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Titel: Eindrücke aus Wolgograd: Den Schleier lüften!

Datum: 25. Oktober 2019 um 13:00 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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In Deutschland ist die russische Stadt Wolgograd vor allem als Ort bekannt, an dem die Wehrmacht eine Niederlage erlitt. Aber wie sieht das Leben heute in der Stadt und dem Gebiet Wolgograd aus? Womit verdienen die zweieinhalb Millionen Einwohner ihr Geld? Dazu hat Ulrich Heyden eine Reportage-Reihe verfasst. Der hier vorliegende erste Teil beschreibt einen Besuch in Industrieanlagen in jener russischen Provinz, über die deutsche Medien meist einen Schleier legen.

Hoch über der Stadt Wolgograd auf dem Mamajew-Hügel steht die große Skulptur „Mutter Heimat“. Man sieht eine Frau mit Schwert und wehendem Haar. Ihr Kopf und der ausgestreckte linke Arme ist zu Seite gewandt und sie scheint etwas zu rufen.

Das Denkmal erinnert an die Schlacht im Februar 1943, als die Stadt Stalingrad hieß und es der Roten Armee gelang, die deutsche 6. Armee zu umzingeln und zur Aufgabe zu zwingen. Das 108 Meter hohe Denkmal wird zu den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung der Sowjetunion von der Hitler-Wehrmacht gerade renoviert und ist komplett eingerüstet.

Export ins Ausland wächst

Das Gebiet Wolgograd ist ein wichtiges russisches Industrie- und Verkehrszentrum. Das hat die Region vor allem seiner günstigen Lage zu verdanken. Durch die Wolga und den Wolga-Don-Kanal ist die Region mit Zentralrussland, dem Kaspischen Meer, dem Schwarzen Meer und dem Atlantik verbunden.

In der Stadt, die früher Stalingrad hieß und auf der rechten Seite der Wolga liegt, gibt es große Betriebe zur Weiterverarbeitung von Öl und Gas. Es gibt Metallurgie, Nahrungsmittelbetriebe und Maschinenbau. Nach Angaben der Gebietsverwaltung exportierte Wolgograd 2018 Waren im Wert von 1,9 Milliarden Dollar. Das war im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 25 Prozent.

Das größte Unternehmen in der Region ist die Röhrenfabrik im Städtchen Wolschski. Der Ort liegt auf der linken Seite der Wolga. Die Fabrik gehört der „Röhren-Metallurgie-Gesellschaft“ TMK. Das Unternehmen – mit mehreren Standorten in Russland und im Ausland – gehört zu den drei weltweit größten Röhrenproduzenten.

Der Ort Wolschski liegt 25 Kilometer von Wolgograd entfernt. Der vom russischen Außenministerium für unsere Journalistengruppe gecharterte Bus braucht wegen einiger Staus zwei Stunden für die Strecke. Unser Weg führt uns über eine zwei Kilometer lange Brücke über die Wolga und weiter durch eine flache Landschaft mit grünen Feldern.

Eingangsgebäude der Röhrenfabrik Wolschsk

Eingangsgebäude der Röhrenfabrik Wolschsk

„Der Lohn reicht, um einmal im Jahr in Urlaub zu fahren“

Angekommen in der Fabrik zeigt man uns das Rohrwalzwerk. Riesige, gelb-rot-glühende Rohre werden von stählernen Greifarmen angehoben und wandern so unter ohrenbetäubendem Lärm von einer Bearbeitungsstufe zur nächsten. 60 Rohre in der Stunde werden in dem Walzwerk produziert. Man kann sich nur mit erhobener Stimme unterhalten.

Die Anlage zur Produktion nahtloser Rohre wurde 1989 von einer italienischen Firma gekauft. 1.200 Arbeiter arbeiten heute in der Walz-Abteilung im Vier-Schicht-System. Anders geht es nicht. Denn der Stahlofen, von dem die Walz-Anlage ihr Rohmaterial bekommt, kann man nur unter großem Zeitaufwand runter- und wiederhochfahren.

Der Leiter der fabrikeigenen Abteilung Technologie, Igor Aleksandrowitsch, erklärt uns, dass die Röhren zur Bearbeitung bis auf 1.280 Grad erhitzt werden. Wegen der besonderen Belastung durch Hitze und Staub können die Arbeiter in dieser Abteilung mit 50 oder 55 Jahren in Rente gehen.

Ich komme mit einem 45 Jahre alten Arbeiter ins Gespräch. Ob er genug Geld verdient, um einen Auslandsurlaub zu machen, will ich wissen. Der Mann sagt, er sei gerade in der Türkei gewesen. Wie hoch der Lohn sei, will ich wissen. „75.000 Rubel“. Das sind 1.070 Euro. Der Lohn reiche, um einmal im Jahr in Urlaub zu fahren.

