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Titel: Frankreich im Streik

Datum: 23. Dezember 2019 um 14:30 Uhr
Rubrik: Gewerkschaften, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption, Rente, Verkehrspolitik
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Die Streiks gegen die von der Regierung Macron geplante Rentenreform gehen bald in die vierte Woche. Die Zustimmung der FranzösInnen zu den Aktionen aber bleibt trotz Beschwernissen ungebrochen hoch bei etwa zwei Dritteln. Und je länger die Streiks dauern, desto höher wird die Zustimmung. Von Marco Wenzel

Im Raum steht nun, wie es über die Weihnachtsfeiertage weitergehen soll. Die Regierung setzt alles daran, einen „Waffenstillstand“ bis Neujahr durchzusetzen. Die Gewerkschaften lehnen dies ab. Denn die Regierung hat ihre Pläne weder zurückgezogen, noch hat sie annehmbare Vorschläge für eine Rentenreform gemacht, die nicht zu Rentenkürzungen und zu einem höheren Renteneintrittsalter führen würden. Zudem befürchten die Gewerkschaften, dass eine Unterbrechung der Streiks es erschweren würde, die Bewegung nach dem ersten Januar wieder neu anzufachen.

Philippe erzürnt die Gewerkschaften

Wohin die Reise bei der anvisierten Rentenreform gehen soll, ist klar. Premier Philippe will, dass die Franzosen mehr arbeiten, und betont, das Rentensystem sei zu teuer. Die Zulagen des Staates bei den Rentenkassen liegen in der Tat bei derzeit 8 Milliarden € pro Jahr. Dieses müsste ausgeglichen werden, so Philippe. Beitragserhöhungen kommen jedoch nicht in Frage, die Arbeitgeber sähen das als „rote Linie“ an. Ein Ausgleich des Systems durch Beitragserhöhungen oder durch die Inanspruchnahme von Reservefonds sei mit ihnen nicht zu machen. Also können logischerweise nur die Ausgaben zu Lasten der Rentenempfänger gesenkt werden.

Premierminister Philippe präsentierte am vergangenen Mittwoch den Gewerkschaften seine Reformvorschläge. Bis dahin waren die Absichten der Regierung nur scheibchenweise durchgedrungen, hatten aber bereits ausreichend für Empörung gesorgt und erste Streiks und Demonstrationen ausgelöst. Tags vorher, am Dienstag, hatten die Gewerkschaften nochmals zu Streiks und Demonstrationen als Warnung an Macron und Philippe aufgerufen.

Philippe versuchte, die Gewerkschaften von seinen Plänen zu überzeugen. Für ihn würden bei der Rentenreform alle gewinnen. Wie aber soll das gehen, wenn die Ausgaben gekürzt werden? Philippe präsentierte ein paar Fälle, in denen einzelne Rentner besser wegkommen würden, jedoch nur theoretische Einzelfälle, die auf kaum eine FranzösIn zutreffen dürften. Man mag es schönreden, wie man will, geplant sind Rentenkürzungen und keine Verbesserungen. Das ist und bleibt die Quintessenz der geplanten Reform.

Um die Defizite der Rentenkassen auszugleichen, soll nun ein „Gleichgewichtsalter“ von 64 Jahren für den Renteneintritt eingeführt werden. Daran, so Philippe, sei nicht zu rütteln. Dieser Punkt sorgte am meisten für Empörung bei den Gewerkschaften. Gerade die CFDT hatte sich genau bei diesem Punkt Entgegenkommen erwartet.

Reaktion der Gewerkschaften und Mobilisierung nach der Präsentation von Philippe

Philippe konnte die Gewerkschaften nicht überzeugen. Sie beschlossen, den Streik und die Proteste auszuweiten. Die größte Bahn-Gewerkschaft CGT-Cheminots rief dazu auf, „den Streik zu verschärfen“, die vorgestellten Pläne entsprächen nicht den Erwartungen der Bahn-Mitarbeiter.

Auch die meisten anderen Gewerkschaften riefen zu einer verstärkten Mobilisierung auf. „Alle werden länger arbeiten, das ist inakzeptabel“, sagte Philippe Martinez, Generalsekretär der CGT, am Mittwoch. Laurent Berger, Chef der CFDT, sprach von einer roten Linie, die überschritten worden sei, und beteiligte sich an einem neuen Streikaufruf.

