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Titel: Ein Blick in die dunklen Ecken der Kindeserziehung

Datum: 12. Februar 2020 um 8:37 Uhr
Rubrik: Bildung, Familienpolitik, Interviews
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Was ist „schwarze Pädagogik“? Findet sie bei der Erziehung von Kindern im Elternhaus, in den Kindergärten oder den Schulen Anwendung? Es gibt „dunkle Ecken“ in unserer Gesellschaft, wenn es um die Erziehung von Kindern geht. Diese Räume des seelischen Missbrauchs von Kindern hat die Kultur- und Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter in einem Buch, das nachdenklich macht, ausgeleuchtet. Seichter, die an der Universität in Salzburg lehrt, zeigt auf, wie oftmals in einem perfiden Zusammenspiel zwischen staatlicher Erwartungshaltung und pädagogischen Fehlgriffen sowohl im Elternhaus als auch in den Institutionen das Kind zu einer Art Ware wird. Weicht das Kind (die Ware) von der Norm ab, hat das schlimme Konsequenzen. Im NachDenkSeiten-Interview erklärt Seichter, was unter schwarzer Pädagogik zu verstehen ist und führt aus, dass Erziehung längst nicht immer nur dem Kindeswohl dient, sondern vielmehr auf die „Aufrechterhaltung staatlicher Ordnung setzt“. Von Marcus Klöckner.

„Das Kind ist im Laufe der Geschichte der Kindheit zur Ware geworden. Zum Produkt von Ökonomie, Wirtschaft, Medizin und – nicht zuletzt – von Erziehung.“ Mit diesen Worten beginnt Ihr Buch, das Einblicke in die „schwarze Pädagogik“ liefert. Das klingt düster. Ist es so schlimm um unsere Kinder bestellt?

In meinem Buch blicke ich in die Ecken von Erziehung, die allzu leicht im Dunklen verbleiben, weil niemand gerne in diese hineinschaut. Ecken, in denen Demütigungen und Misshandlungen an Körper und Seele des Kindes und damit vor allem an der kindlichen Würde verübt werden. Praktiken von Macht und Gewalt geschehen sowohl in familiären als auch in institutionellen Bereichen von Erziehung bis heute Tag für Tag. Hätte ich beispielsweise eine Erfolgsgeschichte über die Etablierung der Kinderrechte und von Schutzräumen ein Buch geschrieben, wäre die Erzählung über Erziehung radikal anders ausgefallen. So wurde es eine Dokumentation über Tabus, die zu gerne unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit versteckt werden. Diesen Mantel ein wenig zu lüften, das war meine Intention.

Wann und wodurch ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, dass im Umgang mit unseren Kindern etwas nicht stimmt?

Ich persönlich hatte das große Glück einer behüteten Kindheit. Eltern, die – im Rückblick betrachtet – ein gesundes Maß von Förderung und Fordern praktizierten, und Schulen, die – freilich ebenso retrospektiv beurteilbar – mich als Person in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten. All dies ist nicht selbstverständlich. Kindesvernachlässigung, Kindeswohlgefährdung bis hin zu (sexuellen) Gewalttaten stehen leider an der bundesrepublikanischen Tagesordnung. Schulen, die Kinder nicht in ihrer Individualität betrachten, sondern als „Rohstoffe“, die getrimmt und diszipliniert werden müssen, bis sie jene Kompetenzen verinnerlicht haben, die am nächsten Tag in einer standardisierten Leistungserhebung getestet werden. Die Förderung gilt dann strenggenommen nicht mehr dem einzelnen Kind in seiner vielfältigen Besonderheit, sondern mehr und mehr einer objektiven (Alters-) Kohorte, in der unter der sloganhaften Chiffre der „Chancengleichheit“ alle gleich gemacht werden. Diese Tendenzen kann man von dem Kindergarten bis in die Universität beobachten.

Der Vergleich mit einem Produkt, mit einem Stück Ware im Hinblick auf das Kind zieht sich durch Ihre Arbeit. Können Sie uns näher erklären, was genau Sie damit meinen und wie sich das konkret zeigt?

In meinem Buch blicke ich auf die „schwarze“ Seite von Erziehung. Durch diesen Blick erscheint für mich das Kind als Ware, weil das Kind – ähnlich wie die Ware – von äußeren Eingriffen hergestellt wird und der Tendenz nach verdinglicht wird. Das Kind hat dann seinen (gesellschaftlichen) Marktwert erreicht, wenn seine Leistungsüberprüfungen erfolgreich absolviert werden und es im internationalen Vergleich fehlerfrei bestehen kann. (Genau diese Intention der Überprüfung tragen beispielsweise die von der OECED turnusmäßig durchgeführten PISA-Studien.) Kann das Kind – genau wie die Ware – dieser Überprüfung nicht standhalten und zeigt es Abweichungen von der Norm, wird es ausgelesen und ausgetauscht.

Nun ist aber eine gewisse Erziehung für Kinder doch wichtig. Sie müssen irgendwie auch in der Gesellschaft, in der sie aufwachsen und vermutlich leben werden, klarkommen. Dazu ist es notwendig, dass bestimmte Werte, Normen, Verhaltensregeln usw. aufgenommen werden. Bis wohin ist Erziehung normal oder angebracht und wo fängt die schwarze Pädagogik an?

