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Titel: Lehrer? Null Problemo! Die Beschulung unserer Kinder besorgt jetzt jeder Hans und Franz

Datum: 17. Januar 2020 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Berufliche Bildung, Bildungspolitik, Fachkräftemangel
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An Deutschlands Lehranstalten grassiert ein Personalmangel mit historischen Ausmaßen. Statt echter Lehrer erledigen inzwischen haufenweise Aushilfskräfte ohne pädagogisches Rüstzeug die Ausbildung und Erziehung der Schülerinnen und Schüler – und es werden immer mehr. Dabei kam die Not nicht aus dem Nichts und die „Flüchtlingskrise“ taugt allenfalls als halbe Ausrede. Über Jahre haben die Kultusminister die Zeichen der Zeit ignoriert und die Bedarfszahlen so hingebogen, wie es ihnen haushälterisch in den Kram passte. Es ist höchste Zeit, die Fehlsteuerung im System zu beenden. Von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Lehrermangel ist überall in Deutschland. Selbst in Bayern, dort, wo man sich bildungspolitisch im Garten Eden wähnt. In der zweiten Januarwoche ließ Kultusminister Michael Piazolo von den Freien Wählern die Katze aus dem Sack. Im kommenden Schuljahr könnten bis zu 1.400 Pädagogenstellen unbesetzt bleiben, verkündete er. Natürlich will der Minister der Misere nicht tatenlos zusehen und präsentierte gleich ein ganzes Maßnahmenpaket. Einziger Adressat: Die Lehrerschaft. Zum Beispiel sollen im Primarbereich demnächst 29 statt 28 Stunden pro Woche unterrichtet werden. Grund-, Mittel- und Förderschullehrer dürfen künftig erst mit 65 vorzeitig in den Ruhestand gehen, ein Jahr später als bisher. Außerdem werde das Sabbatjahr gestrichen und die Mindestarbeitszeit für Lehrkräfte in Teilzeit um drei Stunden auf 23 Stunden an Förder- und 24 Stunden an Volksschulen angehoben.

Der Ärger ließ nicht lange auf sich warten. Die Arbeitsgemeinschaft bayerischer Lehrverbände (ABL) zürnte über einen „Sündenfall“ und „enormen Sprengstoff“, der zu einem großen Vertrauensverlust in den Dienstherrn führe und für Verunsicherung in den Kollegien aller Schularten sorge. Auf Dauer würden sich die Eingriffe als „kontraproduktiv“ erweisen, warnte ABL-Präsidentin Walburga Krefting. Die Attraktivität des Lehrberufs an Grund-, Mittel- und Förderschulen drohe weiter zu schwinden. „Wir werden uns wehren“, versprach Bernhard Baudler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der „eine rote Linie überschritten“ sieht. Die „schon jetzt grenzwertige Belastung“ des Lehrpersonals werde durch die Arbeitszeiterhöhung ins „Unerträgliche gesteigert“. Ein erhöhter Krankenstand und weitere Ausfälle wären ausgemachte Sache.

Massenhaft Lückenfüller

Ortswechsel: In Berlin trat dieser Tage Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) aufs Büßerbänkchen. Eigentlich hatte sie vor einem Jahr beteuert, eine faire Verteilung von Quer- und Seiteneinsteigern über alle Schulen und Bezirke vorzunehmen. Damals wurden Klagen laut, dass die Vielzahl der auf Umwegen ins Klassenzimmer gelangten Kräfte ohne echte pädagogische Ausbildung unverhältnismäßig häufig in Lehranstalten in sozialen Brennpunkten landen. Nun kam heraus: Die Lage hat sich weiter verschärft. Während es im Vorjahr noch 22 Einrichtungen gab, an denen über 20 Prozent Quereinsteiger unterrichteten, sind es heute schon 45. In sieben Fällen liegt ihr Anteil schon bei über 30 Prozent. Nicht berücksichtigt sind dabei die Seiteneinsteiger. Das sind „Lehrer“, die weder eine professionelle didaktische Schulung genossen noch den Vorbereitungsdienst (Referendariat) durchlaufen haben, sondern in der Regel direkt aus einem anderen Beruf an die Schule stoßen. Davon sind allein in der Bundeshauptstadt rund 1.000 im Einsatz.

