien in jenen Tagen kaum mehr als 58 Positiv-Fälle registrierte. Umgekehrt schaltete die portugiesische Generaldirektion für Gesundheit auf Alarm, denn am 1. März war im iberischen Nachbarland noch keine einzige Virus-Infektion bekannt. Nach Angaben der spanischen Regionalzeitung La Voz de Asturias seien die ersten Symptome am 25. Februar in Portugal aufgetreten.

Die portugiesische Ausgabe von Público konterte, „derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass die Infektion auf portugiesischem Gebiet aufgetreten ist“. Der Stadtrat von Póvoa de Varzim, Organisator der Literatur-Veranstaltung, begriff sofort, bildete eine Überwachungsgruppe und riet sämtlichen Mitarbeitern – einschließlich derer, die nach Lissabon zurückgekehrt waren und Kontakt mit Sepúlveda und Yáñez gehabt hatten – zu Hause zu bleiben, zweimal täglich die Temperatur zu messen und beim Auftreten von Symptomen sich sofort bei der Gesundheitsbehörde zu melden.

In Asturien wurden Sepúlveda und Yáñez in das Zentrale Universitätskrankenhaus von Oviedo eingeliefert und isoliert. Die 66-jährige Yáñez erklärte gegenüber der Zeitung El Comercio, es gehe ihr „gut“, der Schriftsteller hingegen litt an einer akuten Lungenentzündung. Wegen mehrfachem Organversagens lag Sepúlveda zehn Tage später im künstlichen Koma mit Beatmung. Das war am 10. März. Sein Kampf mit dem Tod dauerte sechs Wochen. Am 16. April gab sein Körper den Widerstand auf, der Schriftsteller schied aus dem Leben.

Für einen, der am 11. September 1973 Salvador Allende und den Präsidentenpalast La Moneda mit der Waffe in der Hand verteidigte, über zwei Jahre lang die Kerker und Folterkeller der Diktatur Augusto Pinochets und anschließend als freiwilliger Partisan auf der Seite der Sandinisten den bewaffneten Befreiungskampf Nicaraguas überlebte, hätte sich der robuste Sepúlveda zu Lebzeiten kaum eine demütigendere Niederlage vorstellen können als die im Kampf gegen ein mikroskopisches, unsichtbares Virus.

Zu Ehren des chilenischen Schriftstellers gab Tusquets von der spanischen Verlagsgruppe Planeta Ende Mai den Fortsetzungsroman „Die Geschichte von Mix, Max und Mex“ heraus. Keine Geschichte südamerikanischer Revolutionshelden, sondern eine Parabel im Kinderbuch-Format über einen jungen Studenten, seine Katze und deren seltene Freundschaft zu einer mexikanischen Maus. „Hier wird eine großartige Lektion über Brüderlichkeit zwischen den Arten und Respekt gegenüber Besitz erteilt”, warb der Verlag in der Buchankündigung.

Lehrjahre

Luis Sepúlveda Calfucura wurde am 4. Oktober 1949 in Ovalle, Nordchile, als Sohn des Gastwirts und Mitglieds der Kommunistischen Partei Luis Sepúlveda (Senior) und Irma Calfucura, einer von der Mapuche-Ethnie abstammenden Krankenschwester geboren. Doch Sepúlvedas Großvater war ein spanischer Anarchist aus Andalusien, der aus einem Gefängnis ausbrach und vor der Francisco-Franco-Diktatur zunächst nach den Philippinen, von dort ins südamerikanische Ecuador und anschließend nach Chile geflüchtet war. Das Motto des Großvaters lautete, „Man ist dort zu Hause, wo man sich am wohlsten fühlt“. Und „das ist sicherlich auch meine Devise“, gab Luis Sepúlveda einst als Erklärung auf die Frage, warum er nicht mehr in Chile, sondern seit 1997 im nordwestspanischen Gijón lebte. Die Entscheidung, sich in Spanien niederzulassen, hatte der Buchautor als Tribut an seinen Großvater verstanden. Dieser hatte ihm im Jugendalter ein symbolisches Ticket nach „nirgendwo“ geschenkt und ihm im Gegenzug das Versprechen abverlangt, seine Geburtsstadt Martos zu besuchen. Was der Enkel auch 1980 tat, womit sich im Gefühl des Schriftstellers sein eigener Lebenskreis schloss: die Rückkehr zu den Ursprüngen.

