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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Wie sollen sich die NachDenkSeiten positionieren? Ausgewogen? Einseitig im Sinne der Regierung? Vier lesenswerte Dokumente.
Datum: 26. März 2020 um 15:59 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Gesundheitspolitik, Leserbriefe, Schulden - Sparen, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Wir haben bisher versucht, verschiedene Seiten und Aspekte der Pandemie und der getroffenen politischen Entscheidungen zu beschreiben und zu kommentieren: Wir blicken voller Sorge nach Italien, nach Spanien und ins Elsass. Viele NachDenkSeiten- Leser schätzen die Information über verschiedene Seiten des Geschehens, andere reagieren anders, teilweise hart. Ein Linker aus München beklagt sich, weil wir uns zu wenig an Wodarg etc. orientieren. Ein Linker aus Berlin beklagt sich darüber, dass wir die fatale Situation in Italien zu wenig ernst und Wodarg zu ernst nähmen. Warum man in dieser Situation quasi mit dem Messer aufeinander losgehen muss, verstehe ich nicht. Die NachDenkSeiten werden weiter die großen Risiken der Pandemie beschreiben und wir werden weiter die Folgen beschreiben. Letztere sind aus meiner Sicht nicht ausreichend im Blick. Die maßgebliche veröffentlichte Meinung ist anders orientiert. Dort will man nicht gerne wahrnehmen, was einer unserer unten zitierten Autoren schreibt: „Nach der Pandemie wird die Welt noch grausamer sein“. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Deshalb folgen hier zwei Beiträge über die Folgen der Pandemie für unsere Gesellschaft, für die Menschen und den Rechtstaat, ein anderer Beitrag über die Lage in Straßburg/Elsass und ein Leserbrief zur realen Situation von Helfern hierzulande.
In der Dokumentation A. zitieren und verlinken wir auf ein in der Frankfurter Rundschau erschienenes Interview mit der Juristin Jessica Hamed.
In der Dokumentation B. bringen wir die Übersetzung eines Artikels des serbischen Ökonomen Nebojsa Katic – „Wenn aber die Pandemie vorbei ist“.
In der Dokumentation C. lesen Sie den Bericht einer Gruppe von Ärzten des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin, die sich in Straßburg umgeschaut haben.
In D. geben wir die Mail eines NachDenkSeiten-Lesers wieder.
Coronavirus: „Risikogruppen haben nichts davon, wenn alle ‚weggesperrt‘ werden“
Die Bewegungsfreiheit ist aufgrund der Coronakrise massiv eingeschränkt. Sind die Einschnitte notwendig bzw. rechtens? Die Juristin Jessica Hamed im Interview.
Jessica Hamed studierte Rechtswissenschaft in Mainz und Buenos Aires (Argentinien). Seit 2016 ist sie als Rechtsanwältin zugelassen und im Februar 2020 wurde ihr der Titel Fachanwältin für Strafrecht verliehen. Als Strafrechtlerin ist sie ständig mit Fragen des Verfassungsrechts befasst und hat in diesem Zusammenhang jüngst zwei Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht gewonnen. Sie ist zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz tätig.
Die Coronakrise hat die Bewegungsfreiheit der Bürger*innen massiv eingeschränkt. Wie ordnen Sie das rechtlich ein?
Eingegriffen wurde in nahezu alle Freiheitsgrundrechte. Die körperliche Bewegungsfreiheit ist, je nach Bundesland/Gemeinde/Landkreis, zwar unterschiedlich intensiv betroffen. Allerdings wurde generell die Freizügigkeit und die allgemeine Handlungsfreiheit massiv eingeschränkt.