Für die beiden darauffolgenden Tage wurden neue Verhandlungen einberufen. Erst traf sich die Regierung am Donnerstag mit den Gewerkschaften einzeln, für Freitag war dann ein gemeinsames Treffen mit allen Beteiligten einberufen. Auch diese Gespräche verliefen ergebnislos, da die Regierung in den entscheidenden Punkten nicht nachgeben wollte.

Die Regierung versuchte in den Verhandlungen einen Cocktail aus vielen verschiedenen Maßnahmen ihrer Reform zu mixen, um ihre Reformpläne doch noch durchzubringen. Ein Cocktail, der zwar keinem richtig schmecken würde, den aber alle trinken müssten, wenn sie nicht alleine dastehen wollen. Das Wichtigste für die Regierung ist, dass Rentenkürzungen am Ende dabei herauskommen und dass erst einmal wieder Ruhe auf Frankreichs Straßen einkehrt. Dann kann man ja die nächsten Schritte planen, um das Projekt doch noch zu vollenden.

Philippe Martinez dagegen sagte nach dem Treffen: „Nichts Konkretes (…) Der Premierminister hat die Straße nicht verstanden.“ Insgesamt war die Antwort auf die Anliegen der Gewerkschaften ein klares Nein: Die Reform wird beibehalten und die Arbeitnehmer müssen ab 2022 mehr arbeiten, um eine volle Rente zu erhalten. Trotzdem erklärte die Unsa-SNCF, die zweitstärkste Gewerkschaft bei den Eisenbahnern, nach den Gesprächen einen „Waffenstillstand“ bis nach den Ferien.

Das Gleichgewichtsalter und die Rentenpunkte

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters soll mit einem Trick erfolgen: Die Rentenpläne sehen vor, dass die FranzösInnen künftig erst mit 64 Jahren (gepaart mit einer Erhöhung der Beitragsjahre von 41,5 auf 43 Jahre) Anspruch auf volle Bezüge haben werden. Das legale Renteneintrittsalter von 62 Jahren soll aber bestehen bleiben, die volle Rente sollen Arbeitnehmer aber erst mit 64 Jahren erhalten. Wer schon mit 62 in Rente gehen will, muss Abschläge in Kauf nehmen. Wer später als mit 64 in Rente geht, erhält dafür Bonuspunkte und eine höhere Rente als die Gleichgewichtsrente.

Minimale Abstriche von den ursprünglichen Plänen machte Philippe nur, indem er zugestand, das neue System werde erst später als geplant in Kraft treten, nämlich für Arbeitnehmer, die ab 1975 geboren wurden, statt wie ursprünglich vorgesehen ab 1963.

In Wahrheit jedoch gehen die FranzösInnen bereits jetzt von selber immer später in Rente. Infolge der vergangenen „Reformen“ ist das Leben für die normalen ArbeiterInnen teurer geworden. Viele hängen noch ein paar Monate oder Jahre dran, weil sie sich sonst von ihrer Rente nicht den gewünschten Lebensstandard leisten könnten. Jetzt soll das Renteneintrittsalter zusätzlich noch mit einem Trick für alle heraufgesetzt werden.

Aber das Gleichgewichtsalter ist bei Weitem nicht der einzige Streitpunkt, wie die NachDenkSeiten bereits hier berichteten, auch wenn es oft in den deutschen Medien so dargestellt wird. Für Unmut sorgt vor allem noch der Plan, den Auszahlungsbetrag der Renten an ein Punktesystem zu binden. Die Beschäftigten sollen dann in ihrer Berufslaufbahn Punkte sammeln, deren Wert jedes Jahr erneut von einer Kommission festgelegt wird. Der monetäre Wert dieser Punkte ist demnach nicht festgelegt und kann sich im Laufe der Zeit beliebig ändern. Das System erlaubt es somit, jedes Jahr den Wert der Punkte zu verringern und damit das Rentenniveau zu senken.

Gewinner …

Der Finanzsektor würde von Rentenkürzungen am meisten profitieren. Denn wenn die Menschen wissen, dass ihre spätere Rente nicht zu einem auskömmlichen Lebensabend reicht, werden viele versucht sein, eine zusätzliche private Rentenversicherung abzuschließen. Wenn dann später, wie in Deutschland, noch staatliche Zuschüsse und Steuervergünstigungen für die abgeschlossenen privaten Rentenverträge hinzukommen, ist die Umverteilung perfekt. Die Versicherungskonzerne und andere Spieler im Casino des Finanzkapitals können sich auf frisches Geld und neue Profite freuen. Durch die Rentenkürzungen würden Milliarden Euro in den Finanzsektor und an die Banken fließen.

