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Titel: Kolumbien – Der Volksaufstand gegen die 40 Dauphins und die Jahrzehnte alte Gewaltherrschaft
Datum: 20. Dezember 2019 um 8:53 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Länderberichte, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Sogenannte “Analysten” in den beherrschenden Medien und Akademiker verschiedener Couleur hatten den am vergangenen 21. November in verschiedenen Städten Kolumbiens ausgebrochenen Massenprotesten nur ein kurzlebiges Aufbegehren vorausgesagt. Doch knapp vier Wochen später war am Montag, den 16. Dezember, Bogotás Plaza de Bolívar, Sitz des Parlaments, erneut von Menschenmassen eingenommen. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
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Diesmal, um gegen die Steuerreformpläne der Regierung des jungen, konservativen Staatschefs Iván Duque mit einem tosenden Cacerolazo (Töpfe- und Pfannenrasseln) zu protestieren. Und wieder skandierten Chöre Parolen wie „Widerstand!” und „Parar para avanzar!“, was wortwörtlich übersetzt so viel heißt wie „Stoppen, um vorwärts zu kommen!”, ein Widersinn, der als Oxymoron missverstanden werden könnte. Doch das spanische Wort paro – Stillstand – ist ein Synonym von Streik, und damit erhält die Anweisung sehr wohl eine dynamische Bedeutung.
Zigtausende Demonstrantinnen und Demonstranten waren dem Aufruf des gewerkschaftlichen Dachverbandes CUT gefolgt, der den Aufruf mit einem unzulässigen und unakzeptablen Vorgang begründete: der Steuerreform-Entwurf der Regierung sei dem Parlament mit Dringlichkeitscharakter aufgenötigt worden und solle noch vor Ende 2019 genehmigt werden. Gewerkschaften und soziale Bewegungen gewannen jedoch die Zustimmung des Arbeitslosenausschusses im Kongress. Dessen Abgeordnete sprachen sich gegen die Billigung der Regierungspläne aus. Der Entwurf enthalte Artikel, die die Reichen im Lande steuerlich bevorteilen und die kolumbianische Mittelschicht bestrafe.
Doch der eigentlich „Vorbestrafte“ in der Fehde ist der Präsident selbst; daher auch seine Eile. In der Präsidentschafts-Stichwahl vom Juni 2018 besiegte Duque seinen progressiven Herausforderer und ehemaligen Bürgermeister von Bogotá, Gustavo Petro, mit 54 gegen 42 Prozent der Stimmen. Der Dauphin des ultrakonservativen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe soll bis August 2022 regieren, doch in weniger als 18-monatiger Amtszeit ist seine nicht gerade triumphale Popularität bei Regierungsantritt von knapp 54 Prozent auf genau die Hälfte (27,2 Prozent) eingebrochen.
Iván Duque ist der Dritte im Bund der Schlüsselfiguren südamerikanischer konservativer bis rechtsradikaler Machthaber, deren Popularität innerhalb weniger Monate nach Amtseinführung in den Keller stürzte – so Brasiliens Jair Bolsonaro auf 32 Prozent und Chiles Sebastian Piñera gar auf 4,6 Prozent – und eine kontinentalweite massive Ablehnung ultraliberaler Staatsführung mit sozialen und rechtlichen Einbußen signalisiert. Plastischer ausgedrückt: 68 Prozent der Brasilianer fühlen sich nicht von Bolsonaro, 73 Prozent der Kolumbianer nicht von Duque und nahezu 100 Prozent der Chilenen nicht von Piñera vertreten.
