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Titel: Exit-Strategien: Maßnahmen für Kinder sollten schnellstens überdacht werden. Von Sandra Reuse.

Datum: 1. April 2020 um 11:17 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Familienpolitik, Gesundheitspolitik
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Kinder mit normalem Immunsystem sind füreinander nicht gefährlich. Auch Frauen, das heißt Mütter und Großmütter, sind weniger gefährdet als Männer. Die aktuellen Kontaktbeschränkungen treffen jedoch genau diese Personengruppen am stärksten.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Kinderbetreuung zu, Freunde weg, Oma verboten, Spiel- und Sportplätze abgeriegelt, Rausgehen nur noch mit Eltern: Die aktuellen Regelungen zur Pandemieprävention treffen Kinder unverhältnismäßig hart, und damit wiederum ihre Angehörigen. Denn Kinder werden nicht nur aus allen ihren gewohnten Sozialbezügen außerhalb der Kernfamilie gerissen, sie dürfen faktisch auch nicht mehr mit anderen draußen toben und spielen. Damit entfällt für sie jedoch die wichtigste – und auch gesündeste – Beschäftigungs- und Entspannungsmöglichkeit. Das trifft wiederum die Eltern und hier oft die Mütter, die zusehen müssen, wie sie mit ihrem Nachwuchs durch den zähen Tag kommen.

Denn oft sind es die Mütter, die ins Homeoffice gehen (also in die Küche, ins Schlaf- oder Wohnzimmer), während sie gleichzeitig aufräumen, kochen, Kinderstreit schlichten, Lehrer spielen und an der digitalen Technik basteln, um Kommunikations- und Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten. Vor allem für Familien und Alleinerziehende in den Großstädten bedeutet dies Stress und Überforderung, nicht selten auch eine Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz, denn einen Acht-Stunden-Tag kann so niemand einhalten. Zu den Großeltern sollen die Kinder aber auch nicht, womit eine wichtige Abwechslung und Betreuungsalternative entfällt. Das erhöht den Druck und Stress für die einen und macht die anderen traurig. In vielen Familien gab es schon Tränen.

Dabei sind Kinder (mit 0 % Sterberate) und in abgeschwächter Form Frauen allen Statistiken zufolge, die bislang über die Verbreitung des Virus, Krankheitsverläufe und Sterbefälle vorliegen, am wenigsten gefährdet. Kinder scheinen das Virus aber auch nicht in dem Maße zu übertragen, wie es andere Bevölkerungsgruppen tun. Zu Unrecht werden sie derzeit mit der Gruppe junger Erwachsener in einen Gefährdungs“topf“ geworfen, die ganz andere Bewegungsradien und Kontaktbedürfnisse haben.

Die aktuellen Regelungen haben insofern eine große sozial-, gender- und kohortenpolitische Unwucht. Gerade für die Zielgruppe der Kita- und Grundschulkinder bis zu 12 Jahren und damit im engen Zusammenhang für die sie betreuenden Personen sollte es bald zu passgenaueren, sozialverträglicheren und bedürfnisorientierteren Regelungen kommen. Eine zielgruppenorientiertere Risikobetrachtung und -abwägung könnte ermöglichen, Kindern mehr Freiräume zu gewähren und dennoch die Risikogruppen weiter zu schützen.

Hier soll auf Basis der vorliegenden Zahlen zu nachgewiesenen Infektionen, Krankheitsverläufen und Sterberaten dafür eine Diskussionsgrundlage geschaffen werden.