Wie jetzt bekannt wurde, hatte zudem der US-Finanzgigant Black Rock der Regierung „Reformen“ für das Rentensystem nahegelegt und dazu auch schon eine Broschüre verfasst. Für solche Pläne dürfte der ehemalige Investmentbanker Macron leicht zu gewinnen gewesen sein. Und auch sein Hochkommissar für die Rentenreform, der inzwischen geschasste Delevoye bezog ein Gehalt als Vorsitzender im Versicherungswesen, davon weiter unten mehr.

… und Verlierer der Reform

Verlierer sind die Beschäftigten und die Realwirtschaft, denn die der Realwirtschaft entzogene Kaufkraft wird die Binnennachfrage schwächen.

Besonders hart treffen wird es wahrscheinlich die LehrerInnen, ihrer Ansicht nach versucht die Regierung über die Rentenreform auch eine Totalrevision des Lehrerberufes durchzusetzen. Aber auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, Feuerwehrleute, Krankenhauspersonal usw.: Erhöhung des Renteneintrittsalters, Rente nach Entgeltpunkten, alle Beschäftigten werden verlieren. Wer wegen Pflege, Arbeitslosigkeit oder Geburt weniger Punkte sammelt, bekommt auch weniger Rente, besonders schlimm für Beschäftigte im Niedriglohnsektor, ihre Punkte bringen am wenigsten ein.

Zu den Hauptverliererinnen der „Reform“ werden auch die Frauen zählen, dies aufgrund von größeren Lücken in den Erwerbsbiographien infolge häufigeren Unterbrechungszeiten, meist nach der Geburt von Kindern, sowie durch schlecht entlohnte Teilzeitarbeit und wenige qualifizierte Arbeitsplätze.

Ein „sexistisches, ungerechtes und diskriminierendes“ Regierungsprojekt, so ein Abgeordneter der Opposition. Deswegen gibt es auch eine gemeinsame Kampagne von Frauenrechtsgruppen zu den geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Reform.

Die bestehenden Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern werden mit der Reform noch zunehmen. Laut Caroline De Haas vom Kollektiv „Nous Toutes“ erhalten bereits jetzt 37% der Rentnerinnen weniger als 900 Euro. „Diese Reform wird die finanzielle Unsicherheit erhöhen und die Autonomie der Frauen verringern, mit all der damit verbundenen Abhängigkeit vom Ehemann oder Partner“, betonte sie.

Die Architekten des Gesetzes

Am 3. September 2019, fast zwei Jahre nach seiner Ernennung zum Hochkommissar für die Rentenreform, wurde Jean-Paul Delevoye Mitglied der Regierung und der Gesundheitsministerin unterstellt.

Angesichts der Kontroverse über die Unvereinbarkeit zwischen seiner Regierungsbeteiligung und seiner privaten Berufstätigkeit sowie der Tatsache, dass er der Hohen Behörde für Transparenz im öffentlichen Leben (HATVP) zehn von dreizehn Mandaten, die er inne hatte, verheimlicht hat, reichte Delevoye am 16. Dezember 2019 seinen Rücktritt ein. Es besteht der Verdacht auf Interessenkonflikte mit privaten Versicherungsgesellschaften, die ja ein direktes Interesse an Rentenkürzungen haben, wo er als „Ehrenvorsitzender“ ein Gehalt von monatlich 5.300 € erhielt. Einem Regierungsmitglied ist das verboten und er hätte es der HATVP melden müssen. Aber es bestand noch ein weiterer von ihm verschwiegener Interessenkonflikt mit der SNCF, wo er ehrenamtlich in einer Stiftung der Eisenbahngesellschaft tätig war. Gewerkschaften und Opposition warfen Delevoye daher auch illegale Ämterhäufung und Interessenkonflikte vor.

