Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Aus Anlass der kommenden Manöver im Osten Europas und zum besseren Verständnis der Sorgen, die mit der imperialen Gewalt der USA wachsen, erinnern wir an den Brief eines tschechischen Oberstleutnants
Datum: 8. Januar 2020 um 16:35 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Aufrüstung
Verantwortlich: Albrecht Müller
Der Brief an den Kommandierenden der amerikanischen Truppen, die Ende März 2015 von Deutschland aus in die baltischen Staaten und wieder zurück verlegt wurden, ist bekannt. Aber viele Leser werden sich nicht mehr daran erinnern. Der Brief ist sehr gut und immer noch aktuell. Deshalb erinnern wir daran. Marek Obrtel hatte in der tschechischen Armee und bei der NATO gedient. Sein Brief wurde in westlichen Kreisen nicht gemocht und schon gar nicht gewürdigt. Auch deshalb erinnern wir daran. Bitte weiterverbreiten! Zu den aktuellen Manövern 2020 siehe hier. Albrecht Müller.
Hier auch noch eine Word-Fassung des Briefes:
Brief des Oberstleutnants der Reserve der Tschechischen Armee, MUDR. Marek Obrtel, vom 31.3.2015.
Er wurde dem Kommandierenden der amerikanischen Truppen, die vom 29.3. bis 1.4.2015 nach den NATO-Manövern in den baltischen NATO-Staaten durch Tschechien in ihre Kasernen nach Bayern zurückgeführt wurden, übergeben:
Sehr geehrter Herr, ich möchte Ihnen auf diesem Wege meinen offenen Brief übergeben, in dem ich meine Meinung zum Sinn, zur Legitimität und Nützlichkeit des Durchzugs des amerikanischen Konvois über das Territorium der Tschechischen Republik, zum Ausdruck bringe.
Sie kommen als bewaffnete Soldaten eines fremden Staates in einer außerordentlich gespannten internationalen Situation in unser Land, einige Tage bevor wir des 70. Jahrestages der Befreiung unseres Landes vom Faschismus und des Endes des II. Weltkrieges gedenken werden. Sie kommen in einer Zeit, wo in der Welt, in Europa und ganz offen in der Ukraine, aber auch in einigen weiteren z.B. den baltischen Staaten, wieder faschistische Fackeln entflammt sind und die Unterstützung des Faschismus ganz deutlich auch aus den Äußerungen von Spitzenpolitikern dieser Länder zu hören ist.
Heute stehe ich noch nicht mit Transparenten auf der Straße, die Sie zur Rückkehr nach Hause auffordern oder Sie Okkupanten nennen. Ich werfe noch keine Tomaten oder Eier. Weil ich denken möchte, dass das einzige ist, was Sie auf eigenen Kurs in die Tschechische Republik geführt hat, sich in diesen Tagen des Gedenkens an die mehr als 25 Millionen russischer und sowjetischer Opfer, an die 420 000 amerikanischer Opfer und an die vielen Millionen anderer Opfer des II. Weltkrieges vor ihnen zu verneigen. So eine Tat ihrerseits würde ich trotz allem für höchst edel halten, obwohl Ihre Teilnahme, nach dem Sie schnell und ohne jegliche Probleme ihre Technik vom Baltikum nach Deutschland mit Sonderzügen gebracht hätten, in Paradeuniform und ohne Waffen viel beeindruckender wäre.
Ich muss Ihnen jedoch aufrichtig sagen, dass sehr viele Bürger unseres Landes Ihre Durchzug durch die Tschechische Republik nicht in dieser Form sehen. Sie sehen in ihm wirklich eher eine Demonstration der Stärke und des Bestrebens, uns daran zu erinnern, „wer hier der Herr ist“. Und darüber müssen Sie sich nicht wundern. Ihr Land – also die USA – haben seit dem Ende des II. Weltkrieges Dutzende überwiegend künstlich hervorgerufene militärische Konflikte, und in deren Folge Millionen Tote, überwiegend unschuldige Zivilisten, einschließlich Kinder, auf dem Gewissen. Es war eine hohe Repräsentantin der Präsidialverwaltung der USA, die auf die Frage, ob es nötig war, eine halbe Million irakischer Kinder zu ermorden, nach einer kurzen Pause sagte – ich glaube dass es dieses Opfers wert war… Bis heute sind wir mit dem Schicksal Serbiens konfrontiert, mehr als 2000 serbische Opfer der amerikanischen Bombardierungen, wieder einschließlich Kinder. Noch viele Jahre werden die Menschen – nicht nur in Serbien – an Krankheiten leiden, die durch die Wirkungen des angereicherten Urans in Tausenden Ihrer Bomben hervorgerufen wurden, die auf Jugoslawien aber überflüssigerweise auch in die Adria gefallen sind, wo sie eine große Unbekannte sind. In der Tschechischen Republik und in Europa haben wir große Probleme mit der Immigration von Menschen aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie aus Afrika, die die USA mit ihrer imperialistischen Außenpolitik völlig vernichtet haben. Das Territorium ehemals normal funktionierender Staaten mit einer kompletten Infrastruktur ist jetzt „verbrannte Erde“. Dort haben Sie beim Entstehen solcher Organisationen wie z.B. dem Islamischen Staat oder früher Al Kaida, Ihren ehemaligen Verbündeten, geholfen.