Die Ursachen und der Fortgang des Aufstands
Nach Angaben des Verwaltungsamtes für Statistik (DANE) befanden sich 2018 im Landesdurchschnitt 19,6 Prozent der Kolumbianer im Zustand “multidimensionaler” oder vielseitiger Armut. Doch die Armutsstatistik erreicht in unterschiedlichen Landesteilen geradezu groteske Ausmaße und signalisiert ein alarmierendes soziales Gefälle zwischen Hauptstadt und Hinterland. In Caquetá erreicht der Armutsindikator 28,7 Prozent, in Norte de Santander 31,5 Prozent, gefolgt von Chocó und Guajira mit je 45,1 und 51,4 Prozent. Den Gipfel der Verelendung bildet die Provinz Guainía mit 65 Prozent Armen in der Bevölkerung. Im Gegensatz dazu brilliert die Hauptstadt Bogotá im Glitzerlicht der amtlichen Werbung mit lediglich 4,4 Prozent Armen unter ihren 7 Millionen Einwohnern.
Kolumbien ist „… ein Land, in dem fast jeder den Gini-Koeffizienten (zur Darstellung der Ungleichverteilung) auswendig kennt und mit dieser Kenntnis verkündet, dass er in einem der ungleichsten, aber auch gefährlichsten Länder der Welt lebt, in dem Grundrechte beansprucht werden können. Das ist der Grund, warum diese endlosen Mobilisierungen (stattfinden), die die Regierung ignoriert, aber sie dazu aufruft, Gewalt zu verhindern, wo doch die Menschen auf der Straße genau wissen, dass der Hauptfaktor und Auslöser von Gewalt der Staat selbst ist“, kommentierte jüngst Manuel H. Restrepo Domínguez, Professor an der Pädagogischen und Technischen Universität von Kolumbien (UPTC) und Mitglied des kolumbianischen Observatoriums für Menschenrechte.
„Die Menschen haben es satt, dass Eliteregierungen, die als Befürworter des Neoliberalismus und des Krieges erkannt werden, die Menschenwürde herabsetzen und verschlechtern, Selbstschutzmechanismen schaffen, die nicht mehr als 500 Familien und ihren ´Blutpakten´ zum Schutz von Ehre und Schweigen zugutekommen, damit die Geheimnisse vom Ursprung ihres enormen Vermögens und Machtmissbrauchs nicht gelüftet werden. Sie sind sich darin einig, ihr Ideal der ´Eigentümerrepublik´ zu verteidigen, kolonialistisch und mit einem ausschließlichen Berechtigungsanspruch ausgestattet, ohne Rücksicht auf die Marginalisierung von Jung und Alt, die an Straßenecken, Abwasserkanälen, Parks oder öffentlichen Räumen ihre Dasein fristen, zerrissen zwischen Informalität, Kriminalität, Hunger und dem Elend der Einheimischen oder dem der Fremden aus der Nachbarrepublik (Venezuela)“, empörte sich Domínguez.
Der Aufstand gegen die Regierung Duque mobilisierte mindestens 2 Millionen Menschen aus 300 Landkreisen und schmiedete zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte des Landes ein spontanes Bündnis zwischen Gewerkschaften, Landwirten, indigenen Gemeinden, Schülern, Studenten und einem breiten Spektrum sozialer und Umweltschutz-Bewegungen. Das Bündnis entsprang dem Schattendasein am Rande des über 50 Jahre andauernden bewaffneten Konfliktes zwischen Staat, Guerilla, Narcos und Paramilitärs, und wird vom Ex-Präsidentschafts-Kandidaten und amtierenden Senator Gustavo Petro der Aufstand der „Menschenmengen“ genannt.
Die Hauptforderungen der Bewegung sind umfassendere Investitionen im Bildungsbereich, insbesondere in öffentliche Universitäten, Abbau der Arbeitslosigkeit, ein entschiedenes ‚Nein‘ zu den geplanten Arbeitsmarkt- und Rentenreformen und die sofortige Einstellung und Sühne der Morde an Aktivisten sozialer Bewegungen und der indianischen Bevölkerung.
Die Proteste begannen friedlich und feierlich, wurden jedoch unmittelbar nach ihrem Ausbruch von der Regierung Duque am 22. November mit der Verhängung der vorübergehenden Ausgangssperre und unverhältnismäßiger Gewaltausübung, Hunderten von Verletzten und einigen Toten beantwortet; Repressalien, die, wie in Chile, bisher jedoch die Proteste nicht aufzuhalten vermochten.
