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Titel: Wie sieht eigentlich die Bilanz der etablierten Medien aus – aktuell und beim Blick zurück? Ziemlich mies.

Datum: 12. Mai 2020 um 11:01 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Europäische Verträge, Medienkritik, Neoliberalismus und Monetarismus, Schulden - Sparen
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Diese Bilanz würde ich nicht ziehen, wenn die Mehrheit der etablierten Medien – vom Spiegel über die Süddeutsche bis zur Tagesschau, von Heute über die Bild-Zeitung bis zur FAZ – nicht ständig gegen die Medien im Netz austeilen würden. Die Kampagne gegen die sogenannten Verschwörungstheoretiker auf Demos und im Netz geht weiter, siehe gestern wieder bei Tagesschau und Heute. Deshalb ist die Frage angebracht, wie die Bilanz des Mitwirkens dieser Medien an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung aussieht. Heute erschien ein Artikel von Heiner Flassbeck, der zeigt, wie das etablierte Medium ZDF beim Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur EWU versagt. Dieser aktuelle Vorgang bestätigt die Gesamtbilanz. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die etablierten Medien haben in ihrer Mehrheit eine Latte von Fehlentscheidungen mitgetragen und befördert. Dazu ein paar Beispiele:

  • die Teilprivatisierung der Altersvorsorge,
  • die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und öffentlicher Leistungen,
  • den Hype um die sogenannte New Economy und den neuen Markt ausgangs der Neunzigerjahre,
  • Schröders Agenda 2010,
  • die Schwarze Null von Frau Merkel, Herrn Steinbrück und Herrn Schäuble,
  • die Feier der Exportüberschüsse als Ziel und Orientierungsmarke der Politik,
  • die Niedermache der Griechen, der Italiener und anderer Südländer,
  • den Jugoslawien-Krieg und die weiteren Kriegseinsätze der Bundeswehr,
  • und die Kriege des Westens insgesamt,
  • die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze,
  • der neue Feindbild-Aufbau – die Russen sind die Bösen,
  • die Berichterstattung und Kommentierung zur Corona-Krise? Mit wenigen Ausnahmen: Verlautbarungsjournalismus, Bewunderung für die Experten und die Regierung, und eben dann Kampagnenjournalismus,
  • usw. und sofort

Immer gab es auch Medien unter den etablierten Medien, die Kritisches und Vernünftiges geschrieben und gesendet haben, ohne Zweifel. Aber die Mehrheitsmeinungsmache hat uns eine Fehlentscheidung nach der anderen eingebracht bzw. diese Fehlentscheidungen der Politik vorbereitet und begleitet. Beispielhaft erinnere ich nur an die unendlich vielen Sendungen und Artikel zum angeblich dramatischen demographischen Wandel. Wo sind die inzwischen? Medienmacher wie Frank Schirrmacher, der 2004 in seinem „Das Methusalem-Komplott“ die Dramatisierung noch mitgemacht hat, dann aber sich mit den Fakten beschäftigte und seine Kampagne einstellte, sind Ausnahmen. Er ist ein Leuchtturm, ein Beispiel für an der Sache orientierte Publizisten.

Nun zum aktuellen Beitrag von Heiner Flassbeck.

Wir zitieren diesen Text und weisen vor allem auf die Passage zur einschlägigen ZDF-Sendung, einer 45-minütigen Dokumentation, hin. Passagen, die im Kontext dieses meines Textes wichtig sind, sind gefettet. Hier der Link zum Original.

Bundesverfassungsgericht

Woran Europa zerbricht
Von Heiner Flassbeck

Europa kann jetzt sehr schnell zerbrechen. Wenn Deutschland nicht endlich beginnt, seine Rolle in der Europäischen Währungsunion aufzuarbeiten, kann man einem unwissenden Gericht nicht einmal einen Vorwurf machen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020 zur Europäischen Zentralbank (EZB) wird in die Geschichte eingehen – zumindest darüber sind sich viele einig. Doch was die tieferen Ursachen für ein solches Urteil sind, darüber wird auf allen Seiten noch lange gerätselt werden. Sicher scheint mir nur, dass sich zukünftige Historiker schwer tun werden, das, was vorgegangen ist, zu verstehen. Sich zur Klärung der Umstände in eine Bibliothek zu begeben und nach den Ursachen zu forschen, wird diesmal nicht von Erfolg gekrönt sein. Man muss den Zeitgeist und sein mediales Echo kennen und verstehen, um die Frage beantworten zu können, wie es möglich ist, dass sich nachgewiesenermaßen intelligente Menschen total verrennen können.