Die HATVP hat inzwischen die Staatsanwaltschaft mit dem Fall betraut. Die HATVP „ist der Ansicht, dass die Auslassungen in der ursprünglichen Erklärung von Delevoye aufgrund ihrer Anzahl, der Art bestimmter ausgelassener Interessen und des Potenzials für einen Interessenkonflikt mit seinen Regierungsaufgaben geeignet sind, die wesentliche Auslassung einiger seiner Interessen als Straftat zu charakterisieren“.

Der Rücktritt des Hauptarchitekten der Rentenreform, inmitten der Proteste gegen eben diese, ist ein schwerer Schlag für die Regierung und für ihre Reformabsichten. Dies umso mehr, als Macron zu Beginn seiner Amtszeit mehr Transparenz und die Bekämpfung der Korruption angesagt hatte.

So musste angesichts der aktuellen Ereignisse schnell Ersatz gefunden werden und der wurde auch gefunden: eine weitere illustre Gestalt namens Laurent Pietraszewski, neuer Staatssekretär für die Renten. Als „Macronist“ der ersten Stunde wurde Pietraszewski im Juni 2017 zum Abgeordneten gewählt. Er war Berichterstatter im Parlament für den Gesetzentwurf zur Reform des Arbeitsgesetzes, Sprecher der LREM-Fraktion und Koordinator der LREM-Gruppe im Sozialausschuss. Am 17. Dezember 2019 wurde er zum Staatssekretär ernannt, um das Projekt der Rentenreform zu leiten und Delevoye zu ersetzen.

Bis zu seiner Wahl ins Parlament war Pietraszewski Personalchef bei Auchan. Die Supermarktkette genießt unter französischen Gewerkschaftlern einen ähnlich zweifelhaften Ruf wie Lidl in Deutschland. Nach Berichten der Zeitung „L‘Humanité“ wurde im Jahr 2002 auf Pietraszewskis Veranlassung hin eine CFDT-Kollegin, damals verantwortlich für die Personalabteilung des Hypermarktes Béthune im Pas-de-Calais, von der Unternehmensleitung wegen „eines Bestellfehlers von 80 Cent und eines verbrannten Schokoladenbrotes, das einer Person gegeben wurde“ entlassen. Die Frau war gewerkschaftlich sehr aktiv. Da gegen sie Anzeige erstattet worden war, wurde sie wegen des Vorfalls von der Polizei verhört und in Gewahrsam genommen. Die KollegInnen vor Ort organisierten Proteste gegen die Entlassung der Vertrauensfrau, sie sprachen von einer Hexenjagd und nannten Pietraszewski einen „Karrieristen“ und einen „Heuchler“, der Mann, der „um jeden Preis feuerte“. Pietraszewski zeichnete sich jedenfalls stets als zuverlässiger Diener seines Herrn aus, ein Mann, der skrupellos die Interessen der Arbeitgeber verteidigte. Die CFDT jedenfalls hat noch eine Rechnung mit ihm offenstehen. Seinen Dienst im Interesse der französischen Bourgeoisie setzt er jetzt als Staatssekretär unter Macron fort. Wetten, dass der nächste Skandal schon vor der Tür steht?

Das Ausscheren der Unsa

Die Unsa ist ein Zusammenschluss verschiedener autonomer Gewerkschaften in Frankreich. Deren Generalsekretär ist zurzeit Laurent Escure. Die Unsa-Eisenbahner vertritt etwa 7,5% der Fahrer und Kontrolleure. Sie ist nach der CGT die zweitstärkste Gewerkschaft bei der SNCF.

Am Donnerstag, nach Ende der Verhandlungen, rief Escure, ohne die Basis zu konsultieren und ohne eine Abstimmung zu organisieren, die streikenden Eisenbahner zur Rückkehr an ihren Arbeitsplatz auf und beschwor damit einen „Waffenstillstand“ während der Feiertage herauf. Escure erklärte, dass er sich zu dieser Pause entschlossen habe, nachdem die Regierung „zum ersten Mal bemerkenswerte Fortschritte vorschlägt“. Das sehen die anderen Gewerkschaften nicht so, von Fortschritten kann keine Rede sein. Die CGT meinte sogar, das einzig konkrete Ergebnis sei die Feststellung, der Premier habe „die Straße nicht verstanden“. Philippe hatte als „Kompromiss“ eine „Großvater-Regelung“ angeboten, nach der die Rentenreform für verschiedene Berufsgruppen, darunter die Eisenbahner, nur für Beschäftigte angewendet werden sollte, die nach 1975 geboren sind.

