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Titel: Trumps „Verrat“ an den Kurden – die große Verwirrung in den Redaktionsstuben

Datum: 9. Oktober 2019 um 14:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Ein dreiviertel Jahr nach der Ankündigung eines Truppenabzugs aus Syrien machen die USA nun Ernst. Was folgte, war ein gewaltiger Aufschrei in den deutschen Redaktionen. Unisono spricht man dort von einem „Verrat“ und echauffiert sich, dass die USA „nach Eigeninteressen handeln“, Trump „die amerikanische Außenpolitik zertrümmert“ und der Abzug „für den Nahen Osten zum Albtraum werden“ kann. Gerade so, als hätten die USA in der Vergangenheit nach moralischen Leitlinien gehandelt und den Nahen Osten zu einem Paradies gemacht. Was geht nur in den Köpfen dieser Journalisten vor? Ein Kommentar von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die aktuelle Kommentierung des US-Truppenabzugs aus Syrien ist ein Musterbeispiel für das, was Albrecht Müller in seinem neuen Buch als Methode, Geschichten verkürzt zu erzählen, beschreibt. Liest man sich die jüngsten Kommentare in den großen deutschen Medien durch, so wird die Vorgeschichte zur jetzigen Situation im Nahen Osten durchgängig konsequent ausgeblendet. Doch wer die Vorgeschichte nicht kennt, muss zwangsläufig zu einem falschen Urteil kommen. Wie Robert F. Kennedy, Jr. in einem sehr empfehlenswerten Beitrag auf den NachDenkSeiten ausführlich dargelegt hat, beginnt die Geschichte der amerikanischen Interventionspolitik im Nahen Osten – und speziell in Syrien – vor vielen Jahrzehnten, war nie von moralischen Leitlinien geprägt und folgte stets dem Eigeninteresse.

Ohne diese lange Kette von Eingriffen, bei denen es nie um Demokratie, Menschenrechte oder Moral, sondern stets um die machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA und ihrer Eliten ging, wäre der Nahe Osten heute höchstwahrscheinlich nicht die Krisen- und Kriegsregion, über die wir aktuell sprechen.

Ohne den Sturz Mossadeghs wäre Iran heute womöglich eine säkulare Demokratie. Ohne die Unterstützung der absolutistischen Saud-Dynastie hätte es womöglich nie einen derart erfolgreichen radikalen Islamismus gegeben. Ohne die US-Unterstützung für die „Gotteskrieger“ im Afghanistan-Krieg hätte es nie die Al-Qaida und ohne das aus dem US-Krieg im Irak resultierende Machtvakuum nie den IS gegeben. Ja, ohne die aktive Unterstützung einer ideologisch höchst fragwürdigen „Opposition“ hätte es auch den Syrien-Krieg wohl nie gegeben. Die aktuellen Geschehnisse finden in keinem Vakuum statt, sondern sind direkte Folge der Außenpolitik der USA. Der Nahe Osten ist heute schon ein Albtraum … ein Albtraum made in America.

Wer davon ausgeht, dass es zu den Leitlinien amerikanischer Außenpolitik gehört, für Stabilität zu sorgen, hat offenbar die letzten Jahrzehnte verschlafen. Afghanistan, Irak und Syrien sind nicht deshalb so instabil, weil die USA ihre Truppen abziehen oder deren Abzug zumindest prüfen. Diese Länder sind deshalb so instabil, weil die USA diese Länder mit Kriegen überzogen haben und ihre Truppen dorthin entsandt haben. Das Chaos ist dabei durchaus im Interesse einiger Akteure hinter der US-Politik. Der ewige Krieg sorgt dafür, dass der militärisch-industrielle Komplex fette schwarze Zahlen schreibt und die USA einen Hebel auf ihre „Bündnispartner“ haben. Als „Krieg gegen den Terror“ sorgte er dafür, dass der Sicherheitsapparat der USA im In- sowie im Ausland Befugnisse bekommen hat, die man vor Jahrzehnten noch für undenkbar hielt. Auch Chaos kann ein Mittel sein, um seine Ziele zu erreichen. Trump zertrümmert diese Maxime der jüngeren US-Politik nicht; er setzt sie vielmehr konsequent fort.

Natürlich stellt der Abzug der Truppen aus Syrien auch einen Verrat an den Kurden dar. Doch dieser Verrat ist durchaus im Interesse der USA. Man darf nicht vergessen, dass der IS momentan kurz vor dem Aus steht und die syrische Regierung große Teile des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht hat. Aus Chaos hätte Stabilität werden können – eine Stabilität, die vor allem den geostrategischen Konkurrenten der USA zu verdanken ist und ihnen nützt. Wenn nun über eine erneute Destabilisierung der Region gemutmaßt wird, ein Wiederaufflammen des Krieges befürchtet oder gar eine neue Flüchtlingswelle mit Ziel Europa prophezeit wird, sollte man sich doch auch einmal fragen, wem diese Entwicklung nützt und wem sie vor allem schadet.

Wer geistig in der Welt einer unzerbrechlichen transatlantischen Partner- und Freundschaft zwischen den USA und Europa zu Hause ist, wird an dieser Stelle freilich von einer großen Verwirrung erfasst. Schließlich zählt neben dem Nahen Osten selbst vor allem Europa zu den potentiellen Verlierern einer derartigen Destabilisierung mit all ihren Nebenwirkungen. Wer jedoch geistig ein wenig flexibler ist, der erkennt, dass dies von den USA durchaus so gewollt sein dürfte. Nicht erst seit Trumps „America first!“ sehen die USA Europa vor allem als Konkurrenten; einen Konkurrenten, der außen- und sicherheitspolitisch zwar meist nach der amerikanischen Pfeife tanzt, aber dennoch ein Konkurrent ist und bleibt. Nur leider haben das die wenigsten Politiker und Leitartikler verstanden. So gesehen ist deren Verwirrung vielleicht sogar verständlich. Vielleicht hilft diese Verwirrung ja sogar, künftig die Dinge ein wenig klarer zu sehen und die geistige Flexibilität zu gewinnen, die nötig ist, um die US-Politik besser zu verstehen. Sehr wahrscheinlich ist das freilich nicht. Aber man wird ja noch träumen dürfen.

Titelbild: SvedOliver/shutterstock.com


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