Groß sind die Nöte auch in Sachsen-Anhalt. So groß, dass jetzt Betroffene das Heft des Handelns an sich gerissen haben. In der Vorwoche starteten Gewerkschaften, Schüler- und Elternvertreter das Volksbegehren „Den Mangel beenden – Unseren Kindern Zukunft geben!“. Mit ihm soll die Regierung genötigt werden, Personalschlüssel im Schulgesetz zu verankern, die eine verbindliche Schüler-Lehrer-Relation für die einzelnen Schulformen vorsehen. Angestrebt wird eine Unterrichtsversorgung von 105 Prozent, um Fehlzeiten infolge von Krankheit und gestiegenen Anforderungen etwa durch Inklusion, Migration und Ganztagsbetreuung Rechnung zu tragen. Derzeit liegt die Ausstattung im Schnitt bei 96 Prozent, in den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen bei gerade einmal 90 Prozent. In der Konsequenz fällt seit Jahren massenhaft Unterricht aus. CDU-Bildungsminister Marco Tullner streitet die Probleme nicht ab, meint aber, mit besseren Schlüsseln stünden nicht plötzlich mehr Bewerber auf der Matte. Ganz unrecht hat er damit nicht.

Bedarf nach Kassenlage

Die Bundesrepublik erlebte immer mal wieder Phasen, in denen das Angebot an Pädagogen mit dem „Bedarf“ nicht mithalten konnte. Wobei „Bedarf“ eine schwammige Größe ist, die sich entsprechend gesellschaftlicher, politischer und vor allem haushälterischer Erfordernisse beliebig zurechtbiegen lässt. Dagegen spielten und spielen bis heute die schulischen Erfordernisse, also die Frage, was der Nachwuchs für ein gedeihliches Aufwachsen wirklich an Lehre und Betreuung braucht, eine nachrangige Rolle. Tatsächlich dürften die Vorgaben für eine „auskömmliche Unterrichtsversorgung“ noch niemals und nirgendwo, in der alten wie der neuen BRD, darauf abgestellt gewesen sein, was wahrhaftig und gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Besten des Kindeswohls ist. Das ist auch ein, wenn nicht der Hauptgrund dafür, dass die Situation aktuell so ernst ist wie nie.

Nach einer im September 2019 von der Bertelsmann-Stiftung vorgelegten Analyse fehlen allein an den Grundschulen bis zum Jahr 2025 mindestens 26.300 nachrückende Lehramtsabsolventen und damit 10.600 mehr, als die Kultusministerkonferenz (KMK) quantifiziert hat. Schulpolitische Ambitionen wie der Ganztagsschulausbau wären dabei noch gar nicht berücksichtigt. Nur dafür wären Tausende zusätzlicher Kräfte wie pädagogische Mitarbeiter, Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen vonnöten. Nun mögen die Motive der Denkfabrik aus Gütersloh durchsichtig sein: Als Konzernanhängsel bedient sie die Interessen der Bertelsmann AG, darunter das, auf dem kommerziellen Bildungsmarkt zu reüssieren. Und als neoliberaler „Reformmotor“ treibt die Stiftung die Vermarktwirtschaftlichung aller Lebensbereiche voran. Dazu gehört auch, dass Kinder ihren Erzeugern beim Geldverdienen nicht zu viel Erziehungs- und Betreuungsarbeit abverlangen. Weswegen Kita- und Ganztagsschulausbau bei den Bertelsmännern ganz oben auf der Agenda stehen.