Die Basis der Unsa rebelliert gegen diese Entscheidung ihres Vorsitzenden. Trotz des Aufrufs ihrer Führung zu einem Waffenstillstand fordern mehr als 15 Unsa-Sektionen die Fortsetzung der Bewegung. Die meisten betrachten es als Verrat, denn das Mandat von der Straße und den Streikenden ist klar: „Streiken, bis sie das Gesetz zurückziehen!“

„Unsa-cheminots repräsentiert nicht viele unter den Eisenbahnern, sie sind meistens Manager. Deshalb war es in ihrem Interesse, eine Einigung zu erzielen“, so die Meinung von vielen.

„Wir, die Militanten und Mitglieder vor Ort, weigern uns, den Führern nachzugeben, die versuchen, uns ihre Entscheidungen aufzuzwingen.“ Und weiter: „In einer Zeit, in der das Volk sich der Gefahr dieser Reform bewusst wird, können wir nicht aufgeben und den Kampf einstellen“, heißt es in einer Mitteilung der Streikenden. „Der Streik gehört den Streikenden und den Generalversammlungen. Der Waffenstillstand ist die Niederlage. Wir werden erst aufhören, wenn wir gewonnen haben! Die Unsa Nord-Pas-de-Calais ihrerseits drückt auf Facebook ihre Entschlossenheit aus, den Kampf ohne Pause fortzusetzen.“

„Sie mischen sich nicht unter die Basis. Wir sind die Basis, wir sind diejenigen mit der Macht. Sie werden nur wie Idioten aussehen, das ist alles“, so ein Delegierter am Freitag auf einer Versammlung von Mitgliedern der Unsa.

Der Wackelkandidat CFDT

Der nächste Wackelkandidat in der Gewerkschaftsfront dürfte Laurent Berger und seine CFDT sein. Aber Laurent Berger weiß auch, dass er sich und die CFDT zu sehr diskreditieren würde, wenn er zu schnell nachgibt.

Die CFDT fordert hauptsächlich die Rücknahme des Gleichgewichtsalters mit 64 Jahren, während der kämpferische Teil der französischen Gewerkschaften (unter ihnen die CGT, die linken Basisgewerkschaften SUD bzw. ihr Zusammenschluss Solidaires sowie der Verband der Gewerkschaften im Bildungssystem) die Rücknahme der gesamten Reform fordert.

Seitdem die CFDT das Gleichgewichtsalter von 64 Jahren zu ihrer „roten Linie“ gemacht hat, ist allen in der Regierung klar geworden, dass dies der Schwerpunkt der Diskussion mit CFDT-Generalsekretär Laurent Berger sein sollte. Nach der Präsentation der Rentenpläne von Philippe und der abweisenden Reaktion darauf von Laurent Berger wurde die Frage: „Wie bekommen wir das CFDT zurück?“ zur Hauptsorge der Regierungsvertreter. Und Macron signalisiert auch schon Gesprächsbereitschaft.

Ein weiterer Bruch der gemeinsamen Streikfront durch einen möglichen Frontenwechsel der CFDT steht also zu befürchten, jedenfalls dann, wenn das Regierungslager sich in den kommenden Verhandlungen ausreichend entgegenkommend ihr gegenüber verhält, damit die CFDT-Spitze sich auf einen „Kompromiss“ einlassen kann. Wahrscheinlich plant sie längst ihren Ausstieg aus der gemeinsamen Streik- und Protestfront, kann es sich aber nicht leisten, ihr Gesicht zu verlieren. Die meisten der Streikenden stehen jedoch auf der Seite der CGT und der SUD-Gewerkschaften.

Die Strategie der Regierung

Die Regierung Macron steht mit dem Rücken zur Wand angesichts einer geeinten Front, die sich ihrer Reform ganz oder teilweise widersetzt. Und vielen Menschen geht um mehr als nur um die Rentenreform. Um die Streiks zu beenden, setzt die Regierung auf vier Pfeiler. Verhandlungen, Spaltung, Repression und Erpressung.

