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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: “Liegt halb richtig, bei wem 2+2=5 ergibt?” – Eine Kontroverse um Evalutation, Bildungsstandards und Kompetenzen
Datum: 6. Juli 2010 um 8:54 Uhr
Rubrik: Bildung
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die neue Fokussierung auf Soft Skills macht Schüler erfolgreich – und dumm, sagt der Didaktiker Hans Peter Klein. Er wirft im FR-Interview vom 27. Juni 2010 einen kritischen Blick auf das Bildungssystem.
Nach Pisa sei das Bildungswesen auf ein sogenanntes output-orientiertes, also auf Kompetenzen basierendes System umgestellt worden – im Gegensatz zum früheren input-orientierten, wissensbasierten System. Das Wissen sei durch die neue Kompetenzorientierung zu 90 Prozent abgeschafft worden.
Der Konstanzer Psychologe und Bildungsforscher Georg Lind antwortet Klein auf seiner Website. Wir dokumentieren diese Kontroverse.
Georg Lind in seiner Kritik auf Hans Peter Klein:
Schade. Diese Kritik enthält einen wichtigen und richtigen Kern, aber leider auch Verallgemeinerungen und Deutungen, die mir falsch und rückwärtsgewandt erscheinen.
Richtig ist: Die rein fachlichen Anforderungen in Vergleichstests wie PISA und, in deren Schlepptau, der neuen Bildungsstandards und Abituranforderungen ist erbärmlich gering. Wenn man diese Aufgaben genau untersucht (wie es der Autor mit seinem Experiment und auch andere wie Meyerhöfer, Wuttke, Jahnke und Brügelmann getan haben*), dann sieht man, dass viele Aufgaben für die jeweilige Zielgruppe im fachlichen Kern so leicht zu lösen sind, dass sie künstlich schwer gemacht werden müssen, um eine deutliche Leistungsstreuung zu bekommen. Erschwert werden diese Aufgaben u.a.
Als ich vor 40 Jahren als Austauschschüler in den USA zum ersten Mal mit solchen Test konfrontiert wurde, hatte ich mich über die sehr geringen fachlichen Anforderungen sehr gewundert, und auch darüber, dass viele meiner Mitschüler trotzdem schlecht abschnitten. Offenbar hatte sie sich durch die Distraktoren bluffen und durch den Zeitdruck in Angst versetzen lassen. (Ich hatte als Austauschschüler wenig zu fürchten, ebenso wenig die Neuntklässler, die die Abi-Aufgaben lösen sollten.) Wirkliches Wissen bleibt bei solchen Aufgaben auf der Strecke.
Richtig ist auch: Mit den “Standards” wird paradoxerweise die fachliche Beliebigkeit gefördert. Mein Unterricht als Austauschschüler in den USA vor 40 Jahren war ziemlich ähnlich dem Unterricht hier. (Nur die Prüfungsaufgaben waren dort schon anders, weil an Standards orientiert.) Es herrschten also bereits internationale Standards, bevor man sie erfand. Wenn man heute nur noch an statistischen Kennzahlen (Item-Charakteristiken) interessiert ist, aber kaum noch an Inhalt und Qualität der Aufgabe, dann droht in der Tat fachliche Beliebigkeit.
Es ist also Zeit, Alarm zu schlagen, zumal die Problematik bereits seit langem in Fachkreisen bekannt ist.
Falsch ist jedoch, dieses Problem dem Begriff der Kompetenz in die Schuhe zu schieben, auch wenn PISA & Co. diesen Begriff (zu Unrecht!) für sich reklamieren.
In den Fremdsprachen findet seit einigen Jahren eine sehr erfolgreiche Hinwendung zu kommunikativen Kompetenz statt, die wegführt vom reinen Vokabel- und Grammatiklernen. Vokabeln + Grammatik sind noch keine Sprachkompetenz. Ich hatte bei meinem Austauschjahr in den USA mit Schrecken feststellen müssen, dass ich trotz sechs Jahre Lernfleiß im Fach Englisch an der Bestellung einer Portion Eis scheiterte. Die einzige Eissorte, die ich benennen konnte, war Erdbeereis — und das war ausgegangen. Erst als ich Englisch von Grund auf neu, durch Nachsprechen wie ein Papagei gelernt hatte, kam auch meine Vokabel- und Grammatikkenntnisse zum Zug.