Der Notnagel regiert

Sei es drum, miserabel sind die Verhältnisse auch im regulären Schulbetrieb zwischen 8 und 13 Uhr. Dazu zeichnen mit den Bildungsforschern Klaus Klemm und Dirk Zorn zwei profilierte Experten für besagte Studie verantwortlich, die nicht bekannt dafür sind, zu Dramatisierungen zu neigen. Und historisch schlecht sieht es auch bei fast allen anderen Schularten aus. Landaus, landein regiert bei der Einstellungspolitik schon seit langem der Notnagel, aber mit jedem Jahr wird der Kreis der an die Tafel beorderten „Amateure“ illustrer. Neben Pensionären tummeln sich da unfertige Lehramtsstudierende, Referendare mit erweitertem Lehrauftrag oder „Lovls“. Diese „Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“ sind nominell ein Berliner Phänomen, aber in der Form auch im Rest der Republik anzutreffen. Anders als beim Quer- und Seiteneinstieg müssen sie nichts studiert haben, was mit einem Schulfach auch nur entfernt verwandt ist. Und so lehrt zum Beispiel ein Architekt Geschichte und ein Archäologe Kunst. Es sind selbst Fälle überliefert, in denen Eltern oder der Schulhausmeister den Vertretungslehrer markiert haben sollen.

Keine Frage: Auch Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg sind mitunter hervorragende Pädagogen. Der Garant für Qualität in der Breite kann gleichwohl nur eine professionelle Lehramtsbildung mit einem Höchstmaß an pädagogischer Expertise sein. Schließlich geht es hier um Kinder, darum, was und wie man ihnen etwas beibringt und wohin ihr Weg in der Zukunft führt. Die politisch Verantwortlichen tun dagegen so, als könnte man deren Ausbildung und Erziehung jedem „Hansel“ überlassen, sofern der sich nur dazu berufen fühlt und einen Crashkurs in Didaktik vorweisen kann. Man stelle sich vor, Airlines heuerten aus Mangel an Profis reihenweise „Piloten“ mit Autoführerschein an. Das gäbe Katastrophen in Serie und einen Riesenaufschrei. Aber den Nachwuchs vertraut man jedem Ungelernten an. Die große Öffentlichkeit kriegt es eh nicht mit und für den Schaden der Betroffenen und die gesellschaftlichen Langzeitschäden werden die Urheber auch nicht einstehen müssen.

„Verbrechen an Kindern“

Man muss kein Fan des konservativen Deutschen Lehrerverbands (DL) sein, unter dessen Dach unter anderem der Deutsche Philologenverband (DPhV) firmiert. Wenn der Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger es „ein Verbrechen an den Kindern“ nennt, pädagogische Laien ohne ausreichende Vorbereitung und ohne qualitätssichernde Vorgaben auf Schüler loszulassen, dann ist ihm beizupflichten. Das zeige, so Meidinger weiter, wie gering die notwendige Berufsprofessionalität von der Politik geschätzt werde. Dazu komme, dass es für die Quereinsteiger „keine ausreichende Zahl von Ausbildungslehrern“ gebe. In den Ländern mit dem größten Mangel hätten die Ministerien oft gar kein Interesse, die Betroffenen zu schulen, weil sie dann nicht gleich voll in die Unterrichtsversorgung gesteckt werden könnten.

Ist die Empörung nicht müßig? Schließlich ist die Lage, wie sie ist. Bloß wie kam es dazu? Tatsächlich gibt es allerhand Gründe dafür, dass viel zu wenige Junglehrer verfügbar sind, während in der Diskussion vor allem die Ausreden dominieren. Oft ist zu hören, dass die sogenannte Flüchtlingskrise ab 2015 und in den Folgejahren nicht abzusehen und das Schulsystem dem starken Zustrom an Migranten nicht gewachsen war. Da ist zweifellos etwas dran. Die Schulplaner hatten aber allerhand mehr nicht auf dem Zettel, was zu berücksichtigen wäre: wieder steigende Geburtenraten, den Einbruch bei den Lehramtsabsolventen infolge der Umstellung auf die Bachelor-Master-Studienstruktur, eine verschleppte Reform der Lehrerausbildung, den Ganztagsschulausbau, die Inklusion, die nachhaltige Entwertung des Pädagogenberufs durch politische Stimmungsmache („faule Säcke“ und „überbezahlt“) bei zugleich steigenden Belastungen und vergleichsweise schlechter Bezahlung.

