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Titel: „Die Tagesschau ist systematisch auf die Weltsicht westlicher Nachrichtenagenturen fixiert“

Datum: 24. Februar 2020 um 8:44 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Interviews, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Warum haben viele Medien ein Problem damit, auch Meldungen von nichtwestlichen Agenturen zu veröffentlichen? Woran lässt sich festmachen, dass es in der Tagesschau ein Objektivitätsproblem gibt? Was hat das ARD-Nachrichtenflaggschiff mit Feindbildern und Propaganda zu tun? Maren Müller, Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, als Kritiker des öffentlich-rechtlichen Nachrichtenjournalismus bekannt, liefern in ihrem aktuellen Buch über die Tagesschau eine wichtige Lehrstunde in Medienkritik ab. Im ersten Teil eines zweiteiligen Interviews mit den NachDenkSeiten zeigen Bräutigam und Klinkhammer auf, warum sie an der Tagesschau kaum ein gutes Haar lassen. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In Ihrem aktuellen Buch über die Tagesschau kommt sehr oft das Wort „Meinungsmacht“ vor. Mit etwas Naivität lässt sich fragen: Was hat die Tagesschau mit „Meinung“ zu tun? Die Tagesschau ist eine Nachrichtensendung. Dort werden die harten Fakten präsentiert, es wird gesagt, „was ist“. Oder?
 
Volker Bräutigam: Oder eben nicht. Die Tagesschau sendet nachweislich nicht bloß „harte Fakten“ und beschränkt sich nicht nur auf das, „was ist“ . Der Rundfunkstaatsvertrag gibt ihr auch weit mehr auf als die bloße Übermittlung isolierter Fakten. Nachrichtensendungen sollen es dem Zuschauer ermöglichen, sich eine eigene, stimmige Meinung übers Weltgeschehen zu bilden. Das erfordert, die „Fakten“, die „Tatsachen“, nicht einfach aus ihrem Zusammenhang gelöst und quasi nackt zu präsentieren, sondern sie in ihrem Kontext darzustellen. Soweit nötig, auch mit zusätzlichen Erklärungsansätzen.

Da geht das Problem aber schon los. Das, was Fakten und Tatsachen sind, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten.

Volker Bräutigam: Sicher. Weil sich alles und jedes aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten lässt. Dabei ändert es eben sein „Gesicht“. Was der eine als Kunst auffasst, erachtet der andere als Käse. Der seriöse Nachrichtenredakteur weiß, dass ihn gleichbleibend „einseitige“ Betrachtungsweisen zum Tendenzjournalisten, zum Demagogen machen würden. Er muss bei Konflikten Motive und Absichten der Beteiligten berücksichtigen. Er darf sich nicht nur auf eine Quelle beziehen. Er muss seinen Berichtsgegenstand von mehreren Seiten her betrachten, ein rationales Verständnis davon entwickeln, sonst verkommt er zum unsauberen Informationsverkäufer.

Und genau das werfen Sie der Tagesschau vor?

Volker Bräutigam: Ja. Zunächst sollte man sich vor Augen führen, dass der Großteil der Tagesschau-Meldungen nicht von ihr selbst stammt. Sie beruhen vielmehr auf dem Rohmaterial von Nachrichtenagenturen. Die Redaktion ARD-aktuell verarbeitet es lediglich weiter, und zwar mit einem rechnergestützten Bildschirmsystem namens „Open Media“. Dort wird meines Wissens das Angebot von nur vier „Hoflieferanten“ eingespeist: AP (die US-amerikanische Associated Press), dpa (die Deutsche Presseagentur, sie kooperiert übrigens eng mit AP), AFP (Agence France Presse) sowie Thomson-Reuters (kanadisch-britisch, im Besitz des Multimilliardärs David Thomson, eines der reichsten Männer der Welt). Ach, eh ich es vergesse: der Sport-Informationsdienst, SID.

Jetzt lässt sich sagen: Das sind doch vier Nachrichtenagenturen. Aus Deutschland, den USA, aus Großbritannien und Frankreich. Man darf demnach davon ausgehen, dass Fakten und Tatsachen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden.