Die acht Richterinnen und Richter (ein Mitglied hat gegen das Urteil gestimmt, ohne seine Meinung niederzulegen) haben sich in einem ökonomischen Urwald verlaufen, dessen Komplexität und Undurchdringlichkeit sie nicht gewachsen waren. Dass genau das passieren musste, hätten sie wissen können. In einem Urteil in ähnlicher Sache (hier zu finden, vom Januar 2014) schrieb die Richterin Lübbe-Wolf zur Begründung ihrer abweichenden Meinung unter anderem:

„Die Kompetenzen der Justiz hängen zwar, jedenfalls in normativer Hinsicht, nicht vom faktisch größeren oder geringeren Mut der Richter ab. Aber wo der Mut der Richter spätestens dann aus Rechtsgründen schwinden muss, wenn es zur Sache geht, dürfen sie sich auf die Sache gar nicht erst einlassen. Dass der vorliegende Beschluss dem Senat für seine später zu treffende verfahrensabschließende Entscheidung viele Möglichkeiten offenlässt, wortreich richterliche Zurückhaltung zu üben, spricht deshalb nicht für ihn. In Konstellationen, in denen die Rolle des Richters absehbar prinzipiell keine wirksame Intervention erlaubt, sollte richterliche Zurückhaltung schweigend geübt werden.“

Das ist exakt der Punkt, um den es geht. Die Richter sind diesmal wirklich zur Sache gegangen – mit verheerenden Folgen. Die Sache kreist nämlich gleich um mehrere der Fragen, die in der Ökonomik höchst umstritten sind, um es milde auszudrücken. Eigentlich müsste man sagen, das BVerfG hat genau bei den Fragen zugebissen, an denen sich die Ökonomen, auf die sich das Gericht hauptsächlich beruft, längst die Zähne ausgebissen haben.

Weil aber genau diese Fragen in Deutschland niemals offen diskutiert worden sind, konnte es passieren, dass sich das höchste Gericht inhaltlich auf eine Strömung beruft, die nie über die deutschen Grenzen hinaus gewirkt hat und von der Mehrzahl der wirklich international tätigen Ökonomen bisher nur milde belächelt wurde. Mehr noch, die deutsche Politik und die deutschen Leitmedien haben eine intellektuelle Dunstglocke entstehen lassen, die dem deutschen Stammtisch und, wie wir jetzt leider wissen, auch den FAZ-Lesern in Karlsruhe vorgegaukelt hat, es könne eine Rückkehr zum stillen Dorfteich der Deutschen Bundesbank geben, wo es für die Geldpolitik mit der Inflation einen leicht zu bekämpfenden Gegner gab und wo die anderen Länder Europas im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS), dem Vorgänger der EWU, stillschweigend den Vorgaben aus Deutschland folgten.

Als vor einigen Monaten der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhoff mit der Behauptung auftrumpfte, der deutsche Sparer werde von der EZB enteignet, ahnte ich schon Böses. Der Mann ist genau aus dem Holz geschnitzt, das offensichtlich im höchsten deutschen Gericht besonders gut gedeiht. Krude Vorstellungen von Marktwirtschaft verwachsen dort mit absurden Ideen über die Steuerungsmöglichkeiten des Staates und seiner Zentralbank zu einem Stoff, der zwar zäh ist, aber vollkommen ungeeignet, um damit Häuser zu bauen. Insbesondere grenzüberschreitende Konstruktionen sind unmöglich.

Die Schulden und das Sparen

Ich will hier nicht viel zum Sparen selbst sagen, wir haben dazu in der Vergangenheit alle wichtigen Zusammenhänge wieder und wieder erklärt (hier, hier oder hier). Noch unmittelbar vor dem Urteil des Gerichts habe ich dazu den deutschen Ökonomen den Spiegel einer veränderten Welt vorgehalten. Der „arme Sparer“ steht Kirchhoff-gemäß im Zentrum der Karlsruher Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit und damit zu den „Nebenwirkungen“ von Geldpolitik. Doch genau da muss er stehen, allerdings in einem ganz anderen Sinne, als Kirchhoff das meint. Auf Hilfe von der Geldpolitik kann der “arme” Sparer in einer deflationären Situation gerade nicht hoffen, weil es in einer deflationären Situation exakt darum geht, das Sparen zu entmutigen und das Verschulden zu ermutigen.

