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Titel: Amazonien – Der Kahlschlag und der Info-Krieg des Bolsonaro-Regimes gegen den globalen Klimaschutz

Datum: 23. August 2019 um 13:49 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Klimawandel, Länderberichte, Umweltpolitik
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Ein blinder Ameisenbär mit angebranntem Fell entsteigt den Flammen. Doch er wittert auch Gefahr in nächster Nähe vor sich und erhebt sich zur Abwehrstellung. Fotograf Araquém Alcântara, seit Wochen im brasilianischen Amazonien Waldbrandstiftern und Waldrodern auf der Spur, gelingt der Schnappschuss nur mit äußerster Disziplin. Mit unzähmbarer Wut im Bauch und zu Tränen gerührt, hält er die Szene fest und bricht zusammen. Tage später lädt er seine erschütternden Bilder vom Inferno auf seine Facebook-Seite und ruft in einem Video zum Widerstand auf. Von Frederico Füllgraf.

„Dieses Foto widerspiegelt nur zu gut mein Gefühl der Empörung über die Geschehnisse der vergangenen Tage in Amazonien”, erzählt Alcântara im Video. „Dennoch überraschte mich die Entrüstung der Menschen über die Vorgänge, denn je mehr sie darüber reden und dagegen protestieren, umso mehr könnte Amazonien gerettet werden … Mich hat die Abwehrstellung des Ameisenbären äußerst gerührt, weil ich darin seinen Widerstand, seinen Kampf ums Überleben erkannte. Ich glaube nämlich, dass der Wald um sein Überleben kämpft. Nicht weit davon entfernt gestand mir und meinen Begleitern einer dieser Miet-Killer (der Landlords): ´Hier, in dieser Gegend, junger Mann, halten Männer nicht ihr Wort, sind Frauen ehrlos, besitzt das Land keinen Herren und hat der Baum keine Wurzel!´. Das sind die Zustände, die wir ändern müssen, um uns zu (ehrwürdigen) Brasilianern zu machen”, warnt der Fotograf. Alcântaras Bilder lösten Stürme des Aufschreis aus und trugen dazu bei, dass in den sozialen Netzwerken das Hashtag #PrayForAmazonia als internationaler trending topic rangierte.

Die Brände wüten nicht nur in Brasilien, im benachbarten Bolivien zerstörten sie in wenigen Tagen nahezu 500.000 Hektar Wald, niedere Vegetation und veranlassten einen Notbesuch von Präsident Evo Morales mit der Ausrufung des humanitären Notstands in der Provinz Santa Cruz. In Bolivien “Chaqueos”, in Brasilien “Queimadas” genannt, haben die Waldbrände einen gemeinsamen Ursprung. Es handelt sich um die seit Jahrhunderten angewandte, arbeitssparende, jedoch merklich hirnrissige Praxis der Brandstiftung zur Gewinnung von Acker- und Weideland. Wie bereits unzählige Male zuvor passiert, trieben Regenmangel, ausgetrocknete Vegetation und starke Winde das Feuer ins Uferlose.

In Brasilien erreichten die Brände jedoch Rekordausmaße. Bereits im vergangenen Juli hatte das Institut für Weltraumforschung (INPE) 72.843 Waldbrände – den höchsten Stand seit Beginn der Messungen im Jahr 2013 – registriert. Die Flammen blieben nicht auf die Farmen der Großgrundbesitzer begrenzt, sie erfassten nicht weniger als 68 offizielle Schutzgebiete und Regenwald-Parks.

Mit einem Tweet vom 20. August erläuterte die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) der Vereinten Nationen Ausmaß und Folgen der Brandrodungen für die Erhitzung und Verseuchung der Atmosphäre. Eine grafische Darstellung zeigte, dass die massive Rauchfahne sich vom 2.000 km weit entfernten Regenwald über Brasilien und den Küstenbereich ausgebreitet und die 13-Millionen-Metropole São Paulo mitten am Nachmittag in gespenstische Verdunkelung gehüllt hatte.