  1. Sowohl in China als auch in Italien, wo die Krise am stärksten fortgeschritten ist, kam es bislang nur zu einer stark unterdurchschnittlichen Zahl von infizierten Kindern. Wenn Kinder infiziert waren, waren die Krankheitsverläufe zumeist leicht. Auch das RKI bestätigt: „Bisherigen Daten zufolge ist die Symptomatik von COVID-19 bei Kindern deutlich geringer ausgeprägt ist als bei Erwachsenen“. Das heißt zum einen, Eltern brauchen keine Angst zu haben, dass ihre Kinder von schweren Krankheitsverläufen oder gar dem Tod bedroht sind, wenn sie sich infizieren (außer das Kind hat schwere Vorerkrankungen, vgl. hierzu weiter unten). Das heißt aber zum anderen, Kinder stellen im Zusammenhang mit der Pandemie keine potenzielle Belastung für das Gesundheitssystem dar, da sie in aller Regel nicht hospitalisiert werden müssen.
  2. Kinder übertragen das Virus aber offensichtlich auch seltener auf andere als Jugendliche und Erwachsene. Das bestätigt auch die WHO. Warum sich Kinder seltener infizieren und warum sie weniger gefährdet sind als Erwachsene, ist bislang unklar. Es gehört zu den offenen Fragen zur Covid-19-Pandemie, die bislang noch nicht erforscht worden sind.
  3. Damit sind aber vermutlich gerade Kinder ein größerer Teil der Dunkelziffer derjenigen, die sich trotz Kontakten mit dem Virus nicht infiziert haben, sowie derjenigen, die eine Corona-Infektion hatten, die aber nicht bemerkt wurde. Grundlage für die bisherige öffentliche Debatte ist aber hauptsächlich die Zahl der bereits positiv getesteten Infizierten. Doch nicht jeder ist in den zurückliegenden Wochen mit leichten Erkältungssymptomen zum Arzt gelaufen und erst recht nicht zu den Teststellen – denn die Berichte, wie lange man dort warten muss und wie hoch gleichzeitig das Infektionsrisiko ist, waren abschreckend.
  4. In die aktuellen Risikobetrachtungen fließt vor allem die Zahl derer ein, die positiv getestet wurden, weil sie sich testen ließen, weil die Krankheit spürbar auftrat. Wir kennen nicht die Zahl derer, bei denen eine Coronainfektion so glimpflich verlaufen ist, dass sie unerkannt blieb. Darunter könnten viele Kinder sein, die möglicherweise bereits immun gegen das Virus sind und in diesem Falle weder erkranken noch Überträger sein können.
  5. Auch Frauen sind den bislang vorliegenden Zahlen zufolge signifikant weniger gefährdet als Männer. Im chinesischen Wuhan waren die Krankheitsverläufe von Frauen leichter als bei Männern, auch die Sterberaten waren geringer: Laut dem chinesischen Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten lag sie bei 1,7 % gegenüber 2,8 % bei Männern. Den bisherigen Studien zufolge, die auch das RKI zitiert, sind vor allem ältere Männer und Personen mit Vorerkrankungen gefährdet. Am höchsten ist das Sterblichkeitsrisiko bei Männern über 79 und bei Erwachsenen ab 50 mit Herz-/Kreislauferkrankungen, Diabetes, Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck und Krebs, davon wiederum bei Männern stärker als bei Frauen. Die hohe Zahl von starken Rauchern unter den Todesfällen in Wuhan könnte darauf hinweisen, dass das Sterblichkeitsrisiko zumindest teilweise auch durch eine ungesunde Lebensweise erhöht wird.

Die aktuellen Maßnahmen gelten für alle – wirken aber nicht für alle gleich

Trotz der unterschiedlichen Risiken für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterliegen derzeit alle Altersgruppen, Männer wie Frauen, Gesunde und chronisch Kranke, Arme und Reiche, Menschen in der Stadt und auf dem Land, denselben Beschränkungen. Dabei wird weder nach dem Risiko, schwer zu erkranken oder zu sterben, noch nach sozialen oder emotionalen Bedürfnissen unterschieden.

Die Risiken und gesundheitlichen und wirtschaftlichen Opportunitätskosten für Kinder und ihre Familien sollten auf Basis der vorliegenden Zahlen hinterfragt werden. Das körperliche und psychische Bedürfnis von Kindern nach Sozialkontakten mit Gleichaltrigen, aber auch zu anderen Familienmitgliedern, nach Bewegung im Spiel, nach frischer Luft und Tageslicht, sollte in diesen Abwägungsprozess einfließen.

Statt Kinder mit normal funktionierendem Immunsystem voneinander fernzuhalten, sollten Aktivitäten in kleinen Gruppen auch außerhalb von Familien nicht nur zugelassen, sondern sogar gefördert werden. Bis Schulen und Kitas wieder öffnen, sollten alternative Betreuungslösungen angeboten und erlaubt werden. Die Spiel- und Sportplätze sollten wieder geöffnet werden, damit in kleinen Gruppen gespielt und Sport gemacht werden kann. Übertriebene Maßnahmen, wie beispielsweise abgeriegelte Tischtennisplatten (Längenstandard 2,74 Meter), sollten schnellstens wieder rückgängig gemacht werden.

Damit diese Lockerung für Kinder nicht in eine größere Gefahr für andere Bevölkerungsgruppen mündet, sollten Überlegungen angestellt werden, wie die tatsächlichen Risikogruppen besser geschützt werden können. Hierbei handelt es sich um Personen mit den genannten Vorerkrankungen und vor allem um ältere Männer. Möglicherweise wäre es sinnvoller, vor allem diese Personengruppe beim Arbeiten zu Hause zu unterstützen, für sie einkaufen zu gehen und – zumindest bis es auf breiterer Ebene getestet werden kann – Kontakte zu Müttern und Vätern von minderjährigen Kindern zu beschränken. Dies wäre für die Gesellschaft, insbesondere für Kinder und erwerbstätige Mütter, aber auch für das Bildungs- und Gesundheitssystem vermutlich mit geringeren Opportunitätskosten verbunden und sozial gerechter als die breite Einschränkung, die derzeit wirksam ist.

Titelbild: Brian A Jackson / Shutterstock


Die Autorin ist Mutter zweier Kinder (5 und 11 J.) in Berlin, ausgebildete Journalistin mit Schwerpunkt Wissenschaftsberichterstattung und arbeitet heute als Referentin in einem Bundesministerium. Der Artikel soll einen solide recherchierten Beitrag zur aktuellen Debatte aus der Perspektive derjenigen Gruppen liefern, die sich derzeit kaum Gehör verschaffen können, aber einen wichtigen und wesentlichen Teil der Gesellschaft darstellen.


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