Volker Bräutigam: Nein, darf man eben nicht. Alle genannten Agenturen liefern Betrachtungen aus dem gleichen pro-westlichen Blickwinkel. Es ergibt sich eine lupenrein transatlantische Ausrichtung der daraus zusammengefügten Nachrichten.
 
Das erinnert an einen aktuellen Streit. Das Branchenportal „Horizont“ hat der Berliner Zeitung vorgeworfen, russische “Staatspropaganda direkt aus dem Kreml” zu verbreiten, weil das Blatt auch die Informationen der Nachrichtenagentur TASS verwendet und seine politischen Seiten nicht mehr vom „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ bezieht.

Volker Bräutigam: Hinter der Behauptung, westliche Quellen seien unabhängiger und freier, ihre Informationen folglich seriöser als die aus östlichen Quellen, steckt der illegitime Anspruch auf Deutungshoheit. Da zeigt sich ein Herrschaftsgebaren, das unabhängige Meinungsbildung im Publikum nicht zulassen will; folglich soll schon den Nachrichtenredakteuren der Zugang zu unterschiedlichen Quellen und Sichtweisen versperrt sein. 

Verlassen wir die abstrakte Gesprächsebene. Lieber ein konkretes Beispiel: Irgendwelche Leithammel in Politik und Medien tun so, als sei die westliche Betrachtung der Welt die einzig „richtige“. Hingegen sei unsachlich, unwahr, wertlos, schädlich, was die östlichen „Machthaber“ äußern, gemeint sind Russlands Präsident Putin und Chinas Präsident Xi; es dürfe deshalb nicht berücksichtigt werden. Eine schwachsinnige, aber durchaus gebräuchliche Schablone.

Aber die Gefahr ist doch durchaus gegeben, dass bei staatlichen russischen bzw. chinesischen Nachrichtenagenturen Propaganda eingespeist wird.

Volker Bräutigam: Das stimmt, diese Agenturen betonen die Sichtweisen ihrer Regierungen. Aber bei den westlichen, kommerziellen Agenturen ist staatstragende Propaganda doch ebenfalls inbegriffen. Der Einfluss von Parteien, Regierungen und Wirtschaft auf sie ist nicht zu leugnen. Was also ist die Aufgabe des Journalisten? Er darf sich nicht auf die Darstellungen nur einer Seite einlassen. Er muss versuchen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Auch für ihn gilt der Rechtsfindungs-Grundsatz „audiatur et altera pars“: „Die andere Seite ist anzuhören“. Vor Gericht also nicht nur der Staatsanwalt, sondern auch der Verteidiger. In einer seriösen Nachrichtenredaktion ist entsprechend alles verfügbare Informationsmaterial sorgfältig zu prüfen, gleichviel, von welcher Seite es kommt. Der Journalist hat aufzuklären. Dabei muss er, um mit Kant zu sprechen, „den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“.

Sie wollten Konkretes sagen?

Volker Bräutigam: Es liegt doch nahe, dass Nachrichten aus der Ost-Ukraine, verfasst und übermittelt von russischen Agenturen wie Ria Novosti, Interfax oder TASS, anders akzentuiert sind als solche von AP. Informationen über Venezuela haben bei der lateinamerikanischen Telesur ein gänzlich anderes Aussehen als bei dpa, AP, AFP oder Reuters. Die Aspekte jeweils der Telesur respektive der AP zu ignorieren, hieße, tendenziös zu berichten, schlimmstenfalls: eine Falschnachricht in Umlauf zu bringen.

Auf andere Nachrichtenagenturen zu verzichten, kann natürlich auch zu einer Schieflage in der Berichterstattung führen. Aber Sie gehen ja davon aus, dass es hier nicht um „Fehler“ geht, sondern um Absicht. Anders gesagt: Dass westliche Medien Nachrichtenagenturen zum Beispiel aus Russland ignorieren, hat nicht nur etwas mit professionellen Gründen zu tun, sondern Sie vermuten dahinter ein System der bewussten Beeinflussung von Nachrichten?