Die Erkenntnis, dass die Notenbank an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter kommt in dem Bemühen, über den Zins die Wirtschaft zu steuern und ihr Ziel zu erreichen, ist trivial. Selbst Mario Draghi hat es hunderte Male gesagt und die Staaten aufgefordert, ihrerseits mehr zu tun, was natürlich heißt, sich zu verschulden und für eine vernünftige Lohnentwicklung zu sorgen, weil es sonst logischerweise keinen Ausweg aus Wachstumsschwäche und deflationären Tendenzen gibt. Doch die ökonomische Logik ist nicht das Gebiet der Jurisprudenz. Weswegen sich das höchste deutsche Gericht nicht entblödet, auch gegenüber Italien seinen Vorurteilen freien Lauf zu lassen:

“Die mit dem PSPP unterstützte Senkung des allgemeinen Zinsniveaus entlastet damit unstreitig die Staatshaushalte der Mitgliedstaaten (vgl. Bundesverband öffentlicher Banken Deutschlands, 3 Jahre EZB-Wertpapierankäufe, S. 38 <30. November 2017>). Hierdurch besteht – trotz der vom Gerichtshof angenommenen „Garantien“ – die Gefahr, dass notwendige Konsolidierungs- und Reformbestrebungen nicht umgesetzt oder fortgesetzt werden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2017/2018, S. 172 f. <Dezember 2017>).”

Die „notwendigen Konsolidierungs- und Reformbestrebungen“! Wenn man nur klar sagen könnte, was das ist? Woher weiß ein Senat des Verfassungsgerichtes, was in Italien möglich und notwendig ist? Er beruft sich hier auf den Sachverständigenrat (SVR), kann aber offensichtlich nicht beurteilen, welche Position der SVR vertritt. Dass die extrem einseitig sein könnte, kommt den Richtern nicht in den Sinn. Die SVR-Position entbehrt bei sparenden italienischen Unternehmen und einem hohen Leistungsbilanzüberschuss des für Italien wichtigen Handelspartners Deutschland jeder Logik. Auch ein nationales Verfassungsgericht, das sich jahrelang mit einer europäischen Materie intensiv beschäftigt, sollte irgendwann begreifen, dass kein Land innerhalb einer Rechtsgemeinschaft und vor allem einer Währungsunion verstanden werden kann, ohne dass man alle ihr angehörenden Länder versteht – und das System, in dem sie gemeinsam wirtschaften.

Die unverstandene Währungsunion

Der Kern der explosiven Geschichte ist immer noch, dass in Deutschland die Konsequenzen einer Währungsunion unbekannt sind oder verdrängt werden. Verdrängt wird auf jeden Fall systematisch und dauerhaft, dass es Deutschland war, das in den ersten Jahren des Euro durch deutsche Deflation einen gewaltigen Keil in die EWU getrieben hat: Die deutsche Regierung drückte durch vielfältige Maßnahmen auf die deutschen Löhne und erhöhte dadurch die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen gegenüber den Währungspartnern. Genau das darf man in einer Währungsunion nicht tun.

Da es einen engen empirischen und theoretisch gut zu erklärenden Zusammenhang zwischen nationalen Lohnstückkostenentwicklungen und nationalen Inflationsraten gibt, läuft das Unterbieten des gemeinsamen Inflationszieles durch eine große Nation in der Union zwangsläufig darauf hinaus, dass es zu großen und anhaltenden Leistungsbilanzungleichgewichten und zu Deflation kommt. Leistungsbilanzungleichgewichte bedeuten automatisch Verschuldung zwischen Staaten. Dagegen kann die Zentralbank in einer Währungsunion aber nichts unternehmen, weil sie sich logischerweise nur nach dem Durchschnitt der Preisentwicklung aller Mitgliedsstaaten richten kann. Ergibt sich in der Summe aller Staaten eine Inflationsrate, die dem Mandat der Zentralbank entspricht, kann und darf die Geldpolitik nicht auf das Fehlverhalten eines einzelnen Mitglieds reagieren.

Und genau deswegen war das deutsche Lohndumping der fundamentalste und schwerste Verstoß gegen das gemeinsam beschlossene Ziel, eine Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent zu erreichen. Hätte Deutschland die zwei Prozent so konsequent eingehalten wie Frankreich, hätte die EZB die über die zwei Prozent hinaus abweichenden Staaten per Zinserhöhung in die Schranken weisen können. Dann wäre es nur für kurze Zeit und in viel geringerem Umfang zu den Ungleichgewichten gekommen.

