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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 29. Juni 2010 um 8:40 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Heute unter anderem zu folgenden Themen: Der Gipfel; Krugman: die dritte Depression; Ökonomenumfrage; deutsche Banken haben die meisten faulen Kredite; Mehr Steuern, bitte; Steuersenkungswettlauf; das Leben einer Hotel-Hungerlöhnerin; guter Ausländer, schlechter Ausländer; IQ-Test für Ausländer; die Arbeitslosigkeit und die Tafeln gleichzeitig abschaffen; Swift-Abkommen; Aufstand gegen Westerwelle abgesagt; Gauck spaltet Ex-DDR-Opposition; die Scheinwirtschaft an den Unis; Fußball-WM; zum 100. Geburtstag von Erich Kuby. (WL)

  1. Der Gipfel
  2. Paul Krugman: Die dritte Depression
  3. FTD-Ökonomenumfrage
  4. Deutsche Banken haben die meisten faulen Kredite
  5. Mehr Steuern, bitte!
  6. Direkte Steuern runter, indirekte Steuern rauf
  7. Das Leben einer Hotel-Hungerlöhnerin
  8. Guter Ausländer, schlechter Ausländer
  9. Kritik an Forderung nach IQ-Test für Migranten
  10. Die Arbeitslosigkeit und die Tafeln gleichzeitig abschaffen!
  11. Ab in den Datenpool
  12. FDP: Der Aufstand ist abgesagt
  13. Gauck spaltet Ex-DDR-Opposition
  14. Die Scheinwirtschaft
  15. Betrachtungen zur Fußball-WM
  16. Zum 100. Geburtstag von Erich Kuby

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Der Gipfel
    1. Scheingefechte und Gruppenfotos
      Wer am Wochenende die Kommuniqués vom Gipfel der 20 mächtigsten Industrie- und Schwellenländer in Toronto las, konnte zu dem Schluss kommen, im falschen Film gelandet zu sein. Eineinhalb Jahre sind vergangen, seitdem das Bankensystem in weiten Teilen der Welt zusammengebrochen ist und nur durch milliardenschwere staatliche Hilfen gerettet werden konnte. In dieser Zeit hat die Rezession 34 Millionen Menschen den Job gekostet. Bankenhilfe, Konjunkturprogramme und die sinkende Wirtschaftsleistung haben den Weg für die Schuldenkrise geebnet. Erste Staaten sind fast pleitegegangen (Griechenland, Ungarn) oder stehen knapp davor (Spanien).
      Was machten die G-20? Sie führen Scheingefechte. Die USA und Europa verloren sich in sinnlosen Geplänkeln darüber, wer wie viel sparen soll. So als ob am Ende dieser Debatte etwas anderes als vage Ziele unter dem Motto “Sparen ist wichtig, die Wirtschaft stärken aber auch” herauskommen hätte können.
      Quelle: derStandard.at

      Anmerkung GG: In der österreichischen Zeitung kann man immerhin noch lesen, was in deutschen Medien weitgehend verschwiegen wird: “… auch in den USA gibt es seit längerem grundsätzliche Bereitschaft zu sparen – die Frage war stets nur ab wann und wie stark.” Hierzulande werden die Positionen auf ein “verfälschendes “Sparen oder Schulden machen” verkürzt.
      Und der Standard berichtet weiter, was dem Leser deutscher Gazetten an Differenzierung offenbar nicht zugemutet werden kann: Man erkenne an, heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels, dass die wirtschaftliche Erholung je nach Land und Region in unterschiedlichem Tempo voranschreite. “Es besteht das Risiko, dass sich eine synchronisierte Anpassung der Finanzen in den wichtigsten Volkswirtschaften negativ auf die Erholung auswirkt.” Gleichzeitig dürfe eine notwendige Konsolidierung aber nicht versäumt werden, weil dies das Vertrauen störe und das Wachstum behindere.”
      Der deutsche Michel bekommt das von seinen Qualitätsmedien verdaulicher vorgesetzt, nämlich so, wie stellvertretend der Münchener Merkur Mainstream-Junkfood serviert: „…Umso erstaunlicher, dass die Europäer sich mit ihrem beeindruckend schnörkellos vertretenen neuen Grundsatz ‘Sparen statt Schulden’ am Ende durchsetzen konnten. Zumindest auf dem Papier erklärten die Gipfelteilnehmer ihre Absicht, die Haushaltsdefizite bis 2013 auf die Hälfte zu reduzieren. Dieser Meinungsumschwung ist nicht zuletzt das Verdienst der deutschen Kanzlerin, die keinen Augenblick daran dachte, die Stabilität des Euro auf dem Altar amerikanischer Konjunkturpolitik zu opfern”.

