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Titel: Wie die Stuttgarter Demo vom 2. Mai im TV verzerrt wird: „Zu den Teilnehmern zählten neben Impfgegnern auch Verschwörungstheoretiker“
Datum: 4. Mai 2020 um 11:04 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Die Berichterstattung über die Demonstration „Wir für das Grundgesetz – 5. Mahnwache für das Grundgesetz“ am Samstag, 2. Mai, ist für mich als Journalist und Journalismus-Dozent ein Beispiel dafür, wie bedauerlich schlecht manche Kolleginnen und Kollegen handwerklich arbeiten. Oder aber, wie sie die Wirklichkeit verzerren. Ich lehre meinen Studentinnen und Studenten, dass Journalisten eine hohe Verantwortung haben, da sie diejenigen sind, die die veröffentlichte Meinung „herstellen“ und somit die Basis für den gesellschaftlichen Diskurs und politische Entscheidungen schaffen. Sie sollten wahrheitsgemäß, unparteiisch und vollständig berichten. Das ist das Ideal. Natürlich weiß ich um die vielen Zwänge, unter denen Journalisten arbeiten, und wie schwierig es ist, dieses Ideal in der Realität umzusetzen. Nun war ich selbst auf der Demo am 2. Mai und musste quasi am eigenen Leib erleben, wie die Journalisten von SWR und ARD manipulieren – oder aber, wie wenig sie ihr Handwerk beherrschen. Von Constantin Schnell.
Der SWR sendete in seiner aktuellen Informationssendung BW aktuell noch am selben Abend im dritten Fernsehprogramm (also auf SWR) zwei Berichte. Interessanterweise unterscheidet sich der Bericht in der SWR-Hauptnachrichtensendung um 19.30 Uhr vom Beitrag, der bereits um 18 Uhr zu sehen war. Beide Berichte bedienten sich weitgehend desselben Videomaterials, wurden aber von zwei verschiedenen SWR-Mitarbeitern erstellt. Der erste Bericht (der auch online auf die aktuelle SWR-Seite gestellt wurde) war noch weitgehend sachlich, der zweite aber schon einer näheren Betrachtung würdig. Der Tagesschau-Bericht in der ARD, der auf dem SWR-Videomaterial gründet, ist unter dem Gesichtspunkt des journalistischen Handwerks tatsächlich noch betrachtungswürdiger.
Ich gehe zunächst auf den Fernsehbeitrag der SWR-Hauptsendung vom 2. Mai um 19.30 Uhr ein, den der „Kollege“ Joachim Auch erstellt hat. Der Beitrag öffnet damit, dass der Organisator der Demo, Michael Ballweg, am SWR-Berichterstatter vorbeirennt. In der Vorbereitungsphase der Demo hatte er offensichtlich keine Zeit, ein TV-Interview zu geben. Der eilig Rennende wird so kommentiert: „Der Mann kennt sich aus in der Welt des Internet: der IT-Unternehmer Michael Ballweg. Für ein Kurzinterview im realen Leben hat er erst mal keine Zeit.“ Der Beitrag zeigt den Organisator also in einem wenig sympathischen Licht. Das mag man für einen originellen Einstieg halten, unter Journalisten nennt man das eine Retourkutsche: Freundchen, beim nächsten Mal überlegst du dir zwei Mal, ob du einen SWR-Mitarbeiter einfach so stehen lässt! Der Einstieg ist zwar unschön, aber rein handwerklich sollte man hier nicht zu hart urteilen.
Sodann textet der SWR-Mitarbeiter: „…die härtesten Forderungen lässt Ballweg aus Internetforen einspielen, anstatt sie selbst auf der Bühne zu formulieren.” Der Waschlappen! Tatsächlich wurden drei Audiobeiträge eingespielt, ein Interview mit der Zeitung „Welt“, ein O-Ton der Kanzlerin und ein Statement von Heribert Prantl. Zwei der drei Einspielungen – auf die im Beitrag nicht näher eingegangen wird – waren also definitiv nicht aus Internetforen. Es gibt keinen Grund, die Einspieler mit dem Ruch das Unseriösen und Hetzerischen zu verunglimpfen, den das Wort „Internetforen“ provoziert. Und natürlich hat Ballweg klar und deutlich seine Forderungen auf der Bühne selbst formuliert. Alles in allem hat er geschätzte 20 bis 30 Minuten selbst gesprochen.
