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Titel: „Reformchaos“ – die neue Ablenkungsstrategie von einer verfehlten Politik
Datum: 2. Februar 2004 um 14:44 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
„Reformchaos“ oder „Chaos in der Regierung“ so oder so ähnlich lauten die Stichworte, die jetzt in Zeitungskommentaren und die Polit-Talkshows geliefert werden, um von den Fehlentwicklungen der angeblich so zwingend notwendigen „Reformen“ abzulenken und gleichzeitig eine Erhöhung der „Reform“- Dosis anzumahnen. Achten Sie mal drauf.
Wer in diesen Tagen die Medien verfolgt, von der Süddeutschen Zeitung über den Spiegel bis zu Sabine Christiansens sonntagabendlichem Polit-Stammtisch kann einen Stimmungsumschwung feststellen. Bis zur Verabschiedung der Gesundheitsreform und der Hartz-Module zum Vorjahresende galten diese Gesetze unisono als unausweichliche erste Schritte auf dem Weg zu einer “grundlegenden Strukturreform”. Der politische Meinungsstreit ging eigentlich nur noch darüber, ob die “Reformen”, wie etwa bei der Steuerentlastung weit genug gingen oder ob man nicht gleich eine „radikale Steuerreform“ mit noch geringeren Staatseinnahmen und noch höherer Senkung der Spitzensteuersätze durchsetzen sollte.
Nachdem man aber auf fast allen “Reform”-Feldern allmählich erkennt, dass Ankündigung und Wirklichkeit weit auseinander klaffen, müssen all diejenigen die ins “Reform”-Horn geblasen haben, davon ablenken, dass sie falsche Ratschläge gegeben haben und nun selbst ihre Glaubwürdigkeit verlieren könnten. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, dürfen jetzt nicht die Reformen in die falsche Richtung gegangen sein, sondern das “Reformchaos” (BILD) ist Schuld am “Reformblues” (SPIEGEL).
Die Sparpolitik darf nicht etwa daran gescheitert sein, weil man sich im konjunkturellen Abschwung nur kaputt sparen kann. Die Hartz-Versprechen – “2 Millionen weniger Arbeitslose bis 2005” – mussten sich nicht etwa deshalb weitgehend als leere Versprechen erweisen, weil man über den Druck auf Arbeitslose kaum neue Arbeitsplätze schaffen kann. Die Senkung der Beiträge für die Krankenkassen muss nicht etwa deshalb auf die lange Bank geschoben werden, weil vorhersehbar war, dass es dem Gesundheitssystem nicht hilft, wenn man fast ausschließlich die Patienten zur Kasse bittet und die Ärzte- und Pharmakartelle ungeschoren lässt.
Oder das aktuellste Beispiel: Erinnern wir uns noch, wie die Ladenschlusszeiten als eines der größten Konsumhemmnisse dargestellt und das Rabattgesetz als Lieblinsbeispiel für die grassierende Regulierungswut genannt wurde. Die Ladenöffnungszeiten sind jetzt länger und Rabatte gibt es jetzt das ganze Jahr. Die Ankündigungen haben sich nicht erfüllt.Der Einzelhandel klagt über Umsatzrückgänge und der Einzelhandelsverband fordert die Wiedereinführung des Winterschlussverkaufs.
Darüber, dass die Bürger das Weihnachtsgeld nicht mehr ausgeben konnten, das ihnen gekürzt oder gestrichen worden ist, spricht keiner.
Was wirklich ist, darf eben nicht sein. Und dass der eingeschlagene neoliberale Reformkurs uns nicht aus der wirtschaftlichen Misere hilft, das darf auf keinen Fall zugegeben werden. Diese Erkenntnis wäre aber so ziemlich das einzige, was uns aus eigener Kraft aus der Misere helfen könnte. Das Warten auf den Konjunkturaufschwung bleibt eine ziemlich zaghafte Hoffnung auf einen Stimmungsumschwung.
Alle Umfragen beweisen, dass die betroffenen Bürger die Kluft zwischen Versprechen und eingetretener Wirklichkeit schon längst erkannt haben. Dass da bloß keiner ruft “Schaut, die Reform-Kaiser stehen ja nackt da”, dagegen müssen nun die Meinungsmacher ihre Ablenkungsmanöver starten. Das Stichwort für diese Manipulation heißt “Reformchaos”. Und damit bloß kein Nachdenken über die “Grenzen der Belastbarkeit” der kleinen Leute aufkommen kann, warnt der Grüne Koalitionspartner vorsorglich vor einem “Reform”-Stillstand” und die Opposition vor “Feigheit”.
Nun kann natürlich niemand behaupten, die Umsetzung etwa der Praxis-Gebühr sei ein Meisterstück administrativer Kunst. Aber gehen die Bürger deswegen seit Januar weniger zum Arzt, weil die Definition der chronisch Kranken nicht klar war oder deshalb, weil ihnen der Arztbesuch zu teuer geworden ist? Und wer hat denn so zur Eile gedrängt, dass manches mit heißer Nadel genäht werden musste? Und war es nur die Regierung, die das Gesundheits-Reform-Gesetz geschaffen hat oder war es nicht vielmehr eine große Allparteienkoalition?
Also: Rette sich wer kann. Ein Alibi muss her: Das “Reformchaos” ist Schuld.
Damit hat man die politische Auseinandersetzung wieder da, wo man den Streit um die besseren Konzepte am Einfachsten ausklammern kann, nämlich auf der Ebene der Regierungstechnik und der Technik der öffentlichen Darstellung. Da spielt es dann keine Rolle mehr, ob SPD oder CDU/CSU die Regierung stellen. Es kommt nur noch darauf an, wer so tut, als könne er es besser.
Und wenn man sich nicht mehr über den richtigen Weg streiten muss, dann kann man auch den scheiternden „Reformkurs“ stur beibehalten. Noch mehr: Man muss ihn forcieren und noch radikaler vorwärts treiben, denn die bisherige Dosis hat ja offenbar noch nicht gewirkt.
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