Von der rebellischen Familien-Wiege zum Exil

Der öffentlich oft humorvoll auftretende Luis Sepúlveda pflegte zu sagen, er stamme aus „roter, tiefroter“ Wiege; ein Umstand, den er dem ideologischen Erbe des anarchistischen Großvaters und des kommunistischen Vaters verdanke.

Nach dem Besuch der Francisco Andrés Olea Schule machte er sein Abitur am Nationalen Institut Santiagos, trat bereits mit fünfzehn Jahren in die kommunistische Jugend Chiles ein, studierte Theater an der Universidad de Chile und schloss das Studium als Bühnen-Regisseur ab. Nebenher betätigte sich der junge Luis – von Familie und Freunden „Lucho“ genannt – als Polizei-Reporter bei der Tageszeitung Clarín und begann zu schreiben. Während seiner Lektüren stieß er auf das Werk des südchilenischen Erzählers Francisco Coloane, der in ihm jene bis zu seinem Lebensende ungebändigte Reiselust erweckte und ihn zu seiner ersten Tramper-Exkursion nach Patagonien antrieb, wo er vorübergehend als Koch auf einem Walfangschiff anheuerte; ein „Schlachthof“, den er von innen her kennenlernte und den er Jahre später als Greenpeace-Aktivist von außen bekämpfte.

Jene Reise sollte sowohl literarische als auch politische Konsequenzen haben. Sie mündete mehr als zwanzig Jahre später in drei Werken, die in deutscher Übersetzung mit den Titeln Die Welt am Ende der Welt (1992), Die Spur führt nach Feuerland (1997) und Patagonia Express (1998) erschienen.

Lebensstationen eines schreibenden Nomaden

Bereits 1970 gewann er den kubanischen „Casa de las Américas“-Literaturpreis für sein erstes Werk – Crónicas de Pedro Nadie (Chroniken des Peter Niemand) – sowie ein fünfjähriges Stipendium an der Moskauer Lomonossow-Universität. Der Moskauer Aufenthalt sollte jedoch nur fünf Monate dauern, da Sepúlveda wegen „Angriffs auf die proletarische Moral“ – so die offizielle Begründung – von der Universität relegiert wurde. Der angehende Schriftsteller erklärte die Repressalie damit, dass er verbotene Kontakte zu sowjetischen Dissidenten gepflegt hatte. Zurück in Chile, wurde er „folgerichtig“ aus der Kommunistischen Jugend ausgeschlossen, trat der Sozialistischen Partei des Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende bei und wurde nach dessen Wahl Mitglied seiner legendären Leibgarde, bekanntgeworden unter dem Akronym GAP – „Gruppe der Freunde des Präsidenten“.

Gerade 21 Jahre alt, heiratete er die chilenische Dichterin Carmen Yáñez Hidalgo. Im Putsch-Jahr 1973 wurde ihr Sohn Carlos Lenin geboren. Nach dem blutigen Staatsstreich wurden Sepúlveda und Yáñez verhaftet; er in das Regiment Tucapel von Temuco eingeliefert, sie durch Folterzentren Santiagos geschleppt. Von einem Militärgericht zu 28 Jahren Haft verurteilt, die nach energischem Druck aus dem Ausland in Verbannung umgewandelt wurden, kam Sepúlveda 1977 nach fast drei Jahren Haftzeit frei. Doch die Ehe überlebte nicht die politischen Differenzen mit Carmen Yáñez, die einen radikaleren Kurs vertrat.

