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Titel: Von der Lippe, Greta und die Aufmerksamkeitsökonomie

Datum: 28. Januar 2020 um 12:44 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, PR
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Darf man der Meinung sein, dass Greta nervt? Darf man über die Folgen der #MeToo-Bewegung Witze machen? Zumindest wenn es nach dem selbsternannten Korrektiv der zeitgenössischen Diskurskultur, also dem Twitter-Mainstream, geht, muss man diese Fragen wohl verneinen. Wer den geduldeten Meinungskorridor verlässt, wird mit einem Shitstorm bestraft und darf sich dann von jungen privilegierten weißen Männern und Frauen als alter privilegierter weißer Mann „beschimpfen“ lassen. Erstaunlich ist dabei vor allem, dass diejenigen, die sich die Toleranz auf ihr Banner geschrieben haben, beim kleinsten Widerspruch selbige vermissen lassen. Der Eine giert nach Einschaltquoten, der Andere nach Likes und die Meinungsvielfalt kommt dabei unter die Räder. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Entertainer Jürgen von der Lippe kommt mit einer neuen Show ins Fernsehen zurück und da er ein alter Profi ist, weiß er auch, wie man im Vorfeld kostenlos die Werbetrommel rührt – man mache ein Interview, äußere sich darin spöttisch über #MeToo und Greta und schon hagelt es auf Twitter den in solchen Fällen vorprogrammierten Shitstorm, über den die Journaille mit aufgesetzter Relevanz berichten kann. Aus PR-Sicht war dies für von der Lippe ein kleiner Coup – so belegte er nicht nur #1 bei den „Twitter-Trends“, sondern brachte es auch auf über 40 Pressemeldungen. Als alter weißer Mann müsste man jetzt den Hut ziehen. Offenbar weiß der 71-Jährige, wie Empörungsrituale in der digital vernetzten Welt funktionieren.

Hamburger Morgenpost: Sie gelten als Meister des anzüglichen Humors. Kann man sich frivole Witze in Zeiten von MeToo noch leisten, ohne als alter weißer Mann beschimpft zu werden?

von der Lippe: Der alte weiße Mann ist eine dreifache Diskriminierung – wegen der Hautfarbe, des Alters und wegen des Geschlechts. Ich fürchte aber in der Tat, dass wir einem Zeitalter der Prüderie entgegengehen, wie man es aus den USA kennt, wo sie im Fernsehen vermutlich zeigen können, wie eine Frau gevierteilt wird, aber „No Nipples!“.
Ich stelle allerdings auch fest: Die Leute haben es satt, erzogen zu werden. Und die Leute haben Greta satt.Wenn sich so ein Mädel hinstellt und die Weltmächtigen anschreit „How dare you!“, und die dann kuschen, ist das für mich Comedy. Max Goldt hat mal gesagt: Wenn die Kritik an Zuständen mehr nervt als die Zustände selber, dann muss man aufpassen, und so weit sind wir gerade.

Quelle: Hamburger Morgenpost

Rechtfertigt diese Aussage einen Shitstorm? Ich gebe frank und frei zu, dass mich gewisse Begleitumstände am Greta-Hype auch fürchterlich nerven. Wenn beispielsweise n-tv eine große Live-Schalte zur Ankunft Greta Thunbergs auf einem Segelboot in Lissabon sendet und mit keinem Wort auf die Klimakrise eingeht, nervt das. Wenn in den Medien ein Tweet der Deutschen Bahn zu ihrem Promi-Fahrgast Greta tagelang Thema Nummer Eins ist, nervt das. Wenn man von der „Ikonisierung“ der Klimaaktivisten genervt ist, heißt dies übrigens nicht, dass man vom Thema Klimawandel genervt ist. Ganz im Gegenteil. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass inhaltlich differenzierter über das Thema Klimawandel diskutiert wird, anstatt daraus eine mediale One-Girl-Show zu machen. Man muss Greta Thunberg dankbar sein, dass sie das Thema auf die öffentliche Bühne gehoben hat, nur droht der mediale „Greta-Hype“ paradoxerweise sogar zusehends das Thema „Klimawandel“ an den Rand zu drängen.

Genau so geht es mir manchmal mit dem Thema #MeToo. Selbstverständlich ist es ungemein wichtig und überfällig, die Themen sexuelle Belästigung, Benachteiligung von Frauen und toxische Männlichkeit zu thematisieren. Bin ich aber gleich ein alter privilegierter weißer Mann, wenn ich Bedenken habe, dass die Frauenquote in Aufsichtsräten die richtige Antwort auf diese Probleme ist? Wird die Welt besser, wenn – verzeihen Sie mir die Polemik – nun alte privilegierte weiße Frauen in den Aufsichtsräten die Positionen der Kapitalseite gegen die Interessen nicht privilegierter alter und junger, weißer und farbiger Männer und Frauen vertreten?