Pensionierungswelle verpennt

Vor allem war der Politik seit einer halben Ewigkeit bewusst, dass die Schulen von einer gewaltigen Pensionierungswelle überrollt werden. Schon 2003 hatte die KMK auf Altersabgänge in „beträchtlicher“ Größenordnung von mehreren Hunderttausend hingewiesen. Aber trotz ihrer fortan mehrmalig wiederholten Warnungen blieb zielgerichtetes Handeln aus, dahingehend etwa, die Kapazitäten an den Hochschulen auszubauen und Ausbildung wie Berufsbild attraktiver zu machen. Im Gegenteil rechneten die Kultusminister die Einstellungsbedarfe sogar immer wieder klein oder operierten mit längst überholten Zahlen.

Zum Beispiel hantierten sie bis ins Jahr 2018 hinein mit ihrer Prognose zum „Lehrereinstellungsbedarf und -angebot“ aus dem Jahr 2015, die sich der Datenlage von 2013 bediente. Für 2017 bis 2025 wurde dabei im Primarbereich mit einem Überschuss an Lehrkräften kalkuliert, in der Größenordnung zwischen 1.190 und 1.990. Erst im Herbst 2018, als schon überall die Alarmglocken schrillten, und zuletzt im Dezember 2019 wurde die Prognose aufgefrischt. Die neuerdings im Jahresturnus vorgenommene Aktualisierung ist dabei so etwas wie das Eingeständnis, dass man in der Vergangenheit regelmäßig und voll danebenlag. Nun stellt sich die KMK immerhin auf eine Lücke von knapp über 12.400 Kräften an den Grundschulen bis 2023 ein. Auch sei für die Haupt-, Real- und Berufsschulen bis 2030 fast durchgängig mit Engpässen zu rechnen. Lediglich für den Sekundarbereich II in den allgemeinbildenden Fächern und für die Gymnasien werde weiter von einem „deutlichen Bewerberüberhang“ ausgegangen.

Blick in die Glaskugel

Das neue Zahlenwerk markiert jedoch bestenfalls eine Annäherung an die Realität. So besteht eine gewaltige Diskrepanz zu den Befunden von Klemm und Zorn, die für die Primarstufe ein mehr als doppelt so großes Minderangebot ausgemacht haben. Gelinge es nicht, diese Lücke kurzfristig zu schließen, „wäre dann auch für die Folgeperiode bis zum Schuljahr 2030/2031 mit einem fortgesetzten Mangel“ im Umfang von knapp 4.000 Lehrpersonen zu rechnen“, konstatieren die beiden Wissenschaftler.

Ganz anders erscheint die Welt in der KMK-Glaskugel. Darin brechen nach 2023 an den Grundschulen wie aus dem Nichts geradezu goldene Zeiten an, beginnend mit einem Überangebot an Lehrern von 270 im Jahr 2024 bis hin zu 3.590 im Jahr 2029. Die Vorgängeruntersuchung von 2018 signalisierte dagegen erst ab 2026 Entspannung, aber bei weitem keine so durchgreifende. Bis 2030 hatte man einen Überschuss von 6.750 Lehrkräften ermittelt, in der Neuberechnung sind es mit einem Mal über 16.000. Man wundert sich: Wo kommen die Leute plötzlich alle her? Laut Deutschem Lehrerverband gibt es im Grundschullehramt „dramatisch gestiegene Anfängerzahlen“. Das kann ja sein, allerdings hat die KMK auch den Bedarf bis 2025 um über 8.000 Stellen hochgeschraubt – wegen steigender Schülerzahlen und dem Faktor Migration.

Eine Erklärung für die kommende „Lehrerschwemme“ liefert Niedersachsen. Dort werden an den Gesamtschulen künftig nur noch Gymnasiallehrkräfte eingestellt. Deshalb schlüsselt die Statistik diejenigen, die bisher für diese Schulform vorgesehen waren, kurzerhand als potenzielle Grundschullehrer auf. Und wie gehabt blendet die KMK politische (Möchtegern)-Großprojekte wie die Regelbeschulung von körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern (Inklusion) und den Ausbau der Ganztagsschulen, zu schweigen von einer qualitativ hochwertigen Personalausstattung derselben, konsequent aus.