Was diese Beispiel zeigen soll: Die Kompetenz- oder besser: Kommunikationsorientierung ist richtig, nicht nur im Fremdsprachenunterricht, sondern auch in der Naturwissenschaft. Wissenserwerb und Wissensvermittlung sind Kommunikationsprozesse!
Was falsch läuft, ist dass in den Vergleichstests und den neuen Abituraufgaben Kompetenz und Kommunikation nur dem Namen nach geprüft werden, sie in Wirklichkeit aber meilenweit davon entfernt sind. Der gerade publizierte Ländervergleich in Englisch fußt nur auf der Messung von Begriffswissen, nicht von kommunikativen Kompetenzen.
Die gegenwärtigen Papier- und Bleistift-Tests leisten das nicht, weil sie zu billig gemacht sind und weil ihnen keine didaktisch-psychologische Theorie der Fachaufgabe zu Grund liegt. Mit anderen Worten: die Autoren dieser Aufgaben wissen meist selbst nicht, was sie testen. Sie überlassen das Denken den Computern, die vorher mit fragwürdigen Annahmen gefüttert wurden, vor allem mit der Annahme, Kompetenzen seien total eindimensional. Vielfältige Hinweise in den Daten, dass dies nicht der Fall ist,* werden einfach ignoriert oder wegmanipuliert.
Die Formulierung valider Aufgaben zur Überprüfung bestimmter Kompetenzen setzt auf Seiten der Autoren eine hohe fachliche und psychologische Kompetenz voraus. Weil das noch selten gegeben ist, rief der ehemalige Präsident der amerikanischen Vereinigung der Bildungsforscher (AERA) Professor Alan Schoenfeld zu einem Moratorium bei der Testentwicklung auf. Bei aller Kritik an der Arbeit von Lehrern scheinen deren Aufgabenstellungen immer noch die bessere Alternative darzustellen (obwohl auch hier durch die Inflationierung von mündlichen und schriftlichen Prüfungen ein deutlicher Qualitätsverlust zu beklagen ist.)
Für falsch halte ich auch, dass in dem Interview für eine Deckelung der Abiturienten- und Studierendenzahlen plädiert wird. Hier kommt die Kritik an Kompetenzen völlig in das Fahrwasser konservativer Rückwärtskritik.
Weil wir in einer komplexen und sich schnell verändernden Gesellschaft mit vielen neuen sozialen und moralischen Problemstellungen leben, brauchen wir mehr gut ausgebildete Menschen als wir sie momentan haben. Das heißt, wie brauchen mehr Schul- und Hochschulabsolventen und wir benötigen besser ausgebildete Absolventen.
Wir brauchen nicht mehr Menschen mit Datenwissen, sondern Menschen, die sich Informationen merken können, sondern sie auch selbständig auffinden, verstehen, anwenden und im Diskurs mit anderen Menschen verantworten können: eben kompetente Menschen.
Kompetente Menschen sind Menschen, die viel Wissen haben, die aber das Wissen auch
können. Nur alle vier Aspekte zusammen machen Kompetenz bzw. wirkliches Wissen aus. Reines Faktenwissen ist kein wirkliches Wissen. Aber ich glaube, dass dies bei Lichte betrachtet, unter Pädagogen nicht strittig ist.
Strittig ist aber, wie man Kompetenzen in Schule und Hochschule effektiv vermittelt. Die alte Vorstellung war, dass man zuerst möglichst viel Fakten kennen sollte, bevor man sich den anderen Kompetenzaspekten zuwenden sollte oder sogar durfte. Schüler mussten zunächst einfach pauken und die Klappe halten. Über die anderen Aspekte mitreden durfte man erst, wenn man ein Abitur, ein Diplom oder gar erst eine Professur vorweisen konnte.
Dies halten heute viele Pädagogen und Psychologen für falsch. Der effektivere Lernweg ist der vom Verantworten (was muss ich können, um verantwortlich handeln zu können?), über das Anwenden (wie kann ich das machen?) zum Verstehen (warum funktioniert das?) und zum (Begriffs-)Wissen (wie drückt man das genau aus, was da passiert?). Meist kann man sich (Begriffs-)Wissen dann schneller und leichter aneignen, wenn man eine gewisse Ahnung hat, wofür es wichtig ist und wie man es anwenden kann.