Durch das deutsche Unterlaufen des Inflationsziels aber waren der EZB die Hände gebunden: Die EZB kann immer nur ein und dieselbe Geldpolitik für alle Mitgliedsstaaten gleichzeitig machen. Das kam in den 2000er Jahren Deutschland sehr gelegen: Zwar waren die Zinsen gemessen an der deutschen Inflationsrate zu hoch, was der deutschen Binnennachfrage, insbesondere der Investitionsnachfrage, schadete. Aber der deutsche Sparer war zufrieden. Und via außenwirtschaftliche Überschüsse in der EWU und auf den internationalen Drittmärkten wurde wenigstens teilweise kompensiert, was intern verloren ging.

Was sich seither in der EWU abspielt, folgt unmittelbar daraus. Die EWU-Partner stehen unter ungeheurem Druck, ebenfalls die Löhne zu senken, um ihre Auslandsverschuldung zu begrenzen. Daraus aber ergibt sich wiederum eine Nachfrageschwäche im europäischen Binnenmarkt, die verhindert, dass insbesondere Frankreich und Italien ihre immer noch hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen können. Das einzige Mittel, was man – wiederum aus rein logischen Gründen – dagegen einsetzen könnte, nämlich höhere staatliche Verschuldung, ist in der EWU verboten.

Nun aber passt den Deutschen die gemeinsame Geldpolitik nicht mehr, die auf die deflationären Prozesse in den EWU-Partnerländern reagieren muss. Der deutsche Sparer und mit ihm die deutschen Sparkassen und deutschen Versicherer sind nun nicht mehr zufrieden, weil niemand mehr da ist, der die Zinsen erwirtschaften kann, die in Deutschland so gern kassiert werden, ohne dass man sich selbst verschulden und Wachstum durch produktive Investitionen im eigenen Land in Gang bringen muss. Jetzt rächt sich bitter, immer nur auf die Verschuldung des Auslandes gesetzt zu haben. Denn inzwischen sind die deutschen Produktionsstrukturen dermaßen Richtung Außenwirtschaft verzerrt, dass das ganze Land ins Wanken gerät, wenn die Verschuldungsbereitschaft des Auslands versiegt. Dass dies in der Corona-Krise so plötzlich und umfänglich geschieht, war nicht vorauszusehen. Aber dass die deutsche Strategie falsch und hoch riskant war und ist, liegt seit gut 15 Jahren auf der Hand.

Aber genau aus dieser Geschichte, die absolut zentral ist für das Verständnis der bis heute andauernden Eurokrise, hat man in Deutschland ein Tabu gemacht. Aus diesem Tabu speist sich natürlich auch die vollkommene Ahnungslosigkeit der Verfassungsrichter. Kann man ihnen das zum Vorwurf machen? Ich bezweifle es. Das Gericht reflektiert die deutsche Lebenswirklichkeit, vom Bauernstammtisch in Niederbayern bis zum Krabbenfischer an der Nordsee, denen man auch nicht vorwerfen kann, dass sie nur das aufnehmen und verarbeiten können, was die Politik im Verein mit den großen Medien zum Thema macht.

Einen schlagenden Beweis für das Versagen der Medien hat gerade das ZDF geliefert. In einer 45-minütigen Dokumentation über die „sieben größten Irrtümer des Euro“ werden die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, das deutsche Lohndumping und seine deflationären Folgen für die gesamte Eurozone nicht mit einem Wort erwähnt. Allerdings darf Hans-Werner Sinn seine abstruse Kapitalflusstheorie (die u. a. hier auseinandergenommen wird) erklären. So ein Versäumnis eines bedeutenden Mediums mag nicht unmittelbar unter den Begriff fake news fallen, es ist aber fake Information, weil dem Zuschauer suggeriert wird, Deutschland habe alles richtig gemacht.

In der Weigerung der Politik und der deutschen Öffentlichkeit, über diesen deutschen Pfeil (AM: das muss wohl „Pfahl“ heißen) im europäischen Fleisch zu reden, ist die Ignoranz des Karlsruher Urteils begründet. Weder die SPD noch die Grünen haben sich von ihrer Agenda-Politik klar abgewendet. Der Bundespräsident, der in jeder Sonntagsrede den großen Europäer gibt, hat nie gesagt, dass er zusammen mit seinem damaligen Bundeskanzler letztlich zu verantworten hat, was nun geschieht. Angela Merkel und die Ihren waren immer froh, dass Rot-Grün eine „Arbeit“ geleistet hat, die sich die Union nie getraut hätte und die sie nicht hätte durchsetzen können. Auch die Union und die FDP haben zum Programm erhoben, zur deutschen Causa zu schweigen.

