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Titel: Corona-Epizentrum Altenheim – wenn die Politik nicht handelt, droht eine Katastrophe mit Ansage

Datum: 26. März 2020 um 13:37 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Pflegeversicherung
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Wir debattieren über Kita-Schließungen, angebliche „Coronapartys“ von Jugendlichen und eine Verschiebung des Abiturs – Maßnahmen, um eine Verbreitung von Covid-19 zu verlangsamen und die Risikogruppe zu schützen. Seltsamerweise wird jedoch nur selten über den konkreten Schutz dieser Risikogruppe selbst gesprochen. Dabei könnte man gerade hier mit überschaubaren Maßnahmen und ohne Kollateralschäden viele Menschenleben retten. Die Zeit drängt. Vor allem bei den Pflege- und Altenheimen ist es bereits fünf nach zwölf. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn man sich einmal die Daten der italienischen Behörden zu den dortigen Corona-Sterbefällen anschaut, kommt man auf ein klares Muster. Das Durchschnittsalter der Todesopfer ist mit 78,5 Jahren (Median: 80 Jahre) extrem hoch. Nur 1,2% der untersuchten Sterbefälle wies keine Vorerkrankung auf, fast die Hälfte hatte hingegen drei oder mehr unterschiedliche schwere Vorerkrankungen.

Altersverteilung der italienischen Todesfälle mit positivem Covid-19-Test

Lediglich neun der 3.200 Verstorbenen waren übrigens jünger als 40 Jahre und dabei wiesen alle bekannten Fälle schwere Vorerkrankungen auf. Wenn wir also von Risikogruppen sprechen, so lassen sich diese medizinisch und demografisch sehr präzise verorten und die Pflege- und Altenheime der Republik sind anhand dieser Kriterien die Sammelbecken der Risikogruppe. Die zehn Corona-Todesfälle im Würzburger Seniorenheim St. Nikolaus sollten daher die Politik wachrütteln. Es wird nicht bei diesem einen Fall bleiben.

Stoppt das „Karussell“!

Von besonderer Bedeutung sollte dabei die Behandlung von Zugängen in den Altenheimen sein. Insbesondere eine in der Praxis häufig vorkommende „Unart“ hat das Zeug, einen Tsunami auszulösen. In zahlreichen Altenheimen ist die Personaldecke derart dünn, dass vor allem pflegeintensive Patienten gerne mal für ein paar Tage im Krankenhaus „geparkt“ werden. Entsprechende Überweisungen sind schnell geschrieben und die Krankenhäuser haben in Zeiten der Fallpauschalen und des Kostendrucks bei so manchen „windigen“ Diagnosen auch gerne mal beide Augen zugedrückt, so lange man die betroffenen Patienten möglichst schnell wieder in die Heime entlassen konnte. So entstand aus dem Pflegenotstand heraus eine Art „Karussell“ mit multimorbiden Patienten. Durch Covid-19 könnte dieses Karussell jedoch schnell der Kern einer echten Katastrophe werden.

Die Krankenhäuser sind bereits heute eine Risikozone für die Verbreitung von Infektionen jeglicher Art. Covid-19 ist in diesem Zusammenhang besonders problematisch, da sich auch das Personal nicht gegen die Krankheit impfen lassen kann. Die Fälle aus der chinesischen Provinz Hubei haben gezeigt, dass vor allem Ärzte und Krankenschwestern tragischerweise häufig als „Super-Spreader“ das Virus unter den häufig immungeschwächten Patienten verbreitet haben. Deutschland hat daraus wenig gelernt. So wird beispielsweise das Personal der deutschen Kliniken nur in Ausnahmefällen auf das Coronavirus getestet und nach wie vor gibt es vielerorts einen Mangel an angemessener Schutzkleidung. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis das Virus seinen Weg auf die „Normalstationen“ der Krankenhäuser findet, die derzeit im Windschatten der ganzen Debatte rund um Isolationsstationen und Intensivstationen ihre ganz normale Arbeit fortführen.

Jeder Patient, der sich nun beim „Karussell“ im Krankenhaus infiziert, aufgrund der Inkubationszeit aber noch symptomfrei bleibt und in sein Pflege- oder Altenheim zurück überwiesen wird, ist im Hinblick auf die Sterbestatistiken der Italiener eine tickende Zeitbombe. Wer heute noch möglicherweise infizierte Patienten in die Altenheime zurückschickt, trägt womöglich das Virus mitten in eine Petrischale voller Risikopatienten. Wir laufen hier sehenden Auges in eine Katastrophe.