Dabei sollte man nicht in denselben Fehler verfallen werden wie das alte Sequenzmodell, nämlich die Aspekte zeitlich allzu sehr voneinander scheiden. Am besten läuft das Lernen ab, wenn Verantworten, Anwenden, Verstehen und Begriffslernen sich in kurzen Sequenzen abwechseln und eng ineinander greifen.
Moderner Sprach- und Naturwissenschaftsunterricht setzt diese Einsicht heute mit gutem Erfolg um, allerdings ständig von zwei Seiten bedroht a) von der Verballhornung durch “Bildungsstandards” und b) von dem Beharrungsvermögen des alten Modells des Wissenserwerbs, an dessen Ende man zwar weiß, dass 2 + 2 = 4 ist, aber nicht, dass das nur dann ein sinnvolles Ergebnis ist, wenn bei beiden Sumannden die Maßeinheit dieselbe ist oder eine sinnvolle Oberkategorie für beide Maßeinheiten gefunden werden kann: zwei Äpfel und zwei Birnen sind vier Obsteinheiten. Eine sehr leichte Mathematikaufgabe in Rekordzeit lösen zu können macht noch keine Mathematik-Kompetenz.
Für falsch halte ich auch, die Überprüfung des “outputs” von Unterricht in Bausch und Bogen zu verdammen. Wir brauchen alles Drei: die Betrachtung des Inputs, des Outputs und des Prozesses. Jede Einseitigkeit ist problematisch. Wir müssen Geld für Bildung ausgeben und Bildungsziele aufstellen, aber das allein reicht nicht. Wir müssen auch prüfen, ob das Geld vernünftig ausgegeben wird und wie gut die Ziele erreicht werden. Dafür sind aber Ländervergleiche und Vergleichsarbeiten meist völlig ungeeignet, wie Brügelmann gezeigt hat. Viel zweckdienlicher (und billiger!) sind gezielte Untersuchungen mit kleineren Samples, aber mit einem gut durchdachten Forschungsdesign. Dafür sind auch sanktionsorientierte Tests völlig unnötig und untauglich, da sie zur Korruption herausfordern.
Gerorg Lind
Literatur
* Hopmann, S.T., Brinek, G. & Retzl, M., Hg. (2007). PISA zufolge PISA. Berlin: LIT-Verlag.
* Jahnke, T. & Meyerhöfer, W. Hg. (2006). Pisa & Co. Kritik eines Programms. Hildesheim: Franzbecker. (2. Auflage)
** Schoenfeld, A. H. (1999). Looking toward the 21th century: Challenges of educational theory and practice. Educational Researcher, 28, 4-14.
Weitere Literatur:
http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/evaluation/itse-references.htm
Replik von Hans Peter Klein:
Sehr geehrter Herr Kollege Lind,
zuerst einmal schönen Dank für Ihre ausführlichen Darstellungen, denen ich übrigens in weiten Teilen durchaus zustimme. Zum Interview selbst: Wie Sie sicherlich wissen, wird ein solches Interview letztendlich gegenüber dem Original Interview drastisch gekürzt. Auch den Titel habe ich nicht gewählt. “Exzellenz durch Nivellierung” war mein Titel und das ist auch mein zentraler Vorwurf gegen das, was jetzt durch Einführung von Bildungsstandards, Kerncurricula und Kompetenzorientierung passiert, der ist aber wohl nicht attraktiv genug. Nun zu der inhaltlichen Diskussion in aller Kürze:
Schöne Grüsse aus Frankfurt
HP Klein
Replik von Georg Lind
Lieber Kollege Klein,
[…] Wirklich schade, dass der Kompetenzbegriff über die PISA-Schiene bekannt gemacht und inzwischen zum Modebegriff wurde, den jeder im Munde führt, aber kaum einer versteht. Da ist die totale Verballhornung im Gang, wie das mit wichtigen Begriffen leider immer wieder geschieht.
Kompetenz schließt Faktenwissen ein, ist aber viel mehr als bloße Faktenhuberei. Kompetenz ist ein sehr schwer fassbares Konstrukt, für dessen Prüfung aufwändige Verfahren notwendig sind. Schnelle, subjektive Einschätzung durch Lehrkräfte (“Kompetenz-Raster”) und PISA-Tests (“Kompetenz-Stufen”) sind hilflose, aber auch verantwortungslose Reaktionen eines überforderten Bildungspersonals auf unsinnige Vorgaben der Politik.