Es ist ohnehin seltsam, dass die rhetorische Figur des alten weißen und damit angeblich privilegierten Mannes auf Twitter und sich als jung und hip verstehenden Publikationen wie Bento oder taz derart zelebriert wird. Gerade so, als seien auch all die älteren Hilfsarbeiter und Armutsrentner das eigentliche Feindbild junger, sich als weltoffen und liberal verstehender, Menschen. Teile und herrsche. Solange junge, prekär arbeitende Hipster den alten, prekären Rentner als Feindbild sehen, kommen sie wenigstens nicht auf die Idee, die gesellschaftliche Spaltung zwischen Oben und Unten als eigentliches Problem zu sehen und zu verstehen. Gesteuerte zahnlose Systemkritik. Diese Methode wirkt. Man arbeitet sich lieber an oberflächlichen, aufgeblasenen Petitessen auf, als zum Kern des Problems vorzudringen.

So spielt der „Kabarettist“ Dieter Nuhr in seinem leidlich komischen Bühnenprogramm sehr gekonnt mit den Empörungsritualen und trägt das Label „alter weißer Mann“ nach eigenen Aussagen mit Stolz. Auch das ist natürlich ein gutes Stück Aufmerksamkeitsökonomie. Welche Zeitung würde sonst schon über Dieter Nuhr berichten? Nicht trotz, sondern dank der zahlreichen Shitstorms hat Nuhr eine Sendung in der ARD und muss nicht durch die Dorfgemeinschaftshäuser in der Provinz tingeln, wie es ihm qua Talent eigentlich zustehen würde. Nuhr weiß halt, dass ein dümmlicher Witz über Greta nicht nur die Empörungswelle der „sozialen Netzwerke“ zum Kochen bringt, sondern auch gleich hunderte Schlagzeilen generiert.

Provokationen verkaufen sich und zahlen sich in der einzigen Währung aus, die diese Leute interessiert – Einschaltquoten. Bemerkenswert ist jedoch, wie der geduldete Meinungskorridor heutzutage Provokationen definiert. Auch dafür ist Dieter Nuhr ein gutes Beispiel. Jahrelang machte er sich im Stil eines neoliberalen Clowns über den Sozialstaat und Unterprivilegierte lustig. Auf einen Shitstorm wartete er jedoch vergeblich. Solche Themen „triggern“ die jungen, hippen Twitter-Tugendwächter offenbar nicht. Da kam die Ikone der Klimaproteste natürlich wie gerufen. Ein Druck auf den Greta-Knopf und die Pawlowschen Hunde in den Netzwerken geiferten und generierten Aufmerksamkeit – für sich und für Nuhr. Eine Win-Win-Situation; nur die Debattenkultur kommt dabei zusehends unter die Räder.

Erstaunlich ist, dass diese Empörungsrituale sehr selektiv sind. Auffällig viele Tugendwächter, die Jan Böhmermanns Schmähgedicht („Ziegenficker“) für Erdogan unter Verweis auf die Meinungsfreiheit verteidigten, sind vor Empörung vollkommen aus dem Häuschen, wenn ein Dieter Nuhr oder nun ein Jürgen von der Lippe es sich anmaßen, einen Witz über Greta zu machen und gehörten auch zu denen, die lautstark gegen den Kabarettisten Uwe Steimle polterten. Offenbar gilt die Meinungsfreiheit nur für die „richtigen“ Meinungen. Man fordert für sich Toleranz ein, ist aber selbst intolerant.

Hand aufs Herz: Ist es wirklich so dramatisch, wenn Dieter Nuhr seine dämlichen Witzchen macht? Ist es relevant, was ein Jürgen von der Lippe über #MeToo und Greta denkt? An der Küste sagt man: Auf jedem Schiff, das schwimmt und schwabbelt, ist einer drauf, der dämlich sabbelt! Warum sollte es bei den „Promis“ anders sein? Gibt es nichts Wichtigeres, über das man sich empören könnte? Deutschland hat Fips Asmussen, Bernd Stelter und Mario Barth überlebt und wird sicher auch einen Dieter Nuhr überleben. Zum Glück gibt es ja auch noch richtig gutes Kabarett.

Titelbild: VRDII/shutterstock.com


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