Seit 2000 hat Ihr Land grundlos mindestens sechs Länder militärisch angegriffen, von denen in nicht einem weder die proklamierte Freiheit und Demokratie, noch die konsequente Einhaltung der Menschenrechte, erreicht wurden. Die Menschen fragen sich zu Recht: „Wer ist hier also der Weltaggressor? Russland, von dem man in diesem Sinne spricht und das auf der ganzen Welt zwei Basen zum Schutz gegen den islamischen Fundamentalismus hat…, oder ist es nicht gerade Ihr Land mit 700 Basen auf der ganzen Welt und mit der o.g. Vergangenheit? Ist es Russland, das von allen Seiten von NATO-Soldaten eingekreist, provoziert und gezwungen ist, sich vor der Aggression der USA zu schützen oder ist es Ihr Land, dass sich bemüht, seine inneren Probleme um jeden Preis auf Kosten Russlands und Europas zu lösen?
Ich weiß, Sie sind Soldaten und erfüllen nur die Befehle Ihrer Kommandierenden und diese dann wieder die ihrer und dann der höchsten… Aber diese Höchsten realisieren den Willen der obersten Politiker der USA und besonders jener Hand voll Finanzmagnaten, die die Politik der USA zu ihrem Vorteil gestalten. Und diese Politik ist oft sehr abartig. Sie sind nur die Ausführenden, oftmals sehr unbelehrbar und zweckgerichtet manipuliert. Davon konnte ich mich mit eigenen Augen oft überzeugen, in Afghanistan, in Bagram und auch im Kosovo auf der Basis in Bondsteel, wo ich viel Zeit mit Diskussionen mit amerikanischen Soldaten verbracht habe. Viele von ihnen wussten nicht einmal, wo Länder wie die „Tschechoslowakei“, Ungarn, Polen oder sogar Österreich liegen. Sie wussten, das ist Deutschland und dann gibt es noch Russland. Gar nicht davon zu reden, dass sie die Geschichte und das Wesen der Konflikte z.B. in Serbien, Kosovo und Herzegowina kannten. Oder jetzt in der Ukraine. Aber Sie müssen wissen, dass wir dieses Europa sind, unser Land liegt in Europa, hier leben unsere Kinder und hier haben wir unsere Heimat und unsere Interessen. Die überwiegende Mehrheit unserer Menschen fühlt sich nicht von Russland bedroht. Dafür gibt es keinen logischen Grund, nur demagogische Aufschreie unserer korrumpierten Politiker und von Teilen der Öffentlichkeit. Die Menschen fürchten sich vor kriegerischen Konflikten gerade Ihres Landes mit Russland hier auf dem Territorium Europas, außerhalb Ihres Territoriums und für Ihre Interessen. So wie es bisher immer gewesen ist mit Ausnahme einer kurzen Zeit am Ende des II. Weltkrieges, dessen Jahrestages wir gerade jetzt bald gedenken werden.