Macron ist dem Élysée-Palast zufolge zwar zu Zugeständnissen bereit, allerdings werde er sein zentrales Reformvorhaben „weder aufgeben noch verfälschen“. Man könne aber die Pläne noch „nachzubessern“. Die Verhandlungen sind bis jetzt, wie wir weiter oben gesehen haben, wenig erfolgreich geblieben. Und auch die Gewerkschaftsfront ist bis jetzt, mit Ausnahme der Unsa, nicht auseinandergebrochen. Die Regierung hofft darauf, die CFDT auf ihre Seite zu bekommen und der Autor dieser Zeilen würde seine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass ihr das nicht bald gelingen wird.

Als drittes Mittel setzt die Regierung, wie immer bei Protesten, auf Polizeigewalt. Bereits gegen die Gelbwesten ist die Polizei regelmäßig mit äußerster Brutalität vorgegangen (zur Polizeigewalt lesen Sie auch: Ein Jahr Protest der gelben Westen in Frankreich. Was nun? sowie Mit brutaler Gewalt wird der Klassenkampf von oben gewonnen. Das ist absehbar.).

In Paris kam es insbesondere am Dienstag wieder zu Konfrontationen zwischen DemonstrantInnen und Polizisten. Die Polizei ging mit heftiger Gewalt gegen die DemonstrantInnen vor. Vor allem um den Platz der Republik gab es Polizeikontrollen, bei denen auch JournalistInnen durchsucht wurden. Das Militär ist ebenfalls vor Ort. Viele Menschen nehmen aus Angst nicht an den Demonstrationen teil. Berichte in den Medien und erschreckende Bilder von Menschen, die bei den Protestaktionen der Gelbwesten schwere Verletzungen durch Gummigeschosse und Blendgranaten erlitten hatten, ein Auge oder Gliedmaßen verloren haben, wirken abschreckend. Manche Demonstranten und sogar unbeteiligte Zuschauer wurden grundlos mit Pfefferspray besprüht. Manche gingen daraufhin wieder nach Hause. Überall trifft man auf Polizeikräfte mit Maschinenpistolen und Tränengasgranaten. Im Vergleich zu den Ausschreitungen bei den Protesten der Gelbwesten ist es aber bisher noch relativ ruhig geblieben. Bisher gab es noch keine Schwerverletzten. Das mag daran liegen, dass der Staat die Gewerkschaften noch braucht und sie nicht allzu sehr verärgern will. Je mehr sich die Proteste aber verschärfen und Staat und Wirtschaft lahmlegen, desto heftiger werden auch die Repressionsmaßnahmen der Polizei sein.

Schließlich versucht es die Regierung noch mit Erpressung, indem sie auf die Tränendrüse drückt und „an die Verantwortung aller Beteiligten“ appelliert, um eine Unterbrechung der Streiks bis Jahresende durchzusetzen, damit die Leute zu ihren Familien fahren könnten. Die meisten, die eine Zugfahrt am Jahresende gebucht haben, werden aber eher in den Ski-Urlaub oder ans Meer fahren wollen denn zu ihren Familien. Denn auch in Frankreich wird das Weihnachtsfest in aller Regel im engsten Familienkreis gefeiert und die Familienangehörigen wohnen meist in der Nähe. Die Streikenden wollen sich nicht darauf einlassen, wohlwissend, dass eine Unterbrechung jetzt der Bewegung nur schaden kann und nach einer Pause das Feuer vielleicht erloschen ist.

Die Reaktion auf der Straße

Die Menschen auf der Straße trauen den Verhandlungen nicht. Sie wollen mit einbezogen werden. Dies hier ist ihr Kampf, er wurde nur auf Druck von unten von den Gewerkschaften aufgenommen. Die Gelbwesten hatten das Terrain vorbereitet. Das Mandat von der Straße ist klar: Kein Weihnachtsfrieden, „Weiter bis zum Rückzug“! Das Ausscheren der Unsa-SNCF wird fast einstimmig als Verrat angesehen.

Unter den Demonstranten wächst der Unmut gegen die Gespräche der Gewerkschaftsbürokratie mit Philippe. Viele fordern, die Gespräche zu beenden, da gibt es für sie nichts mehr zu verhandeln, zumal Philippe zum wiederholten Mal erklärt hat, dass die Regierung „völlig entschlossen“ sei, die Rentenkürzungen durchzusetzen: „Weiter verhandeln macht wenig Sinn. Es ist ausgeschlossen, dass wir hier egal welchen x-beliebigen Kompromiss aushandeln!“ Je länger der Streik dauert, desto größer wird die Wut auf die Regierung. Und desto weniger wird die Straße sich allein mit einem Kompromiss in der Rentenfrage zufriedengeben.

