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Titel: Am Ende der NSU-Trio-Version

Datum: 8. März 2020 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Rechte Gefahr, Strategien der Meinungsmache, Terrorismus
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Bei den Ermittlungsarbeiten zum Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 sind zahlreiche Spuren „liegengeblieben“. Genau diese „Spuren“ tauchen wieder auf, wenn man den Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel 2019 verstehen und aufklären will. Von Wolf Wetzel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel ermordet, um die Mittagszeit herum, in Gegenwart von mehreren Besuchern. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf. Dazu gehörte auch eine Funkzellenabfrage. Man will dadurch herausbekommen, wer in der Nähe des Tatortes mit seinem Handy unterwegs bzw. eingeloggt war. Diese Abfrage führte zu einer wichtigen Spur. So stieß man auf einen Mann, der ein paar Häuser weiter wohnt und der Polizei als „gewaltbereiter Neonazi“ bekannt ist: M. K.

Im Jahr 2000 wurde er im Rahmen einer Personenkontrolle registriert. Zu diesem Mittel greift die Polizei gelegentlich, wenn sie die TeilnehmerInnen eines „Nazi-Events“ namentlich festhalten möchte. Damals ging es um eine Neonaziveranstaltung in Dransfeld bei Göttingen. Diese Personenkontrolle war ein Volltreffer, denn M. K. war mit dem stadtbekannten Neonazi Stephan Ernst unterwegs. Jener Stephan Ernst, der 19 Jahre später polizeilichen Ermittlungen zufolge den Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel ermordet haben soll.

All das kann die Polizei ganz schnell auf dem Schirm haben und dieser „Spur“ nachgehen. Sie könnte ebenfalls den Verfassungsschutz in Kassel befragen, was er über die genannten Neonazis weiß und was die von ihm geführten V-Leute wissen. Die Neonazi-Szene in Kassel ist überschaubar und der Verfassungsschutz mittendrin:

„Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin im Kasseler Büro des hessischen Verfassungsschutzes führten um das Jahr 2006 mindestens sieben V-Personen in der Kasseler Neonaziszene. Von diesen ist bislang nur Benjamin Gärtner namentlich bekannt geworden.“ (EXIF vom 1. März 2020)

M.K. ist eine wichtige Figur in der Kasseler Neonaziszene:

„Aus den Notizen der Polizeikontrolle [vom 25. August 2002, d.V.] der Neonazis lässt sich ablesen, dass M. K. zusammen mit dem Kasseler Stanley Röske unterwegs war – einem Neonazi, der um das Jahr 2005 die „Nordhessen-Crew“ der „Oidoxie Streetfighting Crew“ (SFC) aufbaute, die sich als deutsche Vertreterin des internationalen Netzwerks „Combat 18“ (C18) aufstellte. C18 gab und gibt sich ultramilitant, propagiert Terrorkonzepte des ‚Führerlosen Widerstands‘ und nennt sich ‚Terrormaschine‘.“ (s.o.)

Wenn man tatsächlich polizeiliche Ermittlungen durchgeführt hätte, dann wäre M.K. ein wichtiger „Zeuge“ gewesen, mit dessen Hilfe man die ideologische und personelle Verbundenheit zwischen „gewaltbereiten Neonazis“ und Combat 18 hätte dokumentieren können. Was ist im Zuge der polizeilichen Ermittlungen 2006ff. passiert? Nichts. M. K. wurde nie befragt, weder als möglicher Zeuge noch als Verdächtiger. Daran ändern auch die Ermittlungen 2011ff. nichts.

Wenn man weiß, dass es im Mordfall Kassel so gut wie keine Spuren gab, niemand den Täter oder die Täter beschreiben konnte, dann ist das eine „heiße Spur“, wenn man die gängigen Ermittlungsgrundsätze angewandt hätte, in alle Richtungen zu ermitteln. Genau dies tat man nicht. Bekanntlich hat die Polizei, die Staatsanwaltschaft und Presse diesen Mord faktenfrei in die Serie der „Döner-Morde“ eingereiht. Die Ermittlungen wurden ergebnislos eingestellt.

Nach der Selbstbekanntmachung des NSU 2011 entschloss man sich, den Mord in Kassel „umzubetten“. Was man 2006 um jeden Preis verhindern wollte, einem neonazistischen, rassistischen Verbrechen nachzugehen, ging 2012 ganz fix: Der NSU habe die Mordtat in Kassel begangen.

Obwohl die Polizei und der Geheimdienst elf Jahre nichts wussten, stand sehr bald fest, dass der NSU aus exakt drei Mitgliedern bestand. Folglich waren Uwe Mundlos (1) und Uwe Böhnhardt (2) die Mörder in Kassel. Beate Zschäpe (3) gilt in dieser Version als Quartiermeisterin und Emotioncoach.