Schweinezyklus

Das hatten nach Vorlage auch die Bildungsgewerkschaften moniert. „Der Lehrkräftebedarf wird aus dem heutigen Status quo hochgerechnet“, beklagte Udo Beckmann, Chef beim Verband Bildung und Erziehung (VBE). „Dabei wissen wir doch jetzt schon, dass bis 2025 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung und -betreuung umgesetzt werden soll.“ Eben dafür müssten „deutlich mehr Lehrkräfte ausgebildet und eingestellt werden“, gab auch die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe zu bedenken und verwies auf die weiterhin stark ausgeprägte Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft im deutschen Bildungssystem. „Der Lehrkräftemangel verschärft das Problem.

Dass es Schwierigkeiten bereiten kann, heute so viel Lehrer auszubilden, wie in fünf bis sieben Jahren gebraucht werden, soll hier nicht bestritten werden. Es kann durchaus mal etwas dazwischenkommen, wie eben die „Flüchtlingskrise“ oder ein plötzlicher Kinderboom. Für Unwuchten auf dem Lehrerarbeitsmarkt sorgt immer wieder auch der sogenannte Schweinezyklus. Der aus der Agrarwirtschaft entlehnte Begriff beschreibt eine periodische Schwankung auf der Angebotsseite, die in ziemlicher Regelmäßigkeit zu Marktverwerfungen führen kann. Vereinfacht dargestellt: Sind die Jobaussichten für Pädagogen gerade gut, streben mitunter viel mehr Anwärter an die Hochschulen, als Jahre später an Absolventen benötigt werden. Umgekehrt können bei ungünstigen Aussichten und gebremster Studienbereitschaft später weniger Hochschulabgänger in den Startlöchern stehen, um kurzfristig entstandene Bedarfslücken zu schließen.

Verrechnen nach Plan

Als Erklärung für den schon sehr lang anhaltenden und zunehmend größer gewordenen Lehrerschwund taugt der Schweinezyklus indes nicht. Schuld ist vielmehr ein gravierender Systemfehler, den GEW-Chefin Tepe sehr treffend in diese Bemerkung fasste: Man dürfe nicht aus den Augen verlieren, dass der von den Ländern gemeldete Bedarf „letztlich nichts anderes ist als die addierte Personalplanung der 16 Länder“. Weil diese vor allem durch haushälterische Zwänge geprägt ist, also dadurch, die Kosten zu drücken, geraten wie von Geisterhand auch die Prognosen zum Lehrerarbeitsmarkt optimistischer als geboten.

Dafür gibt es jetzt handfeste Anhaltspunkte. Wie der Hessische Rundfunk (HR) am Donnerstag berichtete, soll die KMK bei den Bedarfszahlen „getrickst“ und die tatsächliche Geburtenentwicklung grob unterschätzt haben. So lägen die Kultusminister mit ihren Zahlen „immer noch um 36.000 Schulkinder selbst unter der vorsichtigsten Schätzung des Statistischen Bundesamtes“, zitierte der Sender Bildungsforscher Zorn. Überdies präsentiere die KMK, anders als bisher, keine Berechnung über alle Schulformen hinweg. Laut Zorn habe sie die Vergleichbarkeit damit unmöglich gemacht.

Dass ihre Fernsicht durch kurzfristige Erwägungen getrübt ist, räumt die KMK in den Ausführungen ihrer Vorausberechnungen sehr freimütig ein: „Politische Entwicklungen beeinflussen maßgeblich die beiden Größen Angebot und Bedarf.“ Noch tiefer lässt diese Aussage blicken: „Auch die Rahmenbedingungen der Modelle befinden sich oft in einem Wandel, der sich durch unterschiedliche, jeweils landeseigene Beschlüsse oder Entwicklungen im Bereich Bildung (wie z. B. Senkung der Klassenhöchststärke, Inanspruchnahme von Altersteilzeiten, vorzeitiges Ausscheiden der Lehrkräfte vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Schuldienst, Befristung von Arbeitsverträgen, Entwicklung des Anteils von Teilzeitbeschäftigung, Veränderung des Regelstundenmaßes der Lehrkräfte, Ausbau der Ganztagsschulangebote oder Einführung des achtjährigen Gymnasiums bzw. die Rückumstellung auf das neunjährige Gymnasium) manifestieren kann.“