Zudem wächst die Beteiligung der Beschäftigten im Privatsektor. Zu den bekanntesten gehörten die Arbeiter der Abwasserkanäle, die mit ihren Schildern „Wütende Kanalarbeiter – 17 Jahre weniger Leben“ demonstrierten. In den Demonstrationszügen sind auch Arbeiter der Raffinerie Total, erkennbar an ihren Outfits. „Es ist immer schwierig, im privaten Sektor zu mobilisieren. Aber wir sind hier, um zu sagen, dass auch wir von dieser Reform betroffen sind, auch wenn die Medien nur über Eisenbahner und Lehrer sprechen“, so ein Teilnehmer.

In Besançon streikte am Dienstag eine beeindruckende Anzahl privater Unternehmen, wie Mondeleze (Lu-Fabrik), Camelin Décolletage Industries, FCI Besançon, Maty, Derichebourg, Arc-en-ciel, Les Francas, mehrere Animationszentren, mehrere Heimhilfezentren sowie mehrere Straßentransportunternehmen. Auch in Bayonne war der Privatsektor mit Streikenden von Dassault und Safran stark vertreten.

Laut „Le Monde“ wird der Weihnachtsfrieden von den Beteiligten weitgehend abgelehnt. Die Streikenden haben die Forderung längst als Manöver der Regierung entlarvt. Und natürlich sind auch die Rechten unter Marine Le Pen für eine Pause über die Feiertage.

Es gibt einen weiteren qualitativen Wandel bei den Pariser Demonstrationen: die Entstehung von „selbstorganisierten Streikenden”, angeführt von RATP-Arbeitern und Eisenbahnarbeitern und mit streikenden Lehrern, die in Massen mobilisierten. An der Spitze demonstrierten Tausende von streikenden Arbeitern mit großer Entschlossenheit.

Der Zugverkehr an den Feiertagen

Macrons Ziel war es, den Franzosen eine Streikpause an Weihnachten zu ermöglichen. Gefragt, ob Weihnachten wieder Züge fahren, antwortete Philippe Martinez von der CGT, das solle man doch besser den Premierminister fragen. Für die Gewerkschaft ist klar, erst wenn Macron seine Reformpläne zurückzieht, wird der Streik beendet. Es ist Sache der Regierung, den Pausenknopf zu drücken”, sagte Force-Ouvrière-Generalsekretär Yves Veyrier. „Können Sie sich wirklich vorstellen, dass die Streikenden nach zwanzig Tagen Lohnausfall einfach so aufhören werden?“, fragte Laurent Brun im Le Monde am 15. Dezember.

850.000 Menschen werden über die Feiertage an den Bahnhöfen erwartet, von denen viele bereits vor mehreren Wochen ihre Tickets gebucht haben. Die SNCF will sie einige Tage vor ihrer Abfahrt per E-Mail oder SMS darüber informieren, ob die Züge fahren oder welche Ausweichmöglichkeiten es gibt. Am Dienstagmorgen ließ der Staatssekretär für Verkehr verlauten, dass „alle Franzosen mit einer Fahrkarte einen garantierten Zug“ für die Weihnachtsferien bekommen werden. Das ist wohl etwas zu optimistisch, die SNCF hofft, dass die Hälfte der Reisenden auch fahren können, aber selbst das ist fraglich. Und selbst wenn der Zug fährt, wie steht es mit Verbindungen mit Anschluss und Weiterreise? Und wie ist es mit der Rückfahrt? Vielleicht kommt man ja noch ans Ziel, aber zurück?

Der Telefondienst der SNCF hat es schwer: Einige Internetnutzer berichteten von langen Wartezeiten und über Stunden am Telefon, um eine Auskunft zu bekommen. Wegen der anhaltenden Streiks wird die französische Bahn mit Sicherheit den Großteil ihrer Verbindungen an Heiligabend streichen müssen. Am 23. und 24. Dezember fallen sechs von zehn TGV-Schnellzügen sowie Intercity-Zügen aus, wie die SNCF am Donnerstag mitteilte. Demnach kann nur jeder zweite Kunde mit einem Ticket befördert werden.