Vor allem Rohre für den Öl- und Gassektor

In dem Walzwerk werden je nach Auftrag Röhren mit einem Durchmesser von 20 Zentimeter bis 50 Zentimeter produziert. Die Wandstärke liegt zwischen sieben und 33 Millimetern. Besonders dicke Wände haben die Rohre für den Öl- und Gassektor.

Die Fabrik liefert Rohre für Ölleitungen und Gasbohrstationen, die im Meer stehen, bei konstanter Kälte arbeiten und in großer Tiefe verlegt werden.

Dmitri, stellvertretender Leiter der Verwaltung des Werkes erklärt, die höchste Qualität werde für Rohre gefordert, die für Atomkraftwerke gebraucht werden. Wegen der radioaktiven Strahlung bräuchten die Rohre eine besonders feste Struktur. Die Fabrik habe sogar schon Röhren in die USA geliefert.

Die Röhrenwalzanlage

Die Röhrenwalzanlage

„Wir haben viel von den Italienern gelernt“

Ich frage einen Arbeiter, der schon zwanzig Jahre in der Röhrenfabrik arbeitet, von wem er die größte Erfahrung in seinem Arbeitsleben mitgenommen hat. Er meint, von den Kollegen, die vor 30 Jahren mit einer italienischen Firma das Rohrwalzwerk aufgebaut haben.

Italienische Firmen war in der Sowjetunion hochwillkommen. 1970 wurde mit Hilfe von Fiat die Lada-Autofabrik in Toljatti an der Wolga gebaut.

Auch die Röhrenfabrik von Wolschsk nahm 1970 ihren Betrieb auf. Bereits im Oktober 1969 wurde mit Hilfe von Spezialisten aus der Tschechoslowakei die erste Röhre mit einem Durchmesser von etwas über einem Meter hergestellt.

Zwanzig Jahre später, im Jahre 1989, wurde in der Röhrenfabrik die damals größte Stahlgießerei der Sowjetunion gebaut. Seitdem kann das Werk nahtlose Rohre herstellen.

2010 kam die nächste Modernisierung. Durch eine Umrüstung erreichte man, dass das Vorprodukt für die Röhren nicht mehr quadratisch, sondern rund war.

Eineinhalb Meter dicke Rohre für Gasprom

Neben der Rohrwalzanlage werden in der Nachbarhalle noch größere Rohre hergestellt, allerdings nicht nahtlose, sondern geschweißte. Sie haben einen Durchmesser von einem halben bis eineinhalb Meter. Auch in dieser Halle ist es ziemlich laut.

Alexej ist technischer Leiter für die Produktion geschweißter Rohre. Er erklärt, dass man gerade 1,20 Meter dicke Rohre für Gasprom produziere. Diese Rohre werden für eine Gasleitung von Sachalin nach Chabarowsk benötigt. Sachalin ist eine russische Insel mit großen Erdgasvorkommen. Sie liegt nördlich von Japan. Die Stadt Chabarowsk liegt 1.000 Kilometer weiter westlich.

„In einer Stunde schaffen meine Männer 13 Rohre“, erklärt Aleksej stolz. Weiter erklärt er, die Abteilung habe in Russland mehrere Konkurrenten, die das gleiche Produkt herstellen.

Seine Abteilung könne bei Nachfrage auch Rohre mit spiral-geschweißter statt mit geschweißter Längsnaht herstellen. Rohre mit geschweißter Spiralnaht würden vor allem für Atomkraftwerke und den Öl- und Gassektor verwendet. Zurzeit gäbe es aber keine derartige Bestellung.

Alexej erzählt, er habe zwei Söhne. Einer sei Student, der andere wisse noch nicht, was er machen werde. Ob der Sohn im Röhrenwerk arbeiten wird? Das sei noch nicht klar. Arbeitsplätze im Röhrenwerk seien aber begehrt.

Gespräch mit dem Direktor Sergej Tschetwerikow

Gespräch mit dem Direktor Sergej Tschetwerikow

2018 wurden keine Dividenden ausgeschüttet

Das Gelände der Röhrenfabrik erstreckt sich über 450 Hektar. 13.000 Menschen arbeiten in den langgestreckten Hallen. Im Besprechungszimmer der Fabrik empfängt uns der geschäftsführende Direktor des Werkes Sergej Tschetwerikow, ein ruhig sprechender, großer Mann mit grauen Haaren. Er hat das Kommando über 10.000 Mitarbeiter.

Der Direktor erzählt, dass in der Elektrostahlschmelze der Fabrik im Jahr eine Million Tonnen Stahl produziert werden. Für die Produktion nahtloser Rohre benutze man Rohstoffe aus Russland, für geschweißte Rohre verwende man Stahlblech von russischen und ausländischen Lieferanten.

Nein, sagt der Direktor, man habe in letzter Zeit keine Mitarbeiter entlassen müssen. Man habe allerdings 3.000 Mitarbeiter der Bereiche Transport und Ernährung in angegliederten Unternehmen untergebracht.