      Merkels Sparsieg“ muss gefeiert werden. Natürlich auf Kanzlerinnenart:
      “Angela Merkel kann diese Schwarz-Weiß-Malerei nicht leiden. Wer hat gewonnen, wer hat verloren? Wer hat sich durchgesetzt, wer ist eingeknickt? Nein, das sind nicht die Kategorien, in denen sie denken will. Statt von Streit spricht sie lieber von “produktiven Prozessen”, in denen Meinungen ausgetauscht werden. Am Ende dieser Prozesse erkennt dann jeder der Diskutanten das Gute im Standpunkt des Anderen. Und alle haben sich wieder lieb.”
      Und heraus kommt dabei der Formelkompromiss für “wachstumsfreundlichen Defizitabbau”. Wenn das keine 970 Millionen Euro wert ist?!

    2. G-20-Gipfel: Wenn Merkel regiert
      Außer Spesen nichts gewesen – dieses Urteil trifft einfach nicht. Wann wäre es einem deutschen Kanzler je gelungen, auf internationaler Bühne ausgerechnet in Wirtschaftsfragen Angelsachsen erfolgreich die Stirn zu bieten? Angela Merkel hat just das in Toronto erreicht.
      Quelle: Tagesspiegel

      Anmerkung Orlando Pascheit: Was ist passiert? Die Industrienationen haben Frau Merkel eine Schlagzeile für die Heimat geliefert, nachdem alle Vorschläge, welche auch nur annähernd den Ursachen der Finanzkrise Rechnung trugen, abgelehnt  oder in die Zukunft verschoben wurden. Sie haben Frau Merkel das versprochen, was sie sowieso vorhatten: Mittelfristig ihre Haushaltdefizite zu reduzieren und langfristig die Schulden abzubauen. Toll! Der Artikel ist ein Stück Hofberichterstattung, fehlt nur noch der Hinweis, dass die G-20 Frau Merkel zum Sieg der deutschen Mannschaft bei der WM gratulierte.

    3. Die G-20 Toronto Gipfel Erklärung (im Wortlaut)
      To sustain recovery, we need to follow through on delivering existing stimulus plans, while working to create the conditions for robust private demand. At the same time, recent events highlight the importance of sustainable public finances and the need for our countries to put in place credible, properly phased and growth-friendly plans to deliver fiscal sustainability, differentiated for and tailored to national circumstances. Those countries with serious fiscal challenges need to accelerate the pace of consolidation. This should be combined with efforts to rebalance global demand to help ensure global growth continues on a sustainable path.
      Following through on fiscal stimulus and communicating “growth friendly” fiscal consolidation plans in advanced countries that will be implemented going forward. Sound fiscal finances are essential to sustain recovery, provide flexibility to respond to new shocks, ensure the capacity to meet the challenges of aging populations, and avoid leaving future generations with a legacy of deficits and debt. The path of adjustment must be carefully calibrated to sustain the recovery in private demand. There is a risk that synchronized fiscal adjustment across several major economies could adversely impact the recovery. There is also a risk that the failure to implement consolidation where necessary would undermine confidence and hamper growth. Reflecting this balance, advanced economies have committed to fiscal plans that will at least halve deficits by 2013 and stabilize or reduce government debt-to-GDP ratios by 2016….Fiscal consolidation plans will be credible, clearly communicated, differentiated to national circumstances, and focused on measures to foster economic growth.
      Pursuing structural reforms across the entire G-20 membership to increase and sustain our growth prospects;
      and Making more progress on rebalancing global demand.
      Surplus economies will undertake reforms to reduce their reliance on external demand and focus more on domestic sources of growth.
      We agreed the financial sector should make a fair and substantial contribution towards paying for any burdens associated with government interventions, where they occur, to repair the financial system or fund resolution, and reduce risks from the financial system. We recognized that there are a range of policy approaches to this end. Some countries are pursuing a financial levy. Other countries are pursuing different approaches.
      Quelle: summit documents