Im Alleingang bereiste Luis Sepúlveda sodann Argentinien, Uruguay, Brasilien, auch Paraguay, Bolivien und Peru. Doch entscheidend für seinen literarischen Aufstieg war der Exil-Aufenthalt in Ecuador. Sein ausgedehnter Kontakt zu den lebensbedrohten Shuar-Indianern im ecuadorianischen Amazonien beflügelte den Chilenen zu seinem in Hamburg geschriebenen und 1989 erschienenen Erstlingsroman „Der Alte, der Liebesromane las“, der seitdem in mehr als 40 Sprachen übersetzt wurde.

Ein Jahr bevor er in Hamburg eintraf, konnte er jedoch der Versuchung nicht widerstehen, sich Anfang 1979 der Internationalen Brigade Simón Bolívar anzuschließen, die nach Nicaragua mit dem Ziel aufbrach, die sandinistische Revolution mit der Waffe in der Hand und kreativen Ideen für den Wiederaufbau Nicaraguas zu unterstützen.

Das geografische Ende der Welt als Allegorie der Entwurzelung und der politischen Intrigen

Zu den zehn bis zwölf ins Deutsche übersetzten Buchtiteln Sepúlvedas zählen außer den Romanen „Tagebuch eines sentimentalen Killers“ (1998), „Der Schatten dessen, was wir waren“ (2009) und den Erzählungen „Wie man das Meer sehen kann“ (2005) mehrere Kinderbücher – darunter „Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“ (1996), „Wie der Kater und die Maus trotzdem Freunde wurden“ (2012) und „Der langsame Weg zum Glück – Ein Schneckenabenteuer“ (2013) – die in der Stube des Autors im spanischen Gijón entstanden und seine entspannte Hinwendung zur Welt von Haus- und Kleinsttieren als Lehrstücke und Moralia für menschliches Zusammenleben signalisiert.

Was Reisenden wie mir auffiel, der mehrfach Landschaften kennenlernte, die in Sepúlvedas Finisterre-Büchern beschrieben werden, ist sein immer wiederkehrendes Patagonien und Weltende-Motiv, das nahezu obsessiv und poetisch den Romanen „Die Welt am Ende der Welt“ (1989) und „Die Spur führt nach Feuerland“ (1994) sowie dem Reisebericht „Patagonien-Express“ (1995) als Szenerie dient und nicht zufällig von der ARTE-Hommage „Luis Sepúlveda – Widerstand vom Ende der Welt“ als exotische Kulisse genutzt wurde.

Hier erfolgt die Wiederbegegnung mit Patagonien allerdings aus umgekehrter Richtung, nämlich aus der Perspektive des nach dem erzwungenen Exil freiwillig in Spanien ansässigen Erzählers. Der in einer der Schluss-Szenen von „Die Welt am Ende der Welt“ für sich selbst erkennt, hier sei er „zu Hause“. Was sich, gemessen an der Beschreibung des spanischen Gijón als die Rückkehr zu den (familiären) Ursprüngen, wie ein widersprüchliches, verwirrendes Geständnis liest.

Doch dieses Hin und Her – wie im von Friedrich Nietzsche und Mircea Eliade beschriebenen Mythos von der ewigen Wiederkehr – ist wohl der Nährstoff nicht nur des permanenten Reisetriebs, sondern der Entwurzelung; und beides die Gewürze von Sepúlvedas literarischem Antrieb. Und warum nicht auch der persönlichen Empfindungen. Über zwanzig Jahre lebten der Schriftsteller und die Dichterin Carmen Yáñez getrennt, doch dann bat Lucho ihren gemeinsamen Sohn Carlos Lenín, er möge seiner Mutter doch einen zweiten Heiratsantrag überbringen. Den Yáñez, ohne mit der Wimper zu zucken, annahm und mit Sepúlveda nach Gijón, mit Blick aufs weite Meer der Sehnsucht, zog.

Titelbild: La Tercera


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