Gezielte Maßnahmen ohne Kollateralschäden

Sicherlich ist es wichtig und richtig, die Infektionsketten generell zu verlangsamen; ob die gewählten Maßnahmen dazu geeignet sind und ob die Kollateralschäden in einem angemessenen Verhältnis dazu stehen, ist freilich eine andere Debatte, die nicht Gegenstand dieses Artikels sein soll. Dass man aber gleichzeitig mit rigiden Maßnahmen das öffentliche und wirtschaftliche Leben des Landes fast zum Erliegen bringt und auf der anderen Seite die Risikogruppen, um die es ja eigentlich gehen sollte, eher stiefmütterlich am Rande behandelt, ist ein Skandal. Dabei gäbe es doch Maßnahmen, die man ohne horrende Kosten und vor allem ohne nennenswerte Kollateralschäden sofort umsetzen könnte.

Dazu zählen beispielsweise Behelfskliniken speziell für die Risikogruppe, in denen die „normale“ klinische Versorgung stattfindet. Dies könnte sogar ambulant oder stationär in den Pflege- und Altenheimen selbst vorgenommen werden. Vielerorts wird so etwas übrigens schon in Eigenregie umgesetzt. Wichtig ist es, den Übertragungsweg vom Krankenhaus in die Heime konsequent zu verhindern. Einrichtungen wie das THW, das Rote Kreuz und sogar die Bundeswehr mit ihren Sanitätseinheiten könnten dazu sicherlich sinnvoll eingesetzt werden.

Weiterhin wäre es wichtig, Neuzugänge in den Heimen jetzt nach Möglichkeiten generell zu verhindern. Doch das ist leichter gesagt als getan. Aufgrund der angespannten Situation bei den mobilen Pflegediensten und der häuslichen Pflege kommt es zur Zeit sogar zur grotesken Situation, dass viele Patienten aus der Kurz- und der Tagespflege in den Heimen stationär aufgenommen werden; ja aufgenommen werden müssen. Wo sollen sie auch sonst hin? Dies führt aber auch dazu, dass die personelle Notlage in den Heimen noch dramatischer wird und dabei ist die große Infektionswelle, die auch Teile des Personals für einige Zeit ausfallen lassen wird, noch gar nicht angekommen. Und wenn es Verdachtsfälle gibt, müssen Mehrbettzimmer aufgelöst und zur Isolation in Einbettzimmer umgewandelt werden. Weniger Zimmer, mehr Patienten, weniger Personal – man kann die in Normalzeiten schon am Limit arbeitenden Einrichtungen gerade in dieser Situation nicht mit den kommenden Mehrbelastungen alleine lassen. Ansonsten werden wir auch in Deutschland bald Einrichtungen haben, die von den verzweifelten und erkrankten Mitarbeitern schlicht „aufgegeben“ wurden.

Der zweite Fokus muss auf dem Personal dieser Einrichtungen liegen. Es ist nicht hinnehmbar, dass in Krankenhäusern und vor allem in Pflege- und Altenheimen nicht regel- und vor allem standardmäßig getestet wird. Ob ein 30-Jähriger, der sich in Quarantäne befindet und nun zwei Wochen Netflix auf dem heimischen Sofa schauen muss, nun mit Test weiß oder ohne Test ahnt, dass er sich Covid-19 eingefangen hat, ist nicht so wichtig und wenn die Kapazität der Tests nun einmal beschränkt ist, dann sollte diese knappe Ressource auch möglichst sinnvoll eingesetzt werden. Und was kann sinnvoller sein, als eine Altenpflegerin regelmäßig zu testen und damit bestmöglich zu vermeiden, dass sie ihre Patienten ansteckt, die ein exaktes Abbild der Risikogruppe und damit direkt gefährdet sind? Auch in Sachen Schutzausrüstung gibt es hier einen massiven Handlungsbedarf. Sind viele Krankenhäuser schlecht ausgerüstet, so sind die meisten Pflege- und Altenheime gar nicht mit so wichtigen Dingen wie echten Schutzmasken oder Schutzkitteln ausgestattet. Das Personal dieser Einrichtungen sollte alleroberste Priorität bei der Zuteilung von Schutzausrüstung haben. Hier geht es nicht abstrakt um die Eindämmung der Infektion, sondern sehr konkret um Menschenleben.

Wenn wir diese wichtigen Schritte nicht beherzigen, wird auch in Deutschland die Zahl der Todesopfer schon sehr bald steigen.

Titelbild: GagliardiPhotography/shutterstock.com


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