      Anmerkung WL: Die Erklärung ist zwar alles andere als konkret, doch so einseitig nur auf Schuldenabbau beschränkt, wie das in deutschen Medien dargestellt wird, ist sie keineswegs. Immerhin wird das Risiko angesprochen, dass eine gleichzeitiger Sparkurs der großen Volkswirtschaften das Wachstum negativ beeinflussen könnte.
      Die (Leistungsbilanz-) Überschuss Volkswirtschaften sollen ihre Abhängigkeit von der Exoportnachfrage abbauen und sich stärker auf heimische Wachstumsquellen stützen.
      Auch wird gefordert, dass der Bankensektor einen beachtlichen Beitrag für die Lasten tragen soll, die durch die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für die Bankenrettung entstanden sind.
      Doch leider bleibt alles im Vagen und jede Regierung kann sich die Sätze herauspicken, die ihre jeweilige Politik legitimiert.Viel Rauch und wenig Feuer.
      Man kann attac nur weitgehend zustimmen: G20 in Toronto trauriges Possenstück – Sparkurs bedeutet neoliberales Weiter-so.
      “Es ist lächerlich: Statt sich an die noch vor einem Jahr vollmundig angekündigte neue globale Finanzmarktarchitektur zu machen, streiten die Vertreter der 20 mächtigsten Industrie- und Schwellenländer auf der Weltbühne darüber, wer bis wann wie viel sparen muss. Das einzig Gute an dem Ergebnis von Toronto ist seine Unverbindlichkeit”, sagte Jutta Sundermann vom bundesweiten Attac-Koordinierungskreis.
      Attac betonte, die Finanz- und Wirtschaftskrise habe ihre Ursachen sowohl in einer sich weiter zuspitzenden Polarisierung von Einkommen und Vermögen, als auch im Fehlen jeglicher Regulierung der Finanzmärkte.
      Angesichts dessen sei es ein schlechter Witz, wie die G20 in Toronto jede Regulierung auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben und stattdessen einen Sparkurs vereinbart haben, der den Gegensatz von Arm und Reich weiter verschärfen wird.
      Mit dem Einschwenken auf den bei europäischen Regierungen derzeit so beliebten Sparkurs setzen die G20 laut Attac auf ein neoliberales Weiter-So. “Eine solche Sparstrategie ohne jede Perspektive für eine emanzipatorische gesellschaftliche Umgestaltung bringt den scheinbaren Sachzwang mit sich, bei der Armutsbekämpfung, bei Bildung, bezahlbaren Gesundheitsdiensten und ökologischen Schutzmaßnahmen zu kürzen”, sagte Hendrik Auhagen, ebenfalls im Attac-Koordinierungskreis. Was auf der Konferenzebene so sachlich technisch daherkomme, werde millionenfaches menschliches Leid verursachen. Reiche und Superreiche dagegen würden dazu bewogen, mit ihrem Kapital noch riskantere Spekulationsspiralen in Gang zu setzen.
      Quelle:attac presslations

  2. Paul Krugman: Die dritte Depression
    We are now, I fear, in the early stages of a third depression. It will probably look more like the Long Depression than the much more severe Great Depression. … And this third depression will be primarily a failure of policy. Around the world — most recently at last weekend’s deeply discouraging G-20 meeting — governments are obsessing about inflation when the real threat is deflation, preaching the need for belt-tightening when the real problem is inadequate spending. …

    The revival of the old-time religion is most evident in Europe, where officials seem to be getting their talking points from the collected speeches of Herbert Hoover, up to and including the claim that raising taxes and cutting spending will actually expand the economy, by improving business confidence. …
    But there is no evidence that short-run fiscal austerity in the face of a depressed economy reassures investors. On the contrary: Greece has agreed to harsh austerity, only to find its risk spreads growing ever wider; Ireland has imposed savage cuts in public spending, only to be treated by the markets as a worse risk than Spain, which has been far more reluctant to take the hard-liners’ medicine.
    It’s almost as if the financial markets understand what policy makers seemingly don’t: that while long-term fiscal responsibility is important, slashing spending in the midst of a depression, which deepens that depression and paves the way for deflation, is actually self-defeating.
    So I don’t think this is really about Greece, or indeed about any realistic appreciation of the tradeoffs between deficits and jobs. It is, instead, the victory of an orthodoxy that has little to do with rational analysis, whose main tenet is that imposing suffering on other people is how you show leadership in tough times.
    And who will pay the price for this triumph of orthodoxy? The answer is, tens of millions of unemployed workers, many of whom will go jobless for years, and some of whom will never work again.
    Quelle: New York Times