Diese aus dem Nichts gezauberte „Trio-Version“ zwingt in der Folge dazu, die Behauptung aufzustellen, dass der Zweier-NSU alles alleine gemacht hat, an allen Tatorten, bei allen Morden. Im Kassel-Fall muss das bedeuten, dass der Zweier-NSU ganz alleine und ohne Hilfe von „Kameraden“ auf dieses unscheinbare Internetcafé gestoßen ist, also keine Kontakte und Verbindungen zur Kasseler Neonaziszene nutzte. Also musste auch in dieser Version alles beiseite geräumt, buchstäblich gelöscht werden, was diese „Trio-Version“ ins Wanken bringen könnte, was dieser Version den Boden unter den Füßen wegziehen würde.

Ein Neonazi-Netzwerk, das kein Netzwerk sein darf

Genau das tat man in der zweiten „Aufklärungsetappe“ 2012ff. mit unglaublichem Eifer. Man wollte und musste alles kappen und leugnen, was auf ein „Netzwerk“ schließen könnte, also auf das, wofür sich der NSU selbst hält: Ein Netzwerk von Kameraden.

Auch in dieser Etappe wurden die Kenntnisse über die Kasseler Neonaziszene im wahrsten Sinn des Wortes geschwärzt. Als bekannt wurde, dass Benjamin Gärtner aus Kassel als V-Mann geführt wurde, der V-Mann-Führer Andreas Temme mit ihm zweimal am Mordtag in Kontakt stand, wurde die Sabotage der Aufklärung Chef-Sache: Der damalige Innenminister Volker Bouffier verweigerte die Vernehmung des Neonazis und V-Mannes. Genauso wenig wurde den „liegengelassenen“, angeblich unbrauchbaren Spuren aus den Ermittlungen 2006 nachgegangen. Dazu gehört unter anderem eine weitere „heiße Spur“, die man einfrieren wollte und will: In den Ermittlungen 2006 stieß die Polizei auch auf den Neonazi Markus Hartmann, der beim Lübcke-Mord als Waffenlieferant für Stephan Ernst auftaucht.

Man kann zusammenfassen, dass in beiden Etappen der „Aufklärungsarbeit“ die Deckung von Neonazis, von V-Leuten höchste Priorität hat – für alle Ewigkeit, also für 120 Jahre. Solange sollen auch jene internen Berichte geheim bleiben, in denen das Wissen über die Neonaziszene in Kassel, in Hessen zusammengetragen wurde. Nach Protesten über diese sagenhafte Verdunkelungspraxis wurde die Frist auf 30 Jahre verkürzt.

Man muss den Verstand nicht unnötig herausfordern, um festzuhalten: Würde sich die offizielle Version mit dem Inhalt des Geheimgehaltenen decken, würde man es feierlich und blumenreich auf den Tisch legen.

Die antifaschistische Rechercheplattform “EXIF” hat eine neue Recherche veröffentlicht, die dieser Vertuschungsarbeit sehr detailliert und mit Aktenwissen nachgeht: „Nicht verfolgte Spuren im Mordfall Halit Yozgat – Verbindungen zwischen dem NSU-Mord & dem Mord an Walter Lübcke“ (Exif vom 1. März 2020). Eine ausgezeichnete Arbeit. Also genau das, was mit Hunderten Mitarbeitern des Verfassungsschutzes geleistet werden sollte, wenn der Kampf gegen Neonazismus tatsächlich zum Arbeitsfeld des “Verfassungsschutzes” zählen würde.

Die wirklich ausgezeichnete Recherche belegt, dass es ganz und gar nicht an fehlenden „Spuren“, an mangelndem Wissen liegt, um Neonazismus zu bekämpfen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Solange dieser Verfassungsschutz existiert, Wissen unterschlagen wird, handelt es sich um einen Verfassungsschutz, der sich mehr durch „Tatbegünstigung“ auszeichnet als durch Tatverhinderung. EXIF kommt am Ende des Beitrages zu dem Schluss:

“Der Fall Halit Yozgat muss neu aufgerollt werden. Alle offenen Fragen zu M. K., Hartmann und Görtz müssen beantwortet werden. Um schließlich zu den Fragen zu kommen, die man so lange stellen wird, bis auch sie beantwortet sind: Was wusste Andreas Temme, was wussten seine Kolleg:innen vom Verfassungsschutz und Mitarbeiter:innen anderer Behörden über den Mord an Halit Yozgat, über die gesamte Mordserie und über den NSU? Doch wer soll den Fall Halit Yozgat und die anderen NSU-Verbrechen aufklären? Es steht mehr denn je in Zweifel, dass es irgendeine Stelle, irgendeine Behörde gibt, die die Kompetenz, Integrität und Glaubwürdigkeit besitzt, die Ermittlungen ohne weitere Versäumnisse und Vertuschungen zu führen.“

Im Mordfall Hanau ermittelt die Polizei gegen den Vater des Mörders wegen möglicher „Tatbegünstigung”. Wieviel “Tatbegünstigung” kann man im Fall Kassel 2006 strafrechtlich und politisch verfolgen, wenn man nur die Rolle des Verfassungsschutzes betrachtet?

EXIF hat auf der Internetseite folgende erhellende Grafik zum Thema veröffentlicht:


Quellen und Hinweise:


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