Volker Bräutigam: Absichtsvolle Einäugigkeit, ja. Der negativen Beispiele sind Legion. Arabische und iranische Agenturen berichten aus dem Jemen anders als die US-Amerikaner oder Briten, das wird aber kaum berücksichtigt. Die Xinhua hat eine gänzlich andere Ansicht über die Protestierer und Randalierer in Hongkong als die Westagenturen. Logisch, aber der Tagesschau-Redaktion ist das ersichtlich egal. Stütze ich mein Nachrichtenangebot nur auf transatlantische Quellen, dann betreibe ich eben Tendenzjournalismus. Genau das werfen wir der ARD-aktuell vor. Und wir belegen das mit einer Unzahl von Beispielen missratener Sendungsbeiträge.

Die Tagesschau ist systematisch auf die Weltsicht westlicher Nachrichtenagenturen fixiert. Andere Sichtweisen, beispielsweise der chinesischen Xinhua, kommen selten zur Geltung. Nur dann, wenn die westlichen Agenturen sich ausnahmsweise und mangels eigener Erkenntnisse auf diese Quellen berufen. Wenn man von der Tagesschau angesichts dieser Gegebenheiten immer noch behauptet, sie sei politisch neutral, strikt objektiv und der Wahrheit verpflichtet, dann zeigt man fehlenden Realitätssinn oder verlässt absichtlich den Boden der Sachlichkeit. Das provoziert Widerspruch.

Aber nochmal: Man kann trotzdem darauf beharren, dass die russischen und chinesischen Nachrichtenagenturen nicht so frei sind wie die im Westen. Anders gesagt: Die Tagesschau bedient sich journalistischer Produkte, die nicht Gefahr laufen, staatlich oder machtelitär beeinflusst zu sein. Wie reagieren Sie?

Volker Bräutigam: Mit der Rückfrage, über welche Art von Freiheit wir hier reden. Wenn die eine Sorte Medien staatlichen Zwängen unterliegt, dann entspricht die andere Sorte kommerziellen, partei- oder regierungspolitischen Interessen – in vorauseilendem Gehorsam. Es gibt freilich graduelle und spezifische Unterschiede, nicht aber prinzipielle. Es ist die Aufgabe des um Aufrichtigkeit bemühten Journalisten, herauszufiltern, was „dran“ ist an den Informationen, die ihm zugehen. Hier hat er sich mit Sachkenntnis und Gespür fürs Richtige und Angemessene zu bewähren. Das Schablonendenken „Russen und Chinesen liefern Staatspropaganda, die Amerikaner, Briten, Franzosen und die Bundesregierung sagen die Wahrheit“, ist einfach fernab der Realität.

Sie sind bekannt für Ihre Kritik an der Tagesschau. Sie lassen seit Jahren an der ARD-aktuell kaum ein gutes Haar. In Ihrer Kritik stand immer wieder auch der damalige Erste Chefredakteur der Tagesschau, Kai Gniffke. Hat sich, nachdem er die Redaktion verlassen hat, etwas an der Berichterstattung geändert?
 
Friedhelm Klinkhammer: Nein, grundsätzlich hat sich nichts geändert. Allerdings: Eine der ständigen Mitarbeiterinnen bei ARD-aktuell ist uns inzwischen mit recht guten, sachgerechten Beiträgen aufgefallen. Den Namen der Kollegin nennen wir nicht, unser Lob wäre ihr gewiss nicht nützlich. Anerkennung von uns, den Bösen, ist nicht karriereförderlich.

Also ein Lichtblick?

Volker Bräutigam: In der Finsternis, ja. Die weitgehende redaktionelle Umnachtung hat sich in der Ära Dr. Gniffke entwickelt. Deshalb ein Nachwort zu diesem Chefredakteur: Er hat die Einseitigkeit und das Manipulative seiner Sendungen öffentlich stets geleugnet, hat die Angebote der ARD-aktuell als sauberen Journalismus gepriesen und sich selbst ein Spitzenzeugnis ausgestellt. Sein Mantra „Fehler muss man einräumen“ war bloße Attitüde, schöne Rede zum Fenster hinaus. Die Konsequenz, fehlerhafte Nachrichten öffentlichkeitswirksam zu korrigieren, hat er nicht gezogen. Der neue Chef übt bisher deutlich mehr Zurückhaltung. Das ist zu respektieren.
 
Venezuela, Russland, Ukraine, Saudi-Arabien, Kinderarmut in Deutschland: Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis Ihres aktuellen Buches zeigt, dass Sie vor allem die Berichterstattung der Tagesschau zu großen außen- und innenpolitischen Themen kritisieren. Was läuft da aus Ihrer Sicht falsch?
 