  3. FTD-Ökonomenumfrage
    Deutschlands Durchschnittsökonom wählt Grün oder Gelb, findet den alten Briten John Maynard Keynes am wichtigsten, zweifelt an der Schuldenbremse und hält eine Steuerreform für relativ bis sehr wichtig. Das ergibt die Auswertung der großen Umfrage 2010 der FTD in Kooperation mit dem Verein für Socialpolitik, der großen deutschen Ökonomenvereinigung.
    Deutlich zugenommen hat in der Krise die Zahl der deutschen Wirtschaftswissenschaftler, die sagen, dass Konjunkturpolitik wichtig ist, ebenso wie ihr Vordenker Keynes, der alle anderen im Wichtigkeitsranking von 2006 überholt hat – auch wenn sich nur jeder fünfte deutsche Ökonom deshalb selbst als Keynesianer einstuft.
    Relativ große Einigkeit herrscht unter Deutschlands Ökonomen auch in der Frage, ob Staatsschulden bei möglichst solidem Wirtschaftswachstum abzutragen sind anstatt in der Krise. Das finden zwei Drittel der Befragten wichtig, weil die Sanierung der Etats sonst nicht klappt. Ziemlich klar plädieren Deutschlands Wirtschaftswissenschaftler auch dafür, Vermögensblasen künftig durch Regulierung zu verhindern statt über höhere Zinsen für alle.
    Mehr als 40 Prozent der befragten Wissenschaftler stimmen dem Befund zu, dass die eigene Branche in einer Legitimationskrise steckt… Fast jeder Zweite findet auch, dass die eigene Zunft zu Recht von Politikern und Bürgern kritisiert wird, weil sie die Finanzkrise nicht kommen sah.
    Quelle: FTD

    Anmerkung WL: Fast die Hälfte der Ökonomen fühlen sich der neklassischen bzw. monetaristischen Schule nahestehend. Über 80 % halten Milton Friedman für wichtig und über 70 % Friedrich von Hayek. Sie folgen also dem herrschenden ökonomischen Mainstream. Immerhin zeigt die Umfrage aber auch, dass die Vorzeige-Ökonomen, die wir täglich in den Medien vorgesetzt bekommen, in der Fachwelt keineswegs unumstritten sind.

  4. Deutsche Banken haben die meisten faulen Kredite
    In den Bilanzen deutscher Banken schlummern europaweit die meisten Problemkredite. Sie summierten sich Ende 2009 laut einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) auf knapp 213 Milliarden Euro. Das Volumen der ausfallgefährdeten Darlehen stieg damit bei den deutschen Banken binnen eines Jahres um 50 Prozent.
    Nach den deutschen Kreditinstituten waren britische Banken Problemkrediten in Höhe von rund 155 Milliarden Euro europaweit 2009 an zweiter Stelle. Dahinter folgten spanische Banken mit 97 Milliarden Euro, italienische Institute mit 59 Milliarden Euro und russische Finanzkonzerne mit 22,1 Milliarden Euro.
    Quelle: Tagesschau
  5. Mehr Steuern, bitte!
    Den Dänen sind ihre hohen Abgaben nicht hoch genug. Für freiwillige Sonderzahlungen hat die Regierung nun ein eigenes Konto eingerichtet – und sammelt erfreut Geld ein.
    Man könnte meinen, dass dänische Bürger schon genug an den Staat abführen: Spitzensteuersatz von 67 Prozent, zahlbar ab einem Jahreseinkommen von 46.500 Euro, 25 Prozent Mehrwertsteuer, 180 Prozent Sonderabgabe auf Autoverkäufe. In der Statistik der OECD war Dänemark mit diesen Werten 2009 Hochsteuerland Nummer eins.
    Manchen Dänen aber ist selbst das noch nicht genug. Ein Bürger schrieb an das Steuerministerium, er wäre bereit, freiwillig mehr zu zahlen, um Leistungen des Wohlfahrtsstaats zu finanzieren.
    Das Ministerium reagierte schnell und richtete ein Sonderkonto für freiwillige Abgaben ein – mit überraschendem Erfolg. Bis gestern zahlten 246 Dänen umgerechnet fast 13.000 Euro ein, und die Aktion hat gerade erst angefangen.
    Die Chefs von Sozialdemokraten und Sozialistischer Volkspartei sprachen sich für höhere Steuern aus und erklärten, selbst gern mehr bezahlen zu wollen. In dieser Hinsicht werden sie von 75 Prozent der Dänen unterstützt, die in Meinungsumfragen angeben, mehr Wohlfahrt sei wichtiger, als den Spitzensteuersatz zu senken.
    Quelle: FTD

    Anmerkung WL: Dänemark, Du hast es besser!

