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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Über die Auftragsarbeit der „Experten“ von der Leopoldina: Durchwachsen.
Datum: 14. April 2020 um 10:12 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Die NachDenkSeiten könnten über das am 13. April erschienene Papier der sogenannten „Nationalen Akademie der Wissenschaften“ ziemlich glücklich sein, weil sich in diesem Papier einiges wiederfindet, das wir in den letzten drei Wochen erörtert und empfohlen haben. Aber die Stellungnahme mit dem Titel „Coronavirus-Pandemie – Die Krise nachhaltig überwinden“ enthält leider auch einige Analysen und Empfehlungen, die nicht an die Unabhängigkeit der sogenannten Experten bzw. eher an ihre ideologische Prägung glauben lassen. Vermutlich ist das Papier eine Auftragsarbeit. Die Bundeskanzlerin hatte im Vorfeld der Veröffentlichung erklärt, ein wichtiger Anhaltspunkt werde ein Gutachten der Akademie der Wissenschaften Leopoldina sein. Ungeklärt bleibt, warum der Auftrag an Leopoldina so spät erfolgte und wo eigentlich die bisherigen „Experten“ – von Drosten bis RKI – geblieben sind. Auch einschlägige Medien tun so, als hätte es diese gar nicht gegeben. Typisch dafür ZDF Heute am 13. April um 19:00 Uhr. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Hier nun ein paar Anmerkungen zu dem „Gutachten“:
„Bei der Betrachtung der stationären und intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten für COVID-19 Patientinnen und Patienten müssen weitere Aspekte einbezogen werden. Hierzu gehört, dass anderweitig Erkrankte durch die im Zuge der COVID-19 verfügten Maßnahmen u.U. einer Gefährdung ausgesetzt sind, wenn ihr Zugang zum Gesundheitssystem beeinträchtigt wird oder sie aufgrund von Ängsten vor einer Coronavirus-Infektion keine medizinische Versorgung aufsuchen (z.B. psychisch Erkrankte, Patientinnen und Patienten bei denen operativen Eingriffe anstehen, Schlaganfall- und Herzinfarktpatienten, Pflegebedürftige). Ebenso müssen gesamtgesellschaftliche Risiken bedacht werden, wie beispielsweise eine Zunahme häuslicher Gewalt und psychischer Erkrankungen durch existentielle Notlagen.“
„Die aktuellen politischen Entscheidungen zur Bewältigung der Krise müssen die Mehrdimensionalität des Problems anerkennen, die Perspektiven von unterschiedlich Betroffenen und unterschiedlich Gefährdeten berücksichtigen sowie die jeweiligen Abwägungsprozesse offenlegen und entsprechend kommunizieren.“
Es werden Hilfs- und Unterstützungsangebote für Risikogruppen, die besonders unter den Folgen der derzeitigen Restriktionen leiden, wie Kinder in schwierigen Familienlagen oder Menschen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, vorgeschlagen.
In den NachDenkSeiten konnten Sie diese Empfehlungen schon vor einiger Zeit lesen. Wir haben uns mehrmals gegen eine einseitige, eindimensionale Analyse und Therapie gewandt und mehr Abwägung empfohlen.
Dazu noch ein paar weitere einschlägige Passagen aus dem Papier:
„Die Grundrechtseingriffe müssen in Maß und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zu Ziel und Zweck der Maßnahmen stehen Hier geht es um ein angemessenes Verhältnis zwischen der Schwere des grundrechtlichen Eingriffs und der Bedeutung der mit den Maßnahmen verfolgten öffentlichen Belange. Die Grundrechtseingriffe müssen in Maß und Umfang in einem vernünftigen Verhältnis zu Ziel und Zweck der Maßnahmen stehen. Hierbei müssen allerdings auch die nicht-intendierten Nebenfolgen der Grundrechtseingriffe berücksichtigt werden. Die zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen drastischen Maßnahmen bringen nicht nur für alle davon Betroffenen schwere Grundrechtseingriffe mit sich. Sie ziehen darüber hinaus schädliche Folgen nach sich. So wäre etwa eine vorbeugende Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen, beispielsweise älterer Menschen, allein zu deren eigenem Schutz als paternalistische Bevormundung abzulehnen. Die Risikobewertung muss unterschiedliche Ziele und Folgen berücksichtigen Die Maßnahmen, die mit Blick auf die Pandemie den Schutz von Leben und Gesundheit bezwecken, ziehen an anderer Stelle gerade Einbußen dieser Rechtsgüter nach sich. Diese dürfen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausgeblendet und einem Primat des seuchenpolizeilichen Imperativs geopfert, sondern müssen in eine Gesamtabwägung mit eingestellt werden. Entscheidend ist, dass diese Erweiterung der Perspektive überhaupt vollzogen und so der Multidimensionalität der Lage Rechnung getragen wird. Man könnte von einem Gebot der multidimensionalen Risikobewertung sprechen, die an die Stelle der monothematischen Ausrichtung allein auf das Ziel der Eindämmung der Pandemie tritt. Erst die Einbeziehung der nichtintendierten Nebenfolgen macht die ganze Komplexität dieser Aufgabe der Abwägung kollidierender Güter deutlich. Dabei zeigt schon die Mittelbarkeit der Auswirkungen, dass es bei den unerwünschten Nebenfolgen unterschiedliche Grade der Zurechenbarkeit geben dürfte, die ein breites Spektrum einnehmen können. Diese Differenzen müssten bei der Einschätzung der unterschiedlichen Dringlichkeiten und Prioritäten für die staatlichen Entscheidungen berücksichtigt werden. Die schwierige Aufgabe der Gewichtung der einzelnen Aspekte, die in die Gesamtabwägung einzubeziehen sind, liegt primär bei den zuständigen staatlichen Institutionen. Ihnen kommt bei dieser überaus komplexen Aufgabe ein weiter – allerdings nicht grenzenloser – Gestaltungsspielraum zu.