Zunächst blies Duque ins gleiche Horn seiner ultrarechten Partei Centro Democratico (Demokratisches Zentrum – Devise: „Mano firme, corazón grande / Strenge Hand, großes Herz!“): Der Streik beruhe auf „Lügen“. Doch selbst im Centro gab es starken Gegenwind und Duque distanzierte sich von den Radikalen in der eigenen Partei. Der Aufmarsch mit mehr als 140.000 Polizisten der gefürchteten ESMAD-Sondereinheit und des Militärs wurde reduziert, der Konflikt deeskaliert und Duque zeigte sich „dialogbereit“, obwohl er dafür bekannt ist, dass er „sprechen lässt, jedoch nicht zuhört“. Im Chor mit Chiles Sebastián Piñera posierte Duque als Garant des Rechtsstaats: Sozialer Protest sei ein Grundrecht, doch werde er „unerbittlich gegen jene vorgehen, die Chaos und Einschüchterung der Gesellschaft hervorrufen”; eine Warnung, die sein politischer Gönner, der frühere Präsident und amtierende Senator Álvaro Uribe mit der Forderung „Vandalen ins Gefängnis!“ verschärfte.
Das Nationale Streik-Komitee (CNP) ließ sich von den Androhungen nicht beirren und besteht seit Ende November auf einem umfassenden Forderungskatalog:
Duques Regierung und die Unterhändler der Streikbewegung haben sich seit Ende November mindestens vier Mal an einen Tisch gesetzt, doch keinen Konsens erzielt. Regierungsbeauftragter Diego Molano forderte die Streikbewegung dazu auf, jeden der 13 Punkte „zu vertiefen und zu präzisieren“. Die Hinhalte-Taktik soll für die Regierung Zeit gewinnen und wettet offenbar auf ein langsames Austrocknen der Proteste.
Vierzig Familien regieren Kolumbien seit 200 Jahren
Doch wer sitzt den Millionen ihre Rechte einfordernden Kolumbianern gegenüber?
Seitdem Graf Guiges IV. de Albon im 12. Jahrhundert sich selbst zum ersten Dauphin ernannte, bezeichnet der Dauphinismus die Verewigung von Familienclans und Cliquen an der Macht – Macht über ein Territorium, den Staat, das Militär, die Justiz, die Ökonomie, kurzum: ausnahms- und lückenlose Macht über ein Volk. So auch in Kolumbien, seit mehreren Jahrhunderten.
Ospina, Lleras, Valencia, Pastrana und Santos sind einige der am häufigsten vorkommenden Familiennamen in der kolumbianischen Politik. „Allein diese fünf Familiennamen ergeben zehn Präsidenten, die wiederum die Hälfte derer ausmachen, die im gesamten 20. Jahrhundert gewählt wurden”, erklärte David Racero, ein 31-jähriger Politiker, der in den Kongress gewählt wurde und sich im März 2018 mit der New York Times über die Herrschaft der kolumbianischen Familien-Clans unterhielt.
Racero ist Philosoph, Politikwissenschaften-Doktorand und linker Aktivist, der durch eine Koalition mit dem provokanten Titel Lista de la Decencia („Liste des Anstands“) ins Parlament einzog und zusammen mit einem Forscherteam mehrere Familien-Stammbäume unter die Lupe nahm, in denen das vielschichtige Gewirr familiärer Beziehungen, das den kolumbianischen Staat beherrscht, schimmert: „Wir haben festgestellt, dass wir in den letzten zweihundert Jahren von nur vierzig Familien regiert wurden.”
Bei seiner Beschäftigung mit dem Thema Eliten und Hegemonie in Kolumbien fiel Racero die wesentliche Frage auf: Warum regieren diejenigen, die regieren?