Vielen Menschen wird durch die Schließung von Geschäften die Ausübung ihres Berufs untersagt, sodass dort in den Kernbereich der Berufsfreiheit und gegebenenfalls in die Eigentumsfreiheit eingegriffen wurde. Die Versammlungsfreiheit – eines der wichtigsten Grundrechte in einem Rechtsstaat – ist faktisch aufgehoben. Die Glaubensfreiheit ist durch die Schließung religiöser Begegnungsstätten massiv eingeschränkt. Auch in die Unverletzlichkeit der Wohnung wird eingegriffen, wenn der Staat, wie angekündigt, Kontaktverstöße in Wohnungen verfolgen will. Mit anderen Worten, es ist kaum ein Grundrecht nicht massiv in seinem Kernbereich betroffen.
Kontaktsperre während Coronavirus-Pandemie: Einmalig in der bundesdeutschen Geschichte
Wie bewerten Sie das?
So etwas gab es noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Es wirft die Frage auf, ob es gerechtfertigt sein kann, Millionen Menschen, denen wohl kein schwerer Krankheitsverlauf droht, von anderen Menschen, bei denen ebenfalls nicht mit einem solchen zu rechnen ist, fernzuhalten.
…
WENN ABER DIE PANDEMIE VORBEI IST
„Nach der Pandemie wird die Welt noch grausamer sein“, so endet dieser Artikel des serbischen Ökonomen Nebojsa Katic (1955). Er ist Unternehmensberater, er lebt und arbeitet in London. Katic hat an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Belgrad studiert und zählt zu den angesehensten Ökonomen Serbiens. Regelmäßig veröffentlicht er Artikel auf seiner Seite “Iz drugog ugla” und in führenden Zeitungen wie der “Politika”. Anbei ein aktueller Artikel von Katic, den Bernd Duschner für die Leser der NachDenkseiten aus dem Serbischen übersetzt hat. Orginal: nkatic.wordpress.com/
Auch wenn es abwegig klingen mag, für die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen im Westen ist Covid 19 ein Geschenk des Himmels. Die Pandemie wird verheerende wirtschaftliche Folgen haben. Aber auch ohne sie war eine große Wirtschaftskrise unvermeidlich. Der Beginn der Krise hatte sich bereits im September 2019 deutlich gezeigt. Die Pandemie wird jetzt dazu dienen, diese Tatsache zu vertuschen und unbequeme Fragen unter den Tisch zu kehren.
So wird man für die neue Krise nicht das Wirtschaftsmodell der westlichen Staaten verantwortlich machen, das nach der großen Rezession 2008/2009 nicht ein Jota geändert wurde. Für die Krise wird man nicht die brutale Sparpolitik bei den öffentlichen Haushalten verantwortlich machen, nicht die Stagnation der Einkommen beim größten Teil der Beschäftigten, nicht das schamlose Wegsehen angesichts der erschreckenden Zunahme der Ungleichheit. Nein, mit dem System ist alles in Ordnung. Es war das Virus, das die Idylle zerstört hat.
Die westlichen Staaten und alle anderen, die sich diese Staaten zum Vorbild nehmen, werden eine Ausrede haben, um wenigstens noch ein Jahrzehnt ihre zerstörerische Wirtschafts- und Sozialpolitik weiterzuführen. Bis zum Äußersten wird man austesten, bis wie weit es die verwirrte Bevölkerung hinnimmt, wenn ihr eingeredet wird, dass der Sinn des Lebens nur noch darin besteht, zu überleben. Nicht zufällig wird systematisch eine Hysterie betrieben, die die Welt in einen Zustand kollektiver Psychose geführt hat, in der jegliches totalitäre Experiment ohne Auflehnung hingenommen wird.
Alle großen Wirtschaftskrisen vom Triumph des Neoliberalismus in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute hatten die gleiche Ursache, einen starken Anstieg der Verschuldung sowohl bei Bürgern als auch Staat und Wirtschaft. Im 2. Halbjahr 2019 hat die Summe der weltweiten Verschuldung unglaubliche 350.000 Milliarden Dollar erreicht und 320 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts überschritten. Beide Ziffern liegen weit über dem Niveau von 2008, das damals eine Krise von fürchterlichem Ausmaß hervorgerufen hat.