  6. Direkte Steuern runter, indirekte Steuern rauf
    Kein anderes großes EU-Land hat die Körperschaftssteuer und damit die Belastung für Unternehmen in den vergangenen Jahren so stark gesenkt wie Deutschland. Der Steuersatz ging zwischen den Jahren 2000 und 2010 um 21,8 Punkte zurück. Laut einer Aufstellung des europäischen Statistikamts Eurostat liegt Deutschland damit in der EU-Rangliste der Steuersenker auf dem zweiten Platz hinter Bulgarien. Unter dem Strich ist die Körperschaftssteuer in der Bundesrepublik aber mit 29,8 Prozent noch deutlich über dem EU-Schnitt von 23,2 Prozent.
    Bei anderen Steuerarten fallen die Entlastungen in Deutschland deutlich geringer aus. Der Spitzensatz der Einkommensteuer ging den Angaben zufolge binnen zehn Jahren um 6,3 Prozent zurück. In diesem Bereich senkten aber sieben andere EU-Staaten den Satz um mindestens zehn Prozentpunkte. Der höchste Spitzensatz ist derzeit mit 56,4 Prozent in Schweden zu zahlen. Auch in Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Österreich und Großbritannien liegt der Höchstsatz der Einkommensteuer bei 50 Prozent oder darüber.
    Im Gegensatz zu den Senkungen der direkten Steuern stiegen indirekte Steuern seit dem Jahr 2000 in Deutschland deutlich an. Der reguläre Satz der Mehrwertsteuer wurde in dieser Zeit um drei Punkte auf 19 Prozent angehoben. Nur Zypern und Griechenland beschlossen im selben Zeitraum mit einem Plus von jeweils fünf Prozentpunkten eine deutlichere Erhöhung. Die Hälfte der EU-Staaten erhebt derzeit Umsatzsteuern in derselben Höhe wie zehn Jahre zuvor. Die Tschechische Republik und die Slowakei senkten ihre Sätze sogar.
    Quelle 1: Tagesschau
    Quelle 2: Eurostat [PDF – 59 KB]

    Anmerkung WL: Die Autoren merken vermutlich gar nicht, dass sie mit dieser Statistik einen Beleg für den Steuersenkungswettlauf innerhalb der EU liefern. Zur gleichen Zeit redet alle Welt über eine sog. Verschuldungskrise. Da wäre einmal die „schwäbische Hausfrau“ am Platze: wenn man systematisch die Einnahmen senkt, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass man sich schon bei gleichbleibenden Ausgaben verschulden muss. Wir haben keine Verschuldungskrise sondern einen Steuersenkungswahnsinn.
    Unser Leser U.F. weist uns noch auf Folgendes hin: Tatsächlich werden in diesem Artikel nur die Prozentsätze der Spitzensteuer auf Einkommen aufgeführt, was von dem Autor des o.g. Artikels der ARD unkritisch übernommen hat. In der Broschüre “Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich 2009” des Bundesministerium der Finanzen [PDF – 1.1 MB] werden zudem der Geldbetrag des zu versteuernden Einkommens, ab dem der Spitzensteuersatz beginnt, genannt. Und siehe da, in unserem Lande zahlt man erst die 47,48% incl. Soli ab 250.400,- €, in Frankreich, das den Spitzensteuersatz im Zeitraum 2000/2009 um 13% auf 45,8% senkte, schon bei 69.505,- €. Die anderen sechs Mitglieder der EU sind Volkswirtschaften, die schwerlich mit der BRD zu vergleichen sind. Aber selbst Luxemburg versteuert ein Einkommen ab 39.885,- € mit dem Spitzensteuersatz von 39%. (Ob es nicht absurd ist, den Spitzensatz schon ab 40.000 Euro zu erheben sei dahingestellt. Anmerkung RS)
    Die Pressemitteilung als auch die Broschüre des BFM sind aber hiervon unabhängig interessant hinsichtlich anderer steuerlicher Entwicklungen im internationalen Vergleich. Allerdings fällt auch hier wieder die ideologische Brille, mit der in Pressemitteilung das Zahlenmaterial gewertet wird, auf: Es wird das arithmetische Mittel der Sätze der 27 Staaten gezogen statt den Median zu nennen. Da Großbritannien im Jahre 2010 den Spitzensteuersatz um 10%-, Schweden um 4,9%-, Portugal 2%- und Lettland 1%-Punkte senkte, wirke sich die Absenkungen in den anderen Volkswirtschaften auf den Durchschnitt nicht so stark aus. Und diese Absenkungen sind heftig!