„Die Eliten haben den Staat durch ihre familiären Beziehungen oder durch ihre vertraglichen Bindungen an andere Gruppen gekidnappt und entführt”, erklärt er. „Es herrscht eine institutionelle und rechtliche Modellierung, die nicht von der Nation oder den Mehrheiten, sondern von denjenigen festgelegt wird, die die Macht ausüben.” Sein Fazit: „Vierzig Familien haben uns regiert, doch heute sind wir ein Land mit ungefähr sieben Millionen Familien. Das ist nicht demokratisch“.
Die traditionellen, Jahrhunderte alten und erstarrten Clans verloren jedoch an Boden seit dem Aufkommen des Álvaro Uribe; dem ehemaligen Bürgermeister von Medellin, ehemaligen Gouverneur von Antioquia und ehemaligen Präsidenten der Republik. Mit einem Bündnis neureicher, regionaler Unternehmer und Viehzüchter überzog der rechtsradikale Uribismus, mit seinen vielfältigen Verbindungen und der Förderung von Paramilitärs und der Narco-Szene, Kolumbien mit dem verheerendsten Feldzug gegen die Menschenrechte und der Verübung tausendfacher, immer noch ungesühnter Morde.
Mitte Dezember 2019 begleitete die Wochenzeitschrift La Semana Staatsanwaltschaft und Forensiker bei der Aushebung eines anonymen Massengrabes mit 50 Leichen sogenannter „falscher Positiver“. Unter dem Codewort kommandierte Uribes Heer die Hinrichtung von willkürlich ausgewählten Landarbeitern und Indianern zur Erlangung von „Dienstprämien“; im Krieg gegen die Guerilla verlangte die Regierung „Leistungsnachweis“.
Die gestörte Wahrnehmung des Auswärtigen Amtes
Der von seinem Nachfolger Juan Manuel Santos Calderón (2010-2018) im Jahr 2016 ausgehandelte, jedoch von Uribe und Duque abgelehnte Friedensvertrag mit der Guerilla-Bewegung FARC ist drei Jahre nach Inkrafttreten nach wie vor von der Gewalt des Uribismus geprägt. „Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens … wurden nach Angaben der Agentur für Wiederaufbau und Wiederherstellung der Normalität 129 ehemalige Kämpfer dieser Guerilla in verschiedenen Regionen Kolumbiens getötet. In weniger als der Hälfte der Fälle hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben beziehungsweise wurden direkt Involvierte festgenommen“, beklagte selbst die New York Times am 8. Mai 2019.
Doch dazu findet der entrüstete Leser und der überraschte Tourist, der seinen nächsten Urlaub in Kolumbien verbringen wollte, wenig Orientierungshilfe in den amtlichen Mitteilungen der deutschen Bundesregierung. Das unter Minister Heiko Maas seit eineinhalb Jahren um Demokratie und Menschenrechte im benachbarten Venezuela besorgte und interventionsbereite Auswärtige Amt leidet im Fall Kolumbien offenbar unter Wahrnehmungsstörungen. Kaum zu fassen, widmete das AA noch Ende Oktober 2019 Kolumbien eine lapidare 12-zeilige Glosse, die die Gewalt und Tötungen „kriminellen Banden“ unterstellt und von der politischen Motivation der Morde ablenkt.
„Zunehmende Bedrohung geht heute von neuen kriminellen Banden aus, die sich zum Teil aus früheren Paramilitärs rekrutieren. Hinzu kommen ELN und Dissidenten der FARC, die sich dem Demobilisierungsprozess nicht angeschlossen haben. Diese Gruppen finanzieren sich großteils durch Drogengeschäfte. Kolumbien zählt zu den Ländern mit der größten Kokainproduktion. Insgesamt ist das Gewaltniveau im Land jedoch stark gesunken. Ein aktuelles Problem stellen Morde von Schwerkriminellen an Personen dar, die sich in den von Drogen- und Gewaltkriminalität beherrschten Gebieten für soziale Belange oder Schutz der Menschenrechte einsetzen“, heißt es im „Politischen Porträt” des AA.
Über die Massenmorde an ausgemusterten FARC-Kämpfern kein Sterbenswort.
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