Bereits seit einem Jahrzehnt wird das System nur noch mit kurzfristigen Maßnahmen am Laufen gehalten. Ununterbrochen wird Geld gedruckt und die Zinsen auf einem absurd niedrigen Niveau gehalten, wie es das in der modernen Geschichte nicht gegeben hat. Alte Schulden werden mit neuen Schulden beglichen. Der nicht zu verkraftende Anstieg der Unternehmensverschuldung ist dabei, das Finanzsystem zu zerstören. Im September 2019 hatte in den USA eine ernste Liquiditätskrise eingesetzt. Sie hat zu zusätzlichem Gelddrucken im großen Umfang geführt. Fachwelt, internationale Organisationen und globale Medien haben so getan, als ob sie nicht sehen würden, was vor sich geht. Dann kam das Virus. Im Unterschied zu den vorherigen Krisen, die Nachfragekrisen waren, ist die Krise heute gleichzeitig eine Nachfrage- und Angebotskrise, weil ein großer Teil der Wirtschaft (insbesondere der Dienstleistungssektor) zum Erliegen gekommen ist. Das ist eine Kombination, die man nur bei Sanktionen und Kriegen vorfindet.
In diesem Augenblick planen die westlichen Staaten – als Beginn – einige weitere Tausend Milliarden Dollar zu drucken. Diese zusätzliche gewaltige Geldemission wird niemand hinterfragen. Niemand wird stutzig werden, wieso in Krisen problemlos Geld auftaucht und warum davon immer genügend vorhanden ist, sobald Banken und Großunternehmen in Schwierigkeiten geraten. Geld ist stets genügend für Rüstung, Kriegsübungen, brutale Militärinterventionen vorhanden. Für soziale Leistungen, medizinische Ausrüstung, für die Gehälter der Mitarbeiter im Gesundheitswesen, für wissenschaftliche Forschung und Bildung fehlt dagegen das Geld. Die westlichen Systeme glänzen, wenn es darum geht, Finanzderivate zu „produzieren“, Geräte zum Zeittotschlagen in sozialen Netzen und für die Produkte zur Gehirnwäsche aus Hollywood. Wenn es erforderlich ist, sich um die Menschen zu kümmern, wenn Schutzmasken, Beatmungsgeräte, Kapazitäten für die Krankenhäuser, Arzneimittel oder irgendwelche andere wirklichen Güter gebraucht werden, versagen sie.
Sobald die Pandemie vorbei ist und man die Toten zählt, werden neue, dieses Mal wirtschaftliche Opfer, an der Reihe sein. Mit den finanziellen Maßnahmen wird man die großen Banken und Konzerne retten, alle anderen aber werden einen großen Schock erleben. Die Arbeitslosigkeit wird schlagartig nach oben springen und am härtesten die verletzlichsten Teile der Bevölkerung treffen – die Millionen, die keine Gesundheitsfürsorge haben, keine soziale Absicherung und keine Ersparnisse, sondern nur Schulden. Die Opfer der Verarmung wird niemand zählen. Man wird auch nicht für diejenigen, die wegen der Armut erkranken und versterben, täglich Newsletter veröffentlichen.
Die kleinen und schwachen Volkswirtschaften wird die Krise erneut ins Unglück stürzen. Das Kapital, das sich bereits aus den Entwicklungsländern zurückzieht, wird noch schneller abziehen. Die schwachen Volkswirtschaften werden in die Knie gehen, weil ihre Möglichkeiten nicht dazu ausreichen, ihrer Wirtschaft zu helfen. Niemand wird eine Bemerkung darüber verlieren, dass die mächtigen Staaten, die ihre Unternehmen mit Tausenden von Milliarden subventionieren, die Pandemie zum Vorwand nehmen, um die Spielregeln des internationalen Handels rücksichtslos zu zerstören – dieselben Regeln, die sie selbst aufgestellt hatten.