Der Monetarismus

Angesichts solcher Fehlleistungen ist es fast überflüssig, zu konstatieren, dass die Urfehler der Konstruktion von Maastricht bis heute nicht behoben sind, ja nicht einmal diskutiert werden. Maastricht war auf Monetarismus gebaut. Monetarismus aber ist eine Fiktion. Die Fiktion, es gebe eine Geldmenge, die von einer unabhängigen und rein technokratisch geführten Notenbank so gesteuert werde, dass am Ende die gewünschte Inflationsrate herauskäme. Das ist der Traum vieler Ökonomen vom neutralen Geld.

Doch dieser Traum hat nichts, absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Weil man aber zu Beginn der neunziger Jahre, als der Maastricht-Vertrag entstand, fest an diese Fiktion geglaubt hat (manche, wie der Sachverständige Wieland, glauben heute noch daran), hat man eine Trennung von Geld-und Wirtschaftspolitik in den Vertrag geschrieben, die vollkommen lebensfremd ist. Genau dieser Traum war es auch, der Deutschland darauf beharren ließ, Geldpolitik könne völlig losgelöst von der realen Welt agieren – und genau deswegen dürfe die Zentralbank kein anderes Ziel als Preisstabilität verfolgen, sondern alle anderen hätten sich an die Zentralbankvorgaben anzupassen. Das war exakt das Gegenteil der Verhältnismäßigkeit, die heute das Verfassungsgericht fordert.

All das müssen Verfassungsrichter nicht wissen. Aber sie müssen sich kundig machen. Niemand würde einem Statiker die Überprüfung einer Brücke anvertrauen, der nicht auf dem neuesten Stand der Technik ist. Wenn zwischen dem Bau der Brücke und seiner Überprüfung neue technische Erkenntnisse gewonnen wurden, muss er die berücksichtigen. Er kann sich gegen Fehler bei der Überprüfung nicht mit dem Argument zur Wehr setzen, er habe auf dem Stand des Wissens von vor dreißig Jahren geprüft. Der Monetarismus ist von allen bedeutenden Zentralbanken der Welt ad acta gelegt worden, weil eine Geldmengensteuerung nicht umgesetzt werden kann. Zentralbanken machen via Zinsen Wirtschaftspolitik, was sonst? Damit ist die Abwägung der Wirkungen dieser Politik auf die gesamte Wirtschaft eine Selbstverständlichkeit und die Prüfungsaufforderung des BVerG in Sachen Verhältnismäßigkeit daher vollkommen unangemessen.

Ob Notenbanken, die einfach Wirtschaftspolitik machen, unabhängig sein sollten, darüber kann man lange streiten. Jedenfalls sind die technokratischen Argumente für die Unabhängigkeit, die der Monetarismus vorgebracht hat, samt und sonders hinfällig. Wenn man sich jedoch trotz der Überwindung der monetaristischen Fiktion für Unabhängigkeit entscheidet, so wie das Europa getan hat, ist es selbstverständlich, dass eine solche Institution weder von nationalen Verfassungsgerichten noch von nationalen Regierungen und nationalen Parlamenten Ratschläge in Sachen Verhältnismäßigkeit entgegennehmen muss.

Im Übrigen sind alle Notenbanken viel enger in die praktische Gestaltung der Wirtschaftspolitik eingebunden, als das nach außen den Anschein hat. Die EZB ist bei den Sitzungen der Eurogruppe inklusive Vorbereitungstreffen zugegen, bei G 7, bei G 20 und in den übrigen internationalen Organisationen, die sich mit Finanzfragen befassen. Eine von der Politik völlig losgelöste Notenbank, die im Elfenbeinturm einsame Entscheidungen trifft, gibt es nicht und hat es auch nie gegeben.

Ehrlich wäre es, die Europäischen Verträge inklusive des Maastricht-Vertrags zu ändern und damit den neuen Zeiten und den neuen Erkenntnissen anzupassen. Aber dann müsste Deutschland ja Abschied nehmen von seinen seit Jahrzehnten gepflegten Illusionen. Wer würde diesem Land und seiner Politik zutrauen, endlich ehrlich mit sich selbst zu sein?

Titelbild: zendograph / Shutterstock


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