Erst nach unserem Fabrik-Besuch las ich im Geschäftsbericht des Mutterunternehmens TMK, dass im Jahre 2018 keine Dividenden an die Aktionäre gezahlt wurden. Die Presse-Abteilung von TMK erklärt mir auf Nachfrage, 2018 sei der Gewinn des Unternehmens für eine Dividendenausschüttung zu niedrig gewesen. Und wo zahlt der TMK-Hauptaktionär und Vorsitzende des TMK-Direktorenrates, Dmitri Pumpjanski, seine Steuern?, frage ich einen Mitarbeiter der TMK-Pressestelle. Der Hauptaktionär sei als Steuerzahler in Zypern registriert, antwortet der Mitarbeiter einsilbig.

Bei unserem Besuch im Werk kommt der geschäftsführende Direktor, Sergej Tschetwerikow, dann noch auf die Sozialprogramme der Röhrenfabrik zu sprechen. Das Werk habe eine eigene Poliklinik und einen Sportkomplex. Außerdem habe man in diesem Jahr 100 Kinder von Mitarbeitern zum Urlaub nach Anapa am Schwarzen Meer geschickt.

Ob der Staat der Fabrik in Krisenzeiten unter die Arme greife und billigeren Strom liefere, will ich wissen. Nein, meint der Geschäftsführer, der Staat helfe nicht. „Es ist nicht die Aufgabe des Staates, einem konkreten Unternehmen zu helfen. Die Aufgabe des Staates ist es, die Infrastruktur zu schaffen, die es ermöglicht, dass sich die Industrie entwickelt und sich durch Sozialprogramme die Kaufkraft der Bürger erhöht. Unser Staat erfüllt alle Aufgaben, die er erfüllen muss.“

Ich frage Tschetwerikow, warum die riesige Röhrenfabrik in der Steppe, im Städtchen Wolschsk, gebaut wurde. Der Anschluss der Fabrik an das Verkehrssystem sei sehr gut, antwortet der Direktor. In der Nachbarschaft gebe es den metallurgischen Betrieb „Roter Oktober“ als Zulieferer. Stahlplatten würden vom zehn Kilometer entfernten Hafen zum Werk transportiert. Wolgograd habe gute wissenschaftliche Institute. So sei die Fabrik mit Spezialisten versorgt. Man plane jedoch ein betriebseigenes Technikum einzurichten.

Leitzentrale des Röhrenwalzwerkes

Leitzentrale des Röhrenwalzwerkes

„Unsere Partner spürten die Sanktionen mehr“

Auf meine Frage, welche Auswirkungen die Sanktionen des Westens gegen Russland hatten, meint Tschetwerikow, „die Sanktionen hatten Auswirkungen. Aber unsere europäischen Partner spürten diese Sanktionen mehr. Während die europäischen Firmen nachdachten, ob sie uns Ausrüstungen schicken können oder nicht, begannen wir diese Importe durch neue Lieferanten zu ersetzen. Viele Ausrüstungen, die wir früher aus dem Ausland bezogen haben, liefern jetzt russische Firmen. Russische Ölfirmen haben den Kauf von Rohren aus dem Ausland reduziert. Stattdessen werden jetzt Röhren in Russland gekauft.“

Der Direktor erzählt von den Auslandsbüros seines Werkes in Düsseldorf, Dubai und Aman. In der jordanischen Hauptstadt betreibe man sogar eine eigene Röhrenproduktion für den Ölsektor. Über das Office in Düsseldorf werden Ersatzteile und andere Ausrüstungen aus Europa eingekauft. Vom Salzgitter-Konzern bekomme man Stahlblech. Es komme auch vor, dass man Teile der Fabrik-Ausrüstung zur Generalüberholung nach Europa schicke.

Später, beim Gang durch die Fabrikhallen, erzählt ein Abteilungsleiter, dass man Röhren nicht nur an die russischen Unternehmen Gasprom und Surgutneftgaz liefere, sondern auch nach Südostasien, Indien, Saudi-Arabien, den Irak, den Iran und Ägypten.

Als wir mit unserem Kleinbus das Fabrikgelände verlassen und durch die flache grüne Landschaft fahren, kommen mir zwei Gedanken. Müsste man nicht mehr über die russischen Unternehmen berichten, die auf oft hohem technologischen Niveau produzieren? Wie kann man sonst verstehen, dass Russland in der Welt nicht nur als Militärmacht, sondern auch als Wirtschaftsmacht eine Rolle spielt? Natürlich kann man mit dem Besuch in einer Fabrik nicht die ganze Realität des Arbeitsalltags erfassen, aber man kann immerhin ein stückweit den Schleier lüften, den die deutschen Medien über die russische Provinz gelegt hat.

Anmerkung: In der nächsten Folge können Sie lesen, wie es kam, dass auf dem Flughafen von Wolgograd fast ein Denkmal für den ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß aufgestellt wurde, was aber zum Glück an Protesten der Öffentlichkeit scheiterte.

Titelbild & Fotos: Ulrich Heyden


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