„Zensur, Millionärsmachenschaften und Rücktrittsforderung“
Weiter im Bericht heißt es, Ballweg gäbe sich auf der Bühne „gemäßigt“ und „auch gesetzestreu will Ballweg wirken. Helfer malen Sicherheitsabstände mit Kreide auf den Wasen.“ Tatsächlich hat Ballweg mehrfach darauf hingewiesen, dass es eine Auflage der Stadt Stuttgart war, dass für die Einhaltung der vorgeschriebenen 1,5 Meter Abstand gesorgt wird. Er wollte also keineswegs „gesetzestreu wirken“ – was ja immer impliziert, dass man zwar so wirken wolle, es aber nicht ist – sondern er setzte einfach nur die Auflagen der Stadt um. Ganz richtig berichtet Joachim Auch die vom Veranstalter angegebene Teilnehmerzahl (5.000). Ich schätze die Teilnehmerzahl selbst auf irgendetwas zwischen 4.000 und 5.000 Teilnehmer. Auch am Kernsatz „Die Demonstranten fordern ein Ende der Corona-Einschränkungen, vor allem eine mögliche Impfpflicht lehnen sie vehement ab“ ist wenig zu bemängeln, nur das „vor allem“ entspricht nicht meinem Eindruck. Die Ablehnung einer Impfpflicht nahm nur einen kleinen Teil der Redezeit und auch der durch Schilder kundgetanen Demonstranten-Meinungen ein.
Aber sei’s drum. Der nächste Satz lautet: „Sie (die Demonstranten, Anm. des Autors) vermuten Zensur, angebliche Machenschaften von Millionären und fordern Kanzlerin Merkel zum Rücktritt auf”. Man sieht im Bild ein T-Shirt, auf dem letztere Forderung steht. Mal davon abgesehen, dass man wohl nicht „angebliche“ Machenschaften vermutet, sondern eben nur Machenschaften, stellt sich vor allem die Frage: War es wirklich so? Vermuteten die Demonstranten Zensur, Millionärs-Machenschaften und forderten Rücktritte? Einige wenige taten das sicherlich, das konnte man ihren T-Shirts und Schildern entnehmen. Die meisten jedoch, die ich sah und sprach, taten dies nicht. Mit der gleichen Berechtigung hätte man den Satz texten können „Die Demonstranten sind den etablierten Medien gegenüber kritisch, sie fordern die sofortige Öffnung der Gastronomie und der Kindergärten.“ Auch das wären Vermutungen des Reporters oder Einzelmeinungen gewesen. Wie also wahrheitsnah berichten – man kann ja nicht 5000 Menschen befragen? Einerseits kann man als Journalist natürlich hören – und wiedergeben – was von der Bühne kommt. Man hätte hören können, dass es vor allem darum ging, dass die Grundrechte wieder vollumfänglich gelten sollten. Das aber unterschlägt der SWR-Berichterstatter. Andererseits muss man als Reporter ein Gefühl dafür bekommen, welcher Geist tatsächlich auf einer Demo herrscht. Und dann interviewt man Teilnehmer, die man als Reporter als repräsentativ für die breite Teilnehmermeinung ansieht, pars pro toto. Ich kann definitiv sagen, dass der Geist der Demonstranten nicht „Zensur, Millionärsmachenschaften und Rücktrittsforderung“ war. Wie kam der SWR-Mitarbeiter darauf? Immerhin kamen im Bericht kurz darauf zwei Teilnehmer im O-Ton zu Wort, die sich als obrigkeitskritisch und als besorgte Eltern zeigten – das entsprach tatsächlich schon mehr dem Geist der Veranstaltung, an der ich teilgenommen hatte. Die Zensurbefürchter, Millionärsmachenschaftler und Rücktrittsforderer bleiben beim Zuschauer aber trotzdem. Schlechtes Handwerk oder Absicht?
Im weiteren Verlauf des 2:04-Minuten-Beitrags heißt es: „Seine Bewegung sei überparteilich, sagt Ballweg. Allerdings spricht nach ihm der Impfgegner Ralf Ludwig, der eine eigene Partei gegründet hat.“ Ballweg betonte deutlich, dass er seine Initiative nicht in einem Raster von Links oder Rechts oder Mitte sehen möchte. (Was eine Überparteilichkeit impliziert, die aber nach meiner Erinnerung nicht so benannt wurde – möglicherweise hat Ballweg diese Vokabel absichtlich nicht benutzt, weil sie wegen Ludwigs Auftreten nicht zutrifft. Ich als Berichterstatter hätte mich hier zurückgehalten, da ich mich nicht mehr präzise erinnern kann, ob er die Vokabel „überparteilich“ nun benutzt hat oder nicht.). Ralf Ludwig sagte auf der Bühne: „Ich bin kein Impfgegner. Meine Kinder sind geimpft, ich bin geimpft.“ Welche journalistische Sorgfaltspflicht hat Herr Auch walten lassen, einen Menschen, der vor 5000 Menschen sagt, er sei kein Impfgegner, als Impfgegner zu bezeichnen? Anstatt als Jurist, der an den aktuellen Verfassungsgerichtsurteilen zur Demonstrationsfreiheit beteiligt war?
„Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Anhänger der Pegida-Bewegung“
Doch der SWR-Beitrag erscheint fast noch sachlich im Vergleich zum Beitrag in der ARD-20-Uhr-Tagesschau vom 2. Mai. Dort erscheint die größte (und politisch sicher wichtigste) Demo des Wochenendes in einem 30-Sekunden-Beitrag, der folgendermaßen getextet war:
„Mehrere Tausend Menschen haben in Stuttgart gegen die Corona-Beschränkungen demonstriert. Es ist bereits das vierte Mal in Folge, dass die Initiative gegen die Regeln im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes protestiert. Zu den Teilnehmern zählen neben Impfgegnern auch Verschwörungstheoretiker und Anhänger der Pegida-Bewegung. Nach einem anfänglichen Verbot darf die Initiative inzwischen wieder demonstrieren, weil das Bundesverfassungsgericht einem entsprechenden Eilantrag stattgegeben hatte.“
Es war das fünfte Mal in Folge, aber egal. Generell ist da viel Informatives, das einen ziemlich heißen Satz einrahmt. Die Filmbilder hatte die Tagesschau-Redaktion vom SWR bekommen, das ist innerhalb der ARD so üblich. Doch woher kam die Information, dass Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Pegida-Anhänger zu den Teilnehmern zählten? Auch ja, die Impfgegner hatte wohl schon Herr Auch vom SWR ausgemacht. Richtigerweise hätte er sie seinen Hamburger Kollegen als Impf-Zwangs-Gegner melden müssen. Doch wenn er in nennenswerter Anzahl (oder Lautstärke) Pegida-Anhänger gesehen hatte, wieso hat er sie in seinem Bericht für BW aktuell nicht erwähnt? Weit treffender hätte die Tagesschau-Redaktion texten können: „Zu den Teilnehmern zählten Juristen, IT-Unternehmer, Menschen mit Kindern, Studentinnen und Studenten und auch zahlreiche ältere Menschen aus der sogenannten Risikogruppe.“ Denn all diese Menschen waren zu sehen bzw. ich habe mit ihnen gesprochen. Dann hätte das breite Publikum ein zutreffenderes Bild der Stuttgarter Demo aus der Tagesschau mitgenommen.
Ich selbst fühle mich etwas ungerecht behandelt, wenn der Eindruck entsteht, ich sei auf einer Demo von Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern und Pegida-Anhängern gewesen. Obwohl ich sicher bin, dass solche auch unter den Demonstranten waren – und das ist auch vollkommen in Ordnung, denn auch die dürfen für Grundrechte demonstrieren. Vor allem aber waren auf dem Stuttgarter Wasen kritische Menschen, deren gemeinsamer Nenner das Eintreten für die Grundrechte war. Mehr aber schäme ich mich, wie die ARD-„Kollegen“ hier einen verzerrten Eindruck der Wirklichkeit in deutsche Wohnzimmer senden. Und noch mehr Fremdscham kommt auf, wenn ich höre, dass erfahrene Journalisten den Begriff „Verschwörungstheoretiker“ nutzen. Selbst in der Höhe der ARD-Tagesschau-Redaktion ist inzwischen sicher angekommen, dass dies ein politischer Kampfbegriff ist, der extrem unscharf ist und vor allem dazu dient, andere Menschen (mit anderer Meinung) zu verunglimpfen. Journalistische Nachlässigkeit beim textenden Journalisten? Dem diensthabenden Redakteur ist es durchgerutscht? Schlechtes Handwerk im Flaggschiff der ARD? Oder doch Absicht?
Zur Person: Constantin Schnell ist seit über 20 Jahren Journalist in Stuttgart. Er arbeitete vor allem als freier Print- und Online-Journalist, aber mitunter auch für Unternehmen wie die Bavaria-Film oder das Internationale Trickfilm-Festival Stuttgart. An verschiedenen Hochschulen ist er seit vielen Jahren als Journalismus-Dozent tätig. Seinen Lebensunterhalt verdient er heute vor allem als Medienpädagoge.
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