Die Aussichten

Wenige Tage vor Weihnachten fordert die Intersyndicale weiterhin die Rücknahme der Reform, indem sie jeden „Waffenstillstand“ ablehnt. In der jüngsten Pressemitteilung wird jedoch kein Aufruf zu einem dritten großen nationalen interprofessionellen Streiktag genannt, sondern bloß zu lokalen Aktionen am 19. Dezember und bis Ende Dezember und, je nach Entgegenkommen der Regierung, auch auf ein Datum „nach Dezember“ aufgerufen. Wäre es nach der historischen Mobilisierung am 17. Dezember nicht an der Zeit, einen weiteren Nagel in den Sarg der Regierung einzuschlagen und einen Generalstreik auszurufen? Sind lokale Aktionen nach dem 17. Dezember und weiter bis Ende Dezember genug?

Ein nächster großer Aktionstag wurde von der CGT und FO für den 9. Januar angekündigt. Bis dahin fließt noch viel Wasser die Seine hinunter. Und im Moment plant das CFDT noch keine Demonstration am 9. Januar.

Die Gewerkschaftsführer sollten sich bis Januar nicht mit lokalen Aktionen zufriedengeben, sondern sofort zu einem Generalstreik aufrufen. Dieses Bestreben wird sowohl von der Basis geteilt wie auch von der Mehrheit der Streikenden, die am 17. Dezember die Demonstrationen angeführt haben. Der von den Intersyndicale vorgeschlagene Kampfplan müsste offensiver sein, um nicht nur die Dynamik der Bewegung zu erhalten, sondern es ihr zu ermöglichen, sich auf eine höhere Ebene zu schwingen und die Regierung zum Rückzug zu zwingen. Es sind keine wesentlichen Zugeständnisse der Regierung durch Verhandlungen zu erwarten.

„Wir haben alle gesagt, wir gehen bis Neujahr. Danach wird es finanziell zu schwer sein, es ist dann mehr als ein Monat vergangen“, sagt ein Fahrer. Die Gewerkschaftsbosse rufen für den 9. Januar zu einer Demonstration auf. Zu spät, die Streikenden werden wahrscheinlich wieder zur Arbeit zurückgekehrt sein. Die Streikenden bekommen in Frankreich kein Streikgeld. Jeder Streiktag bedeutet auch einen Tag Lohnausfall. Nicht alle können das lange aushalten. Die Zeit drängt also.

„Sie haben alle mehr oder weniger ihre Basis verleugnet. Die CGT und FO riefen zu einer Demonstration auf, das nächste Mal am 9. Januar … Sie sagen offiziell nicht das Wort „Waffenstillstand“, aber es ist genauso gut.“ klagte ein Fahrer.

Für die anderen Bevölkerungsgruppen geht es auch darum, Unterstützung für die Streikenden zu zeigen. Unterstützung kann direkt an den Streikposten erfolgen, aber auch finanziell, durch Spenden an die Streikkassen.

Auch wenn es von den Gewerkschaftsführern keiner offiziell sagt: Das eigentliche Mandat der Straße heißt, Macron zu besiegen, ihn aus dem Amt zu jagen. Notfalls wollen viele das auch ohne die Gewerkschaftsführer machen. Die Proteste der Gelbwesten haben gezeigt, dass soziale Proteste auch unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie möglich sind. Und die Menschen an der Basis sind bereits dabei, eigene Strukturen aufzubauen. Zu oft haben sie den Bürokraten vertraut, die hinter verschlossenen Türen gegen ihren Willen mit der Regierung und den Unternehmern faule Kompromisse abgesegnet und ihre Interessen verraten haben. Diesmal soll es anders werden.

Ça va péter, es wird krachen, so die Meinung vieler Franzosen. Und in der Tat: Die Fronten verhärten sich mit jedem Streiktag. Auf mitgeführten Schildern in den Demonstrationszügen wird Macron als König Ludwig, der XVI. dargestellt. „Macron, wir kommen dich holen“ singen die Demonstranten in Anspielung auf die Große Französische Revolution. Der Sonnenkönig wurde damals vom Volk aus seinem Palast in Versailles geholt, er endete unter der Guillotine. Einmal angefangen, werden die Menschen nicht so schnell aufhören, für ihre Rechte zu protestieren. Ça va péter …

Titelbild: Mickael Guyot/shutterstock.com


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