Geld vor Qualität

Dieser Satz hat es in sich. Im Grunde besagt er nichts weniger, als dass man auf die sogenannte Bedarfsprognose nichts geben sollte, weil jedes Land seine Zahlen unter jeweils spezifischen Umständen und nach politischem Gusto ganz exklusiv eruiert. Wegen der daraus folgenden fehlenden Vergleichbarkeit müsste es sich eigentlich verbieten, sie in einen Topf zu werfen und in einer bundesweiten Statistik zu verwursten. Wo von Land zu Land differierende und beliebig veränderbare Festlegungen über eine „auskömmliche Unterrichtsversorgung“ existieren, leiten sich immer auch unterschiedliche Erforderlichkeiten in puncto Personalausstattung ab. Und wenn etwas mal nicht passt, wird es halt passend gemacht. Wie jetzt in Bayern, das seine Lehrer an die Kandare nimmt, um so den Bedarf an Neueinstellungen zu schmälern. Wäre hingegen ein Höchstmaß an Qualität handlungsweisend bei der Ausstattung der Schulen – etwa in Gestalt kleinerer Klassengrößen und reduzierter Pflichtstunden – und gäbe es dazu verbindliche bundeseinheitliche Standards, ergäbe sich unabdingbar ein viel höherer Personalbedarf, als er derzeit in irgendeinem der 16 Bundesländer beziffert ist.

Unter den Bedingungen des Bildungsföderalismus bleibt das ein frommer Wunsch. Statt Einheitlichkeit und Regulierung herrschen Chaos, Zwietracht und das Recht des Stärkeren. Im Kampf um die rar gewordenen und kommende Pädagogen liefern sich die Kultusminister seit Jahren einen grotesken Überbietungswettbewerb an aktionistischen Schnell- und Fehlschüssen.
Ein Hebel ist dabei das liebe Geld. Etliche Bundesländer bieten voll ausgebildeten Grundschulpädagogen inzwischen ein Einstiegsgehalt der Entgeltstufe A 13 oder haben diese Änderung angekündigt. Natürlich ist es erfreulich und vom Grundsatz her richtig, wenn Lehrer besser bezahlt werden. Angesichts der gestiegenen Anforderungen, größeren Belastungen und der vielen neuen Aufgaben, die im Schuldienst zu leisten sind, war dieser Schritt lange überfällig.

Abwerbungsschlacht

Gleiches gilt für das Vorgehen, den Beruf durch Verbeamtung aufzuwerten. Vielerorts war diese Praxis über Jahre wegen „Sparzwängen“ ausgesetzt worden. Inzwischen gibt es mit Berlin nur noch ein einziges Land, das seine Pädagogen mit einer Anstellung abspeist. Weitere Instrumente im der Abwerbungsschlacht sind Sonderzahlungen für Referendare oder Anreize, in der Provinz zu unterrichten. Bliebe es bei der Marschrichtung, den lange unter Wert verkauften und mit üblen Kampagnen überzogenen Berufszweig besserzustellen, wäre das sicher auch ein probates Mittel, langfristig mehr junge Leute dafür zu gewinnen. Um akute Versorgungsengpässe zu beheben, hilft dies aber bestenfalls punktuell weiter und begünstigt in erster Linie Wanderungsbewegungen von einem ins andere Land. Wo an einer Stelle die ärgsten Nöte gelindert werden, reißen an anderer neue oder noch größere Löcher auf.

Vollends absurd ist es, wenn den vorhandenen Pädagogen die Zähne gezeigt und sie zu Mehrarbeit verdonnert werden. Der Krankenstand und die Zahl der Burnout-Ausfälle ist unter Pädagogen schon heute immens hoch. Außerdem arbeiten nach einer GEW-Studie von vor zwei Jahren Lehrkräfte während der Schulzeiten mit im Schnitt über 48 Stunden pro Woche mehr als alle anderen Berufsgruppen im öffentlichen Dienst. Die Herausforderungen im Schuldienst sind enorm gestiegen. Immer mehr Schüler fallen mit sozialen, kognitiven, sprachlichen, Bewegungs- und Verhaltensstörungen als Folge von Vernachlässigung im Elternhaus oder übermäßigem Medienkonsum auf. Und während es in großer Zahl an Schulsozialarbeitern und -psychologen fehlt, bekommen die Lehrkräfte immer neue Aufgaben aufgeladen, sei es die Flüchtlingsintegration oder die Digitalisierung. Unter diesen Umständen die Pflichtstunden zu erhöhen, ist ein Angriff auf die Gesundheit des Lehrkörpers und eine sichere Bank, die Krise weiter zu befeuern.