Es besteht – so hoffe ich – keinerlei Zweifel daran, dass wir durch Erziehung und Bildung nicht nur zu gesellschaftsfähigen Menschen heranwachsen, sondern vor allem auch zu Partizipierenden einer demokratischen Gemeinschaft werden. Dafür muss es allgemeine Normen und Werte geben, die das Grundgerüst demokratischen Lebens und Arbeitens sichern. Von „schwarzer Pädagogik“ ist dann zu sprechen, wenn für das Kind dauerhaft unbegründete Vorgehensweisen (teilweise) gegen den kindlichen Willen erfolgen, das Kind nicht die Möglichkeit hat, aktiv – dem jeweiligen Alter entsprechend – an Entscheidungen mitzuwirken und – soweit es die Bedingungen zulassen – ein autonomes und würdevolles Leben leben darf. Alle Formen von Standardisierung und Objektivierung, die nicht nachweisbar dem Wohle des einzelnen Kindes dienlich sind, sondern aus anderen (meist wirtschaftlichen) Gründen praktiziert werden, sind auf ihre Notwendigkeit bzw. Förderlichkeit kindlicher Autonomie und Selbstbestimmung kritisch zu hinterfragen.

Sie sprechen in Ihrem Buch von der „Heimtücke der Erziehung“. Worin liegt diese Heimtücke?

Zu meinen, Erziehung geschehe nur zum Wohle des Kindes, wäre nicht die ganze Wahrheit. Sicher, es ist – hoffentlich – oft der Fall. Allerdings gibt es auch Maßnahmen (in Schulen, Heimen oder Universitäten), die nicht zum Wohle des Kindes bzw. Jugendlichen durchgeführt werden, sondern zur Aufrechterhaltung einer (scheinbar notwendigen) gesellschaftlichen bzw. sozialen Ordnung, zum Management von organisatorischen Herausforderungen, zur Sicherung wirtschaftlicher Prosperität, zur Planung administrativer Ressourcen etc. Das ist wohl unausweichlich so, da Erziehung viele „Auftraggeber“ (Wirtschaft, Staat, Medizin u.a.) hat, die Richtlinien und Ausrichtungen „pädagogischen“ Handelns bestimmen.

Was haben „Räume“ mit der Erziehung von Kindern zu tun?

Organisierte Erziehung (sowohl familiäre als auch institutionelle) findet in (meist geschlossenen) Räumen statt – zu denken wäre an die Räume Kindergarten, Schule, Heime, Universität, Jugendbildung, Kinderbetreuung etc. Erziehung in Räumen ermöglicht eine reibungslose und übersichtliche Organisation. Pate für institutionelle Erziehungsräume (ähnlich wie der Raum Gefängnis und Krankenhaus) war das mittelalterliche Kloster: Abgeschiedenheit, Ordnung, Struktur, Zeitplan, Beobachtung und Kontrolle regeln den erzieherischen Alltag und sind der Normalfall. In diesem Zusammenhang muss jedoch erwähnt werden, dass genau diese Architektur des Raums beispielsweise die Möglichkeit von Macht, Gewalt und Missbrauch nicht unbedingt hemmt, sondern – wie die jüngsten Fälle sexuellen Missbrauchs in reformpädagogischen und kirchlichen Musterschulen auf erschreckende Weise belegen – geradezu fördert. Die „Insellage“ von pädagogischen Räumen schafft nicht unbedingt Schonräume für Kinder, sondern diese können gerade aufgrund ihrer Lage (nicht nur geographisch, sondern auch in organisatorischer Hinsicht gemeint) zu ausweglosen Fallen werden.

Wie sollte aus Ihrer Sicht ein Kind aufwachsen? Oder anders gefragt: Haben Sie einen Ratschlag für Eltern? Worauf sollten diese achten, wenn Erziehung auch von außen auf das Kind einwirkt, wie etwa in der Schule?

Nehmen wir das Recht auf Anerkennung der Vielfalt unserer Kinder ernst, so müssen wir dringend überlegen, wie kindliche Vielfalt durch institutionelle Erziehung beachtet und praktiziert wird. Das ist eine riesige Herausforderung und lässt sich wohl vor allem durch eine reflektierte professionelle Haltung des Erziehers und der Erzieherin erreichen. Neben den notwendigen institutionellen Vorgaben müsste meines Erachtens verstärkt die Frage im Raum stehen (vor allem in der Ausbildung): Wie wollen wir dem Kind begegnen? Welchen Raum können wir trotz institutioneller Rahmenbedingungen schaffen, um Vielfalt zu gewährleisten und die nicht durch strikte Standardisierung und Kontrolle einzuebnen? Ist das Kind wie ein zu normierendes Produkt herzustellen oder als einmalige Person wertzuschätzen? All das sind ethische Fragen, die in einer demokratischen Gesellschaft verstärkt diskutiert werden müssten.

Lesetipp: Sabine Seichter: Das „normale“ Kind. Einblicke in die Geschichte der schwarzen Pädagogik. Beltz Verlag. Weinheim 2020. 189 Seiten. 24,95 Euro.

Titelbild: GN ILLUSTRATOR / Shutterstock


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