Volker Bräutigam: Wie bereits angemerkt: Die Gestaltung der Nachrichten aus den Konfliktzentren der Welt ist nicht um Objektivität bemüht . Das fällt leider meistens nur dem kritischen, vorinformierten und sehr konzentrierten Betrachter sofort auf. Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Der venezolanische Oppositionelle Juan Guaidó rief sich selbst zum Interimspräsidenten aus und propagierte den Umsturz in Caracas. Washington unterstützte ihn politisch und mit zig Millionen US-Dollar. Diesem völkerrechtswidrigen Vorgehen folgte Außenminister Heiko Maas, indem er Guaidó innerhalb von 24 Stunden als Staatsoberhaupt „politisch anerkannte“.

Und, wie hat die Tagesschau reagiert?

Volker Bräutigam: Sie referierte das als Normalität. Vollkommen unkritisch, sie unterließ jeden Hinweis auf die Rechtswidrigkeit und die politische Problematik. Sie öffnete dem Zuschauer nicht den Blick dafür, dass Maas sich in Liebedienerei für Washington übte. Seinen Bückling zu ignorieren, war Meinungsjournalismus pur, Manipulation mittels Unterlassung. Die Tagesschau unterschlug sogar, dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, alle Oppositionsparteien und die nationale Fachwelt die transatlantische Gefolgschaftstreue unseres Außenministers als Völkerrechtsbruch und mit dem Grundgesetz unvereinbar klassifizierten. Es lag übrigens auch eine Verletzung anderer politischer Normen vor, über die sich die Tagesschau gleichfalls ausschwieg: Die Bundesregierung erkennt üblicherweise nur Regierungen diplomatisch an, nicht jedoch einzelne Personen, die sich ein Staatsamt anmaßen.
 
Kritik haben Sie auch an innenpolitischen Darstellungen geübt. Wo liegt das Problem, wenn die Tagesschau über Kinderarmut berichtet?
 
Friedhelm Klinkhammer: Wenn sie denn überhaupt mal über dieses traurige Kapitel berichtet. Dabei lebt in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut.

Auf welche Untersuchungen beziehen Sie sich bei dieser Zahl?

Friedhelm Klinkhammer: Exakte Zahlen über Kinderarmut gibt es nicht, nur überschlägige Daten. Das sagt für sich genommen schon eine Menge aus. Die Böckler-Stiftung und der Paritätische Gesamtverband kamen auf 2,55 beziehungsweise 2,5 Millionen, die Bertelsmann-Stiftung auf 2 Millionen arme Kinder. Wir hatten in unserem Buchbeitrag die Angaben des Statistischen Bundesamtes zugrunde gelegt: 2,1 Millionen Kinder unter 18 Jahren (nach Datenlage des Jahres 2006 waren das 18,6 Prozent dieser Altersgruppe).

Der Alltag dieser Kinder ist von erzwungenem Verzicht geprägt: Keine neue Winterjacke, kein Geld für den Schulausflug, keine Urlaubsreise mit den Eltern, oft nicht einmal genug Geld für ein warmes Mittagessen. Desaströse Zustände. 75 Prozent der deutschen Bevölkerung sprechen sich dafür aus, dass mehr gegen die Kinderarmut getan werden muss. Aber es geschieht nichts Entscheidendes. Im Gegenteil, die Armut verschlimmert sich. ARD-aktuell berichtet hin und wieder auf der Internet-Seite tagesschau.de über Kinderarmut, erreicht damit aber nur einen sehr kleinen Teil seines TV-Publikums. 
 
Und in der Tagesschau? Wie sieht da die Berichterstattung zum Thema Kinderarmut aus?