  7. Das Leben einer Hotel-Hungerlöhnerin
    Eigentlich fallen Zimmermädchen unter die Kategorie Mindestlohn. Doch viele Hotels sind äußerst kreativ, um die Reinigungskräfte mit weniger abzuspeisen – auf Kosten der Steuerzahler.
    Das alles ist nur zu verstehen, wenn man in ihren Arbeitsvertrag schaut. Und dort steht, Mindestlohn hin, Mindestlohn her: “Die Vergütung richtet sich nach der Anzahl der bearbeiteten Hotelzimmer.” Und die sieht so aus: 50 Cent für die Reinigung eines Zimmers, in dem der Gast noch weitere Nächte bleibt. 75 Cent für das Bad dieses Zimmers. 3,50 Euro für ein großes Zimmer, wenn Gäste abreisen und die Betten frisch bezogen werden müssen, 2,80 Euro für ein kleines. Um aber auf den gesetzlichen Mindestlohn zu kommen, müsste Petra R. pro Stunde in mehr als sechs Zimmern die Betten machen und die Bäder putzen. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie jeder weiß, der seine Wohnung selbst in Ordnung hält.
    Verlierer Nummer zwei ist der Steuerzahler. Petra R. kann trotz ihrer 40 bis 50 Arbeitsstunden pro Woche nicht von ihren Einkünften leben. Also bittet sie Monat für Monat beim Jobcenter um einen Zuschuss: Sie ist eine der sogenannten Hartz-IV-Aufstocker. Ebenso oft taucht sie beim Wohnungsamt auf, um Wohngeld zu beantragen. Bezahlt wird all dies aus Steuergeldern. Ein weiteres Geschenk für die Hotelbranche.
    Quelle: FTD
  8. Guter Ausländer, schlechter Ausländer – der subtile Rassismus in Deutschland
    Alltäglicher Rassismus ist in Deutschland weiter verbreitet, als von vielen angenommen. Der UN-Sonderberichterstatter für das Thema Rassismus sowie der Europarat haben Deutschland aufgefordert, sich mehr mit dem Thema zu befassen. Doch bisher geschieht das zu wenig.
    Quelle: BR-Hörfunk [Audio-Podcast – mp3]
  9. Kritik an Forderung nach IQ-Test für Migranten
    Die Forderung einiger Unionspolitiker, einen Intelligenztest für Einwanderer einzuführen, ist auf scharfe Kritik gestoßen. In der „Bild“-Zeitung haben der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU, Peter Trapp, sowie der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber angeblich neue Einwanderungskriterien gefordert, „die dem Land auch wirklich nützen“. Dabei müsse neben einer guten Berufsausbildung und fachlichen Qualifikation „auch die Intelligenz ein Maßstab sein“, sagte Trapp. Intelligenztests für Einwanderer dürften nicht länger tabuisiert werden. Ferber verwies demnach auf das Vorbild Kanada, „das von Zuwandererkindern einen höheren IQ als bei einheimischen Kindern verlangt“.
    Quelle: Tagesspiegel

    Anmerkung: Wie wäre es mit einem IQ-Test für Bundestagsabgeordnete? Sollten Bundestagsabgeordnete nicht einen höheren IQ haben als der einheimische Durchschnitt?