Ein wichtiger Aspekt des seriösen Kompetenzbegriffs ist, dass der Kompetenzerwerb ein anderes Lernen erfordert: Faktenwissenserwerb (Vokabeln, Formeln lernen) bleibt wichtig, steht aber nicht mehr am Anfang, sondern kommt an zweiter Stelle. Das hat, wie die Lernforschung und auch meine eigenen Erfahrungen zeigen, den Vorteil, dass das Faktenwissen leichter und schneller erworben wird, wenn es in Komptenzerwerb eingebettet ist.
Beispiel Biologieunterricht: Eine Gymnasialehrerin, die ich in der Vermittlung moralisch-demokratischer Kompetenzen mittels der KMDD-Methode fortgebildet habe, schrieb mir: “Zusammenfassend kann ich sagen: es hat sich wirklich gelohnt, diese [Dilemma-]Diskussion durchzuführen. Ich hatte das Gefühl, in diesen beiden Stunden mehr erreicht zu haben als in 3-4 Wochen ‘normalem’ Unterricht. Ich habe viel über eine einzelne Schüler erfahren, war erstaunt über einige ‘schwache’ und stille Schülerinnen, die sich sehr engagiert haben, Veränderungen für die Gesellschaft, für den Umgang miteinander u.ä. eingefordert haben. Es war eine sehr lebhaft und sehr sachliche Diskussion und ich habe mich gefreut, meine Schüler ‘nachdenklich’ (wie sie es nannten) in die Ferien zu entlassen. Ich kann nur jedem, der vielleicht ähnlich zögerlich in Anbetracht der ‘kostbaren’ Unterrichtszeit von 2 Stunden ist, zuraten, die Dilemmadiskussion auszuprobieren!” Das ist auch mein Eindruck und der Eindruck vieler Kollegen, die wirkliche Kompetenzen zu vermitteln versuchen. Ich fange inzwischen alle meine Lehrveranstaltungen mit Übungen an, in denen die Teilnehmer ein moralisches Problem mit Fachbezug anhand eines konkreten Falls kontrovers diskutieren. Ich kann zeigen, dass sich dadurch die individuelle Urteils- und Diskursfähigkeit deutlich steigern lässt. Ich mache auch immer wieder die Erfahrung, dass im Seminar danach ein positiveres Lernklima herrscht und allen das Lernen leichter fällt. Mehr Stimmen von Teilnehmern von KMDD-Kursen finden Sie hier
Ich muss nicht erwähnen, dass ich für die Kompetenz, die man mit der KMDD fördert, ein geeignetes Messinstrument entwickelt habe (das inzwischen weltweit im Einsatz ist). Kompetenz-Tests sind sehr aufwändig in der Entwicklung, aber nicht unmöglich. Allerdings muss ihre Entwicklung von jahrelanger intensiver Forschung begleitet werden und streng experimentell, nicht empiristisch wie PISA sein. Der Moralisches-Urteil-Test ist kein klassischer Psycho-Test, sondern ein multivariates Experiment, das viel strengeren Validitätskriterien genügen musste: Wenn ich etwas beitragen darf zu der neuen Gesellschaft für “Bildung und Wissen”, dann würde ich gern die Begriffe Kompetenz und Evaluation gegen Missbrauch in Schutz nehmen. Ich hätte gar nichts dagegen, die neue Gesellschaft “Bildung und Kompetenz” zu nennen. Warum sollen wir das Feld so schnell räumen, wenn Begriffsverwirrung betrieben wird?
Ihren Vorschlag, die Arbeit an Bildungsstandards und Tests erst einmal zu stoppen, unterstütze ich sehr. Wir benötigen mehr Diskussion und Zeit, um über angemessene Kriterien für valide Kompetenztests nachdenken zu können. Andere haben das schon früher gefordert, unter anderen der renommierte Mathematiker, Psychologe, Didaktiker und ehemalige Präsident der AERA, Alan Schoenfeld (1999) in seinem Vortrag “Looking Toward the 21st Century: Challenges of Educational Theory and Practice”, abgedruckt im Educational Researcher, 28, 4-14.
Noch vielen Dank für Ihre freundliche Erlaubnis zum Weiterleiten Ihres obigen Textes an die Leser des Bildungs-Infos, was ich hiermit tue.
Grüße
Georg Lind
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=6106