Friedhelm Klinkhammer: In der zuschauerstarken Hauptausgabe um 20 Uhr – vier bis sechs Millionen Menschen täglich – gab es nach unserer Zählung ganze zwei Beiträge über Kinderarmut in Deutschland. Wir betrachteten dabei den Zeitraum von April 2018 bis April 2019. Der erste Beitrag am 9. Januar vorigen Jahres hatte zum Thema, wie die Berliner Politik mit der Kinderarmut umzugehen gedachte. Dieser Bericht über das sogenannte “Starke-Familien-Gesetz” war eine reine PR-Sendung, die Tagesschau-Chef und SPD-Mitglied Dr. Gniffke seinen Parteigenossen Hubertus Heil und Franziska Giffey ermöglichte. Das Gesetz sieht minimale finanzielle Zuwendungen vor, die bei Hartz-IV-Beziehern sofort wieder gekappt werden. Es wurde aber eigens eine Reportage darüber für die Tagesschau in einem Berliner Familiencafé inszeniert. Das Gesetzesvorhaben wurde dort als kommende soziale Großtat geschildert und so der Öffentlichkeit präsentiert.

Mein Fazit: ARD-aktuell lieferte einen peinlichen Werbefilm ab und gab das als Journalismus aus.

Der Sendebeitrag hat die Realität schöngefärbt?

Friedhelm Klinkhammer: Genau. Die Redaktion wies nicht – wie es ihre journalistische Pflicht gewesen wäre – auf die völlig unzureichenden Mittel dieses Gesetzes für den Kampf gegen die Kinderarmut hin, sie sonderte nicht einen einzigen eigenen Gedanken dazu ab. Kein Wort darüber, dass nur rund zehn Prozent der in Armut lebenden Kinder – wenn überhaupt – in den Genuss der geringen Wohltaten kommen werden.
 
Würden Sie bitte Ihre Kritik noch etwas weiter präzisieren.
 
Friedhelm Klinkhammer: Zu kritisieren war, wie angemerkt, der anstößige PR-Charakter der Reportage über die Veranstaltung in dem Café. Sie diente hauptsächlich der Imagepflege der beteiligten Politiker. Minister, die sich in strahlendes Rampenlicht stellen wollten. Hubertus Heil, ich zitiere: „Das ist keine Gnadenleistung, das ist soziales Bürgerrecht.“ Dass sein penetranter Aufsager nicht in seinem Büro aufgenommen wurde, sondern außerhalb in einem Familiencafé, das diente dazu, soziale Nähe und fürsorgliches Engagement des Ministers zu assoziieren. Obwohl das angekündigte Gesetz solche menschliche Wärme nicht mal in Spuren verströmt. Es gewährt nur Almosen, Krümel vom Tisch der Herrschenden. Und das nun in einem der reichsten Länder der Welt. An der Kinderarmut ändert es nichts. Die Tagesschau hätte diese widerwärtige Inszenierung als das kenntlich machen müssen, was sie war, eine Politshow. Stattdessen zündete sie eine Weihrauchkerze, im Widerspruch zu ihrem gesetzlichen Auftrag, objektiv und umfassend zu berichten.
 
Was ist Ihnen weiter aufgefallen?
 
Friedhelm Klinkhammer: ARD-aktuell publiziert viel in verklausuliertem Amts- und in schlechtem Agenturdeutsch. Ihre Nachrichten enthielten auch im hier besprochenen Fall Wendungen, mit denen das breite Publikum wenig anfangen kann. Beispiel Kinderzuschlag: Zuschlag worauf? Was bleibt den Bedürftigen tatsächlich, welche Leistungen werden nur mit der Sozialhilfe verrechnet und bleiben damit unwirksam? Warum werden vermutlich überhaupt nur 250 000 Kinder diese geringe Hilfe erhalten, obwohl doch 2,1 Millionen armutsbedroht sind? Nichts klärte ARD-aktuell schlüssig auf.
 
Hier hat die Tagesschau aus Ihrer Sicht also versagt?

Friedhelm Klinkhammer: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll mit seinem Informationsangebot zur qualifizierten Urteilsbildung der Öffentlichkeit beitragen. Lässt er die Problematik der Kinderarmut unbeachtet, dann hat das Folgen: Unterbelichtete Themen, so der falsche Rückschluss, betreffen nichts Gravierendes. Nichts, worüber man sich aufregen muss. Eine Wechselwirkung: Ist die Armut kein Medienthema, dann ist sie auch keins für die Politik. Und umgekehrt. Das hat selbstverständlich System, es ist nicht absichtsfrei so. Man könnte es zuspitzen: Angesichts der Publikumsmeinung, dass zu wenig gegen die Kinderarmut getan wird, sorgt die Tagesschau dafür, dass die Politik nicht infolge zu kritischer Berichterstattung unter Handlungszwang gerät.
 