  10. Die Arbeitslosigkeit und die Tafeln gleichzeitig abschaffen!
    Fast 900 Tafeln versorgen vor allem in den Städten die armen Bürgerinnen und Bürger mit notwendigen Lebensmitteln. Die Tafelbewegung gehört zu den erstaunlichsten Sozialen Bewegungen der Republik. Das Lob für die Tafeln ist politikübergreifend überschwänglich, menschenwürdige Versorgung und bürgerschaftliches Engagement haben eine scheinbar gute Verbindung gefunden. Aber in Wahrheit ist der Erfolg ambivalent: Die Blüte der Tafeln ist gleichzeitig der Niedergang des bröckelnden Sozialstaats.
    Quelle: Linksnet
  11. Ab in den Datenpool
    Die großen Fraktionen des Europäischen Parlaments – Konservative, Sozialdemokraten und Liberale – wollen dem Swift-Abkommen zustimmen. Anders als noch im Februar wollen sie den Transfer europäischer Bankdaten an die USA nicht blockieren. Dabei ist der gefundene Kompromiss geradezu peinlich. Die Kontrolle, dass so wenig wie möglich Daten vorsorglich an die USA geliefert werden, übernimmt nicht ein neutrales Gericht, sondern ausgerechnet die EU-Polizeibehörde Europol. Das ist eine klassische “Bock als Gärtner”-Lösung, denn Europol will auch von den US-Auswertungen profitieren.
    Das Europäische Parlament ließ sich zudem von der Aussicht beruhigen, dass die EU bald ein eigenes Programm zur Durchleuchtung der Finanzströme aufbauen will. Doch ist das eine gute Nachricht? Statt die Vorratsdatenspeicherung und Auswertung in die USA auszulagern, würde sie dann in Europa vorgenommen. Richtig wäre es dagegen, Datenspeicherung und Datenaustausch auf konkret Verdächtige zu beschränken, statt mal wieder große vorsorgliche Datenpools anzulegen
    Quelle: taz
  12. FDP: Der Aufstand ist abgesagt
    Von einer Neuausrichtung der FDP, wie sie vor der Klausur von mehreren führenden Parteipolitikern bis hinauf zur Fraktionsvorsitzenden Birgit Homburger gefordert worden war, wollten Sitzungsteilnehmer am Montagnachmittag nichts mehr wissen.
    Die Ursachen für die desaströsen Umfragewerte des Vorsitzenden und den beispiellosen Absturz seiner Partei lägen allein in dieser schlechten Außendarstellung. “Wir dürfen nicht die Probleme der Politik, sondern müssen die Probleme der Menschen in den Mittelpunkt stellen”, forderte Westerwelle.
    Der FDP-Bundesvorstand erteilte allen Plänen, den Spitzensteuersatz anzuheben, eine Absage. Stattdessen will er eine längst vereinbarte Kommission einsetzen, um die reduzierten Mehrwertsteuersätze zu prüfen. Zudem will die Partei bis Herbst ihre Steuerpläne überarbeiten.
    Quelle: FR
  13. Gauck spaltet Ex-DDR-Opposition
    Seit er als Nachfolger von Horst Köhler kandidiert, ist Joachim Gauck in der Öffentlichkeit der “Bürgerrechtler der Nation”. Einstige Verbündete sehen das kritisch.
    Quelle: taz
  14. Die Scheinwirtschaft
    Die Unis sprechen verstärkt die Sprache der Ökonomie, in seinem Buch “Wir sind doch nicht blöd” hat sie Clemens Knobloch scharf analysiert. Das deutsche Hochschulsystem hat mit seinen neuen Studiengängen in den vergangenen Jahren das Kunststück vollbracht, das Schlechteste zweier Welten zu vereinigen: das oft enge Korsett der Schule und die Verantwortungslosigkeit der Massenuniversität. Zweier Welten? Eigentlich sind es drei. Denn schließlich geht es ja um die unternehmerische Hochschule, die sich als Anbieter auf dem Bildungsmarkt begreift. Voilà, es wird Unternehmen gespielt. Im Zeichen von PISA und Bologna spielen alle mit. Wer ist schon gegen Europa und bessere Bildung? Die Hochschulen – sie sind ja nicht blöd – springen auf den Zug und halten sich dabei für Handelnde. Das ist falsch. Sie und ihre Mitglieder sind die Ware.
    Quelle: der Freitag
  15. Betrachtungen zur Fußball-WM
    1. Tore, Spieler, Märkte: Die Fußballweltmeisterschaft als Wirtschaftsfaktor – doch wer verdient an dem Turnier?
      Es ist das Sportereignis: Die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft. Die Konkurrenz um die Ausrichtung eines solchen Events ist groß. Erstmals findet das Turnier auf dem afrikanischen Kontinent statt. Umgerechnet 3,3 Milliarden Euro hat Südafrika aus Steuermitteln für Infrastruktur und Stadien ausgegeben – doch den überwiegenden Teil des Gewinns schöpft der Weltfußballverband FIFA ab.
      Quelle 1: Deutschlandradio
      Quelle 2: Deutschlandradio [Audio-Podcast – mp3]
    2. Die Internationalmannschaft
      Bei der jetzigen Fußballweltmeisterschaft in Südafrika ist nun etwas anderes sichtbar geworden: dass Deutschland ein Land mit Menschen ist, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt hier ihr neues Zuhause gefunden haben. Auch das ist für mich keine große Neuigkeit – aber es ist noch einmal ganz deutlich für jeden an der Zusammensetzung der Nationalmannschaft abzulesen. Mannschaftssport zehrt aus diesen individuellen und gemeinschaftlichen Facetten. Und auch deswegen ist der Mannschaftssport ein Abbild unserer Gesellschaft: Individuelles Glück ist ein wesentlicher Bestandteil, um Zusammenhalt und ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln. Nur so kann sich Identität entfalten. Wir können und müssen Migranten zu deutschen Staatsbürgern machen und uns dabei immer bewusst sein, dass Identitätsfindung ein Prozess ist. Gefördert von Erfolgserlebnissen. Erfolgsmomente, die die Zukunft junger Menschen besonders prägen, kann ein Staat nicht dirigieren. Doch eine Aufgabe müssen Zivilgesellschaft und Staat gemeinsam lösen: Anreize schaffen und dort mehr fordern, wo bisher zu wenig Eigenleistung erfolgt ist.
      Quelle: Tagesspiegel
    3. Fußballnation: Dem Jubel ist nicht zu trauen
      Diese rührenden Artikel über das neue Deutschland treiben Jagoda Marini hier und da fast Tränen in die Augen. Ein Essay über die Fußballnation, den normalen Mesut Özil und den Stand der Integration
      Quelle: FR