Dann werden die reichen Staaten und der IMF Hilfe in Form von Krediten anbieten und den bereits verschuldeten Staaten eine weitere Schuldenschlinge um den Hals legen. Für die neu gedruckten PapierDollar oder PapierEuro werden die schwachen Länder in noch verstärktem Maße reale Güter – Waren, Werte und Ressourcen hergeben müssen. Einheimische Fachleute, die von Kleinstaaten und Freihandel schwärmen, werden erklären, dass von Ausplünderung hier nicht die Rede sein kann. Vielmehr würde der Westen seine unter Mühsal erworbenen Ersparnisse investieren. Unglückliche und unfähige Regierungen werden auf die alten Tricks hereinfallen und denselben Beratern ihr Vertrauen schenken. Und die Bürger werden glücklich sein, dass sie „überlebt“ haben und den Kopf noch auf den Schultern tragen, auch wenn ihr Magen leer ist.
Die guten Seelen, die glauben, dass die Krise uns etwas lehren wird und die Welt einen Reinigungsprozess durchläuft, täuschen sich. Nach der Pandemie wird die Welt noch grausamer sein.
Der Bericht ist sehr interessant und – auch im Hinblick auf den (Nicht-) Umgang mit 80-Jährigen erstaunlich. Hier als PDF.
Hallo NDS, sehr geehrter Herr Müller,
“Hier wird die Sparpolitik gerechtfertigt und selbstverständlich kein Wort darüber verloren, was diese Sparpolitik für die Infrastruktur bedeutete, nämlich dass sie über weite Strecken marode ist. Und auch kein Wort über die Wirkung der Sparpolitik auf das Gesundheitssystem – nämlich ohne ausreichende Reserven. Selbst Masken zum Schutz vor Infektion und der Weiterverbreitung der Krankheit fehlen hierzulande. Wir verhängen ein Exportverbot. Spanien wird teilweise von China versorgt.”
Eine Begebenheit aus dem echten Leben, von heute:
Ich arbeite als Subunternehmer beim Bayerischen Roten Kreuz, BRK. Nachdem wir heute eine Lieferung Desinfektionsmittel abgeholt und in die Dienststelle verfrachtet hatten (etwa 20 Kanister a 10 Liter, plus etliche Dutzend in Kartons verpackte 1-Liter-Flaschen), wollte ich eine (1) Flasche des Mittels haben, zur Ausstattung des Lieferwagens, um Lenkrad und Armaturen hin und wieder damit abzuwischen. Mit dem Wagen beliefern wir nicht nur das BRK, sondern wir nehmen auch andere daran angeschlossene Aufgaben wahr; beispielsweise den Transport von Krankenbetten etc..
Kollegen hatten bereits letzte Woche angefragt, ob sie für ihre Arbeit mit den Fahrzeugen des ambulanten Pflegedienstes Schutzausstattung bekommen könnten (sie sind für die Fahrzeugreinigung, außen wie innen, zuständig).
Die Antwort meines Vorgesetzten darauf: Er habe bereits versucht, von der Geschäftsleitung Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel zu bekommen, sei aber abgewimmelt worden – das Zeug sei zu knapp.
Ist das denn zu fassen? Dieselben Herrschaften, die sich von der Lokalpresse als Kreuzritter der Gesundheit, der Rettung und der Menschlichkeit feiern lassen, sind nicht willens oder in der Lage, einen Liter dünnen Alkohol dorthin abzutreten, wo er gebraucht wird, sondern gehen wahrscheinlich davon aus, daß die Belegschaft (übrigens allesamt unter Mindestlohn arbeitend) auf eigene Kosten solcherlei Arbeitsmaterial anschafft.
Wenn ich wollte, dann könnte ich diesen Vorfall als Beginn einer Liste benutzen, die sich beliebig verlängern läßt, mit und ohne Corona. Und ich bin sicher, daß sich ähnliche Geschichten tausendfach auch woanders abspielen.
…
Mit freundlichen Grüßen
Johannes Bichler
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