Sie sprechen ein sehr wichtiges Problem an. Wenn Medien über etwas nicht berichten, dann ist es sozusagen nicht existent, also zumindest nicht in der Medienöffentlichkeit. Anders gesagt: Wenn Medien nicht mit Nachdruck auf Missstände aufmerksam machen, dann fällt es der Politik leichter, sie zu ignorieren. Wie erklären Sie sich, dass die Tagesschau die Kinderarmut nicht kritischer beleuchtet hat? Sie sagen, diese Berichterstattung habe „System“, sie sei nicht „absichtsfrei“. Wie meinen Sie das?

Friedhelm Klinkhammer: Wir erleben bereits seit Anfang 2000 eine gigantische Umverteilung der Einkommen und Vermögen von unten nach oben. Das ist in der Steuerpolitik angelegt und wird vom Lohndumping verschärft. Die Folgen: soziale Verwerfungen, Alters- und Kinderarmut. Da es für diese Entwicklung keine glaubhafte Rechtfertigung gibt, haben die Entscheidungsträger in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ein essenzielles Argumentationsproblem, zumal sie sich jahrzehntelang als Gerechte, als Gute und als „Leistungsträger“ beweihräuchern ließen. Sie haben demnach ein deutliches Interesse daran, dass es nicht zu einem gesellschaftlichen Diskurs über das asoziale Verhalten der Geldaristokratie kommt. Der wäre nur vermittels kritischer Journalisten in den Massenmedien anzustoßen. Aus diesem kühlen Grunde werden Themen wie die grassierende Kinderarmut allenfalls dilatorisch (aufschiebend) behandelt.

Es ist entlarvend, dass die gesamte Problematik auch in einem staatlich beeinflussten Medium wie in den Sendungen der ARD-aktuell einfach ausgeblendet werden kann. Die Redaktion schützt damit bösartig reaktionäre bis unfähige Politiker der „bürgerlichen Mitte” vor dem Zorn der Öffentlichkeit.

Warum das?

Weil wechselseitige Abhängigkeiten bestehen. Politiker bestimmen über das finanzielle Wohl und Wehe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, und Journalisten haben Einfluss auf das Erscheinungsbild der Politiker. Für die eine Sorte Abhängige gilt: „Beiße niemals die Hand, die dich füttert”. Und für die andere: „Vergiss das Füttern nicht, sonst stehst du schnell allein im Wald.“

Bleiben wir noch bei der Sachkritik. Worum ging es in dem zweiten Beitrag zum Thema Kinderarmut?

Friedhelm Klinkhammer: Am 21. März, gute zwei Monate nach der gefälligen Kaffeehausreportage über Hubertus Heil, den Guten, berichtete die Tagesschau über die parlamentarische Verabschiedung des Gesetzes. Mit dürren Worten wurde den Zuschauern mitgeteilt, dass das “Starke-Familien-Gesetz” von der Opposition als unzureichend angesehen werde.

Kein Wort über die nach wie vor wirksamen bürokratischen Hürden, die das “Starke-Familien-Gesetz” saft- und kraftlos machen. Kein Hinweis darauf, dass ärmere Familien trotz der neuen Regelungen benachteiligt bleiben, weil für den Schulbesuch und den Schulbedarf ihrer Kinder nur halb soviel zur Verfügung steht wie für „normal” verdienende Familien. Eine unbillige Härte, ein weiterer Bruch mit dem Gleichbehandlungsprinzip und dem Sozialstaatsgedanken. Ich erlaube mir, an dieser Stelle Ulrich Schneider zu zitieren, den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: “Das Stärkste an dem Gesetz ist wahrscheinlich der Titel.“

Lesetipp: Müller, Maren/Bräutigam, Volker/Klinkhammer, Friedhelm:
Zwischen Feindbild und Wetterbericht. Tagesschau & Co. – Auftrag und Realität
PapyRossaVerlag, ca. 250 Seiten. 16, 90 Euro.

Anmerkung: Der letzte Absatz wurde bearbeitet.

Titelbild: Sharaf Maksumov / Shutterstock


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