      Anmerkung Orlando Pascheit: Zwischen diesen beiden Positionen spielt sich die Berichterstattung ab, allerdings ist die Skepsis von Jagoda Marini seltener anzutreffen. Die Haltung von Saba Farzan ist sehr sympathisch, ist doch aber mehr als utopischer Entwurf zu begreifen. In Zeiten, in denen Bundestagsabgeordnete einen IQ-Test für Einwanderer fordern, der Bundestag selbst keineswegs die Talente aus allen Schichten, Geschlechtern und Bevölkerungsgruppen repräsentiert und gewisse Landesteile No-Go-Areas für farbige Landsleute bereithalten, formuliert Farzan eher einen Appell. Wie schnell sich Stimmungen ändern, zeigt das Schicksal der französischen Nationalmannschaft, einst gefeiert als Muster für gelungene Integration:

    4. Black-Blanc-Out
      Wer ist schuld am fussballerischen Scheitern der Franzosen? Mangelndes nationales Verantwortungsgefühl laut der zuständigen Ministerin, laut dem Philosophen Alain Finkielkraut hingegen die Banlieue. Der Universal-Philosoph Alain Finkielkraut meldete sich mit dem wahrhaft zwerchfellerschütternden Statement zu Wort, die Ungezogenheiten und die Revolte der Spieler markierten den Sieg der Unkultur der Vorstädte über die städtische Zivilisation des Landes. Mit anderen Worten: Die Banlieue, aus der viele Spieler afrikanischen oder arabischen Ursprungs sich hochgearbeitet haben, ist schuld. Und gleich pflichteten ihm die rechtsextreme Marine Le Pen bei und zahlreiche Abgeordnete von Präsident Sarkozys Regierungspartei UMP. Und Nicolas Sarkozy, der auf ein gutes Abschneiden der Fussballer gesetzt hatte, um seinen Landsleuten die ungeliebte Rentenreform und so einiges andere zu versüssen, rief, am vergangenen Mittwoch, die «Generalstände des Fussballs» aus.
      Da reibt man sich erstaunt die Augen. Vor zwölf Jahren noch, als das französische Star-Ensemble um Zinedine Zidane (der in der Banlieue von Marseille als Kind algerischer Einwanderer aufgewachsen ist und sich auch nicht immer untadelig benommen hat) die Weltmeisterschaft holte (und zwei Jahre später die Europameisterschaft), sonnte sich das Land – vor allem seine Politiker taten es – im Glanz einer vermeintlich gelungenen Antwort auf den amerikanischen «melting pot». Die Farben des Landes waren nicht mehr «Bleu-Blanc-Rouge», sondern «Black-Blanc-Beur», Schwarz, Weiss und Braun (Letzteres für den arabischen Maghreb). Jetzt, da dieselben Farben erfolglos auf dem Spielfeld stehen, wird der Gesellschaftsvertrag kurzerhand und von höchster Stelle aufgekündigt.
      Quelle: NZZ
  16. Zum 100. Geburtstag von Erich Kuby erscheint “Mein ärgerliches Vaterland” neu
    Ein “Bundesnonkonformist”, ein “Wegbereiter der Studentenbewegung” von 1968, das “linke Gewissen der Nation”: Die Liste der Titel, die Erich Kuby mal widerwillig, mal anerkennend erhalten hat, ist lang. Als Kuby im Jahr 2005 in Venedig starb, hatte er die Bundesrepublik fast 50 Jahre schreibend begleitet; besser gesagt, mit ihr und um sie fortwährend gestritten.
    Vor allem aber war der “Nestbeschmutzer von Rang”, wie ihn Nobelpreisträger Heinrich Böll einst nannte, ein im positiven Sinne vom kritischen Journalismus Besessener.
    Quelle: taz


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