Ich bemühe mich sogar, Sie zu verstehen. Ich war auch Soldat, Militärarzt, Oberstleutnant der Reserve. Während meines 25-jährigen Militärdienstes war ich in obersten Funktionen der Tschechischen Armee tätig. Ich war in vielen prestigeträchtigen internationalen Teams eingesetzt, z.B. im Rahmen der Partnership for peace, dann später in der NATO. Ich war Befehlshaber im ehemaligen Kontingent der Tschechischen Armee, Chef des 11. Feldlazaretts in Afghanistan und medizinischer Berater des Befehlshabers der multinationalen Brigade im Kosovo. Als ich jedoch festgestellt und mich davon überzeugt hatte, welche Rolle die NATO spielt und wozu diese Organisation gerade den USA dient, wie sie die NATO zum Wohle der Durchsetzung eigener Machtinteressen missbrauchen, wieviel Blut unschuldiger Menschen die NATO an ihren Händen hat, habe ich beschlossen, eine vielversprechende militärische Karriere aufzugeben und die Armee zu verlassen. Als jedoch der zielgerichtete Konflikt in der Ukraine eskalierte, der dem im Kosovo wie eine Kopie ähnelt mit dem Unterschied, dass wir dem Kosovo seine Selbständigkeit sehr schnell und problemlos zuerkannt haben, was in der Ostukraine ein unlösbares Problem darstellt, habe ich auch aus diesem Grund beschlossen, alle meine Kriegsauszeichnungen aus den Operationen der NATO zurückzugeben und diese Organisation als verbrecherisch zu bezeichnen.
Ich verstehe Sie, Sie sind Soldaten und haben Ihre Informationen und sind überzeugt, dass Sie eine gute Arbeit machen, wie ich einst auch. Aber ebenso wie mir einst ein hoher Offizier der US Army aus der Gruppe PSYOPS sagte, als ich meine Zweifel über die Richtigkeit seines Handelns äußerte: „You must think out of box“, bemühte ich mich vergeblich darum, aber trotzdem sage ich Ihnen jetzt. “Think out of box, please…“ sonst werden Sie am Ende Ihres Lebens an Depressionen und Vorwürfen Ihres Gewissens leiden. Ich bin Arzt und weiß einiges über die menschliche Psyche. Ich weiß auch einiges darüber, wie es ist, auf der falschen Seite der Barrikade zu stehen, aber der Mensch hat immer eine Chance, sich zu entscheiden.
Sie fahren in diesen Tagen durch die Tschechische Republik, um die im II. Weltkrieg, dem schrecklichsten Krieg in der Geschichte der Menschheit, Gefallenen zu ehren. Ich möchte glauben, dass das so ist. Einige Menschen werden sie anschreien, sie beschimpfen und mit Tomaten bewerfen. Warum, das habe ich bereits aufgeschrieben. Es gibt hier jedoch auch Menschen, die Ihnen zuwinken und Sie mit Kindern auf Ihren Panzern fotografieren werden, was angenehm sein wird.
Ich kann Ihnen aber versprechen, wenn sie auf dem gleichen, ihnen gut vertrauten Weg einst zurück in den Osten, an die Berührungszone mit Russland, fahren werden, wo Ihr Land mit seiner aggressiven Politik einen globalen Konflikt verursachen wird, in dem es keinen Sieger geben muss, wird Ihnen niemand zuwinken.. In dieser Zeit werden auch die größten Dummköpfe und Hirnverbrannten begreifen, dass einen Krieg, noch dazu einen Krieg gegen Russland auf dem eigenen Territorium, auf der Grundlage einer zweifelhaften Ideologie und Demagogie zu führen, ein gotteslästerliches Verbrechen und eine zum Himmel schreiende Dummheit ist, aber dann wird es zu spät sein.
Sehr geehrter Herr, übergeben Sie bitte diese meine kleine Botschaft Ihren Soldaten, als Erfahrung eines Soldaten, der etwas durchgemacht hat, was viele Ihrer Untergebenen in ihrem Leben vielleicht noch erwartet. Unser aller Leben liegt in den Händen unersättlicher Magnaten und korrumpierter Politiker, aber den endgültigen Genozid an unseren Völkern führen wir selbst aus. Versuchen Sie wenigstens das zu bedenken. Wenn Ihnen das nicht gelingt, erinnern Sie sich wenigstens an meine Worte. Als Christen, für den ich auch mich halte, bleibt uns nur noch das Gebet, was auch überhaupt nicht schlecht ist. Hochachtungsvoll Oberstleutnant der Reserve MUDR Marek Obrtel.
Quelle: Halo noviny vom 1.4.2015
Übersetzung: Helga Katzschmann
Frau Katzschmann, der die Übersetzung zu verdanken ist, ist ausgebildete Bohemistin. Sie hat im Jahre 2013 die wiedergefundene Reportage von Julius Fucik: „Eine Reise nach München“ ins Deutsche übersetzt, die vom Verlag Wiljo Heinen herausgegeben wurde. Das ist die erste literarische Reportage über das Leben der Menschen im faschistischen Deutschland, geschrieben 1934 unmittelbar nach dem Röhm-Putsch. Sie erschien in der Zeitschrift für Kultur und Politik Tvorba.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=57511