Zielkonflikte müssen identifiziert und bei der Entscheidungsfindung abgewogen werden.“
„Auf der erkenntnistheoretischen Ebene müssen die Grenzen der eigenen disziplinären Perspektive beachtet werden. Hierzu gehört vor allem, zu reflektieren, dass jede Disziplin nur die Logik des jeweils von ihr wissenschaftlich beobachteten Bereichs der Gesellschaft (Recht, Wirtschaft, Familie, Gesundheitsbereich etc.) berücksichtigt. Aus all dem ergibt sich die Konsequenz, dass politische Entscheidungen, gerade die bevorstehenden zur Bewältigung der Krise, die Mehrdimensionalität des Problems anerkennen, die jeweiligen Abwägungsprozesse offenlegen und entsprechend kommunizieren müssen.“
Die einseitige Ausrichtung und die einseitige Auswahl von Experten ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar. Jedenfalls klingen diese Formulierungen nach unnötiger Freisprechung von Verantwortung für eine bessere und machbare Abwägung.
„Bei den psychischen Folgen und gravierenden Überlastungen müssen sozioökonomische Aspekte und der Mangel an sozialer Einbettung dringend berücksichtigt werden. Zu den besonderen Risikogruppen gehören Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten ohne Sprachkenntnisse, alleinlebende Ältere, psychisch Erkrankte, Pflegefälle und Arbeitslose. In ärmeren und eher bildungsfernen Schichten fehlen tendenziell materielle, psychische und soziale Ressourcen.“
…
„Je länger der „Shutdown“ jedoch dauert, umso weniger lassen sich gravierende ökonomische Folgen vermeiden. Umso wahrscheinlicher werden dann zahlreiche Insolvenzen und eine höhere Arbeitslosigkeit. Vermögensverluste treffen breite Schichten, soweit sie Ersparnisse insbesondere für die Altersversorgung gebildet haben. Viele Solo-Selbständige und kleine Familienunternehmen haben ihre Umsätze teilweise vollständig eingebüßt. Viele Betroffene haben nur geringe Rücklagen. Der deutsche Sozialstaat sieht hier als Absicherung nur die Leistungen aus der Grundsicherung vor. Generell sollte nicht übersehen werden, dass mit Blick auf die Coronavirus-Pandemie soziale Ungleichheiten eine große Rolle spielen. So sind Kontakt- und Ansteckungsrisiken und noch mehr die psychischen und ökonomischen Auswirkungen der Krise sozial sehr ungleich verteilt.“ (Seite 15)
Dabei fällt kein kritisches Wort über die Fehleinschätzungen der Bundesregierung zum Mund-Nasenschutz. Und auch kein kritisches Wort darüber, dass man trotz der auch in dem Papier von Leopoldina festgestellten frühen Erkenntnis der Epidemie Dinge hat weiterlaufen lassen, die man sinnvollerweise beendet hätte: Karneval, Fasching, Fußballspiele, usw..
Eurobonds kommen selbstverständlich nicht vor. Da ist alles auf Linie der Bundesregierung.
Warum in aller Welt hat die Leitung von Leopoldina nicht darauf geachtet, wenigstens einen Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre in die Arbeitsgruppe aufzunehmen? Das ist ein schwerer Fehler und nur damit zu erklären, dass man dem Auftraggeber zu Diensten sein wollte.
„Die Erfahrung gemeinsamer Bedrohung hat in der ersten Phase der Krise in der Gesellschaft zu einer raschen Ausweitung solidarischen Verhaltens geführt. Dazu gehört die Zunahme spontanen, d.h. nicht-institutionalisierten und kaum organisierten zivilgesellschaftlichen Engagements, sei es in Gestalt konkreter Hilfeleistungen für andere (etwa auf nachbarschaftlicher Basis), sei es als gemeinwohlorientierte Aktionen (zum Beispiel Spenden), sei es in anderen Formen. Man steht zusammen und stellt Egoismen und Partikularinteressen zurück. Das verbindet sich mit der Hoffnung, man könne manches davon für die Zukunft bewahren und damit langfristig die freiwillige Gemeinwohlorientierung in Wirtschaft und Gesellschaft stärken.“
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