Schluss mit Fehlsteuerung

Was es stattdessen bräuchte, ist Steuerung. Zum Beispiel müsste man mit der auf Schularten zugeschnittenen Lehrerausbildung Schluss machen. So setzt sich die GEW für eine auf Altersstufen ausgerichtete Ausbildung sowie das gleiche Einstiegsgehalt für alle Lehrkräfte ein, unabhängig von der Art der Schule, an der sie unterrichten. Damit könnte der Trend durchbrochen werden, dass zu viele junge Menschen ins Gymnasium streben, während in anderen Schulformen haufenweise Bewerber fehlen. Das Fernziel der Bildungsgewerkschaft ist die Überwindung der Zergliederung, also ein inklusives Schulsystem im Sinne einer „Schule für alle“, womit die unterschiedliche Ausbildung und Bezahlung nach Schulformen zum „Anachronismus“ werde und „Mängel und Überhänge viel besser ausgeglichen werden“ könnten. Der Deutsche Lehrerverband plädiert daneben für eine zielgerichtete Lehrerbedarfsanalyse. Studenten müssten schon „zu Beginn ihres Studiums wissen, mit welcher Fächerkombination sie gute Chancen auf eine Festanstellung haben“. Nur dann könne man gezielt Werbung machen für das jeweilige Fach.

Kurzfristig müssten dringend Maßnahmen ergriffen werden, den vielen Quer- und Seiteneinsteigern in ihrem und im Interesse der Schüler ein wenigstens grundlegendes pädagogisches Rüstzeug in mehrwöchigen Schulungen an die Hand zu geben. Nicht selten werden die Neulinge direkt ins kalte Wasser geworfen oder nach einwöchigem Training sich selbst überlassen. Wie es momentan läuft, produziert man heute die Burnout-Patienten von morgen. Das können sich auch die Kultus- und Landesfinanzminister nicht leisten. Denn natürlich setzen sie auf einen dauerhaften Verbleib der Lückenfüller im System, weil sich so die Nachfrage nach echten Pädagogen dezimiert – und wiederum kleinerrechnen lässt.

Bei der KMK liest sich das so: „Stellt man den Lehrereinstellungsbedarf (LEB) und das Lehrkräfteneuangebot (LEA) einander gegenüber, so ist zu beachten, dass eine Saldierung keine Rückschlüsse auf die Lehrerversorgung – insbesondere auf Lehrermangel – zulässt, da unberücksichtigt bleibt, welche Maßnahmen die Länder treffen, um den festgestellten Bedarf an Lehrkräften zu decken (…).“ Nach dieser Logik bestünde selbst in Kollegien mit 100 Prozent Laienpädagogen kein Lehrermangel. Derlei Rabulistik lässt Schlimmstes für die Zukunft erahnen.

Solange jedes einzelne Bundesland sein eigenes Ding macht, solange Schul- und Bildungspolitik Ländersache bleibt und wie praktisch sämtliche Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge unter dem Kürzungsgebot einer auf Entstaatlichung und Betriebswirtschaftlichung eingeschworenen neoliberalen Agenda mit „Schuldenbremse“ und „schwarzer Null“ stehen, bleiben Unordnung und Konkurrenz die bestimmenden Größen. Könnte die Politik zum Beispiel nur dahin kommen, sich auf eine bundeseinheitliche Vorgabe zu einigen, was unter „guter Unterrichtsversorgung“ zu verstehen ist oder wie viele Schüler eine Lehrkraft maximal betreuen sollte, wäre schon vieles gewonnen. Das allerdings kostet Geld. Unsere Kinder sollten es uns wert sein.

Titelbild: Halfpoint/shutterstock.com


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