Der “Tag des Feuers” und Bolsonaros perverse Verschwörungstheorien

Brasiliens Umweltminister Ricardo Salles zeigte sich unbeeindruckt. Die Brände, die apokalyptische Szenerie seien nichts anderes als – wörtlich! – „fake news”. Sein Chef, der im Oktober 2018 zum Präsidenten gewählte, ehemalige Heereshauptmann Jair Bolsonaro, hatte auch bald die Urheber der kriminellen Brände ausgemacht. In einem Fernsehinterview verdächtigte er ausgerechnet die ihn kritisierenden Umweltschützer als Brandstifter. Sie hätten sich wahrscheinlich an ihm rächen wollen, weil seine Regierung ihnen den Hahn der Finanzierung zugedreht habe.

Zum Hintergrund: Die Finanzierung von NGOs der Zivilgesellschaft und für den Umweltschutz war seit der Unterzeichnung des Amazonienfonds für Wald- und Klimaschutz im Jahr 2010, während der Regierung Luis Inácio Lula da Silva, gesichert, aber wegen der politischen Intoleranz des Bolsonaro-Regimes und der Ankündigung von Verfolgungen ebendieser Vertretungen der Zivilgesellschaft vor wenigen Wochen von Deutschland und Norwegen storniert worden.

Doch Bolsonaro kennt keine Grenzen bei der Verbreitung von Verschwörungstheorien und infamen Lügen. Selbstverständlich war ihm bekannt, dass ein Teil der Feuerherde von Großgrundbesitzern entlang der Fernstraße BR-163 im Südwesten des Bundesstaates Pará mit kriminellen Absichten gezündet worden war. „Wir müssen dem Präsidenten zeigen, dass wir wirtschaften wollen. Der einzige Weg ist die Rodung der Wälder, und zwar mit Feuer, damit wir unsere Weiden ausbreiten können”, erklärte tatsächlich einer der Organisatoren eines makabren “Tages des Feuers”.

Inzwischen hat die international tätige NGO Avaaz stolze 1,5 Millionen Unterschriften „Gegen die Apokalypse im Amazonas!” beim brasilianischen Oberhaus und bei den Justizbehörden mit der Forderung der sofortigen Beendigung der Brände eingereicht – bisher jedoch ohne Erfolg.

Zukunftsszenario: Für Klimaschutz „Einsatz von Gewalt unvermeidlich”?

War Amazonien Anfang August noch kein Thema für den medialen Mainstream in deutscher Sprache, rückte allerdings die alarmierende Waldvernichtung bereits auf die Titelseiten einflussreicher, englischsprachiger Publikationen, wie dem liberalen The Economist und dem US-Magazin für internationale Beziehungen Foreign Policy.

Mit dem Titel „Totenwache für Amazonien“ alarmierte The Economist in seiner Ausgabe vom 1. August: „Nirgendwo steht mehr auf dem Spiel als im Amazonas-Becken – und das nicht nur, weil es 40 Prozent der Regenwälder der Erde und 10-15 Prozent der terrestrischen Artenvielfalt beherbergt. Südamerikas Naturwunder mag auf gefährliche Weise nahe am Wendepunkt sein, ab dem seine allmähliche Umwandlung in etwas, das eher der Steppe gleicht, nicht mehr gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann; selbst wenn die Menschen ihre Äxte ablegen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro beschleunigt den Prozess – im Namen der Entwicklung, behauptet er. Der ökologische Zusammenbruch, den seine Politik möglicherweise herbeiführen könnte, würde am deutlichsten innerhalb der Landesgrenzen zu spüren sein, die 80 Prozent des Amazonas-Beckens einschließen – würde aber auch weit darüber hinausgehen”. „Es muss abgewendet werden”, appellierte die britische Wochenzeitung der Märkte.

In Foreign Policy vom 5. August spielte Stephen M. Walt – Professor für Internationale Beziehungen an der Harvard University – mit dem Szenario eines internationalen bewaffneten Überfalls auf Brasilien, falls dessen Regierung bis 2025 der Zerstörung Amazoniens kein Ende setzt. „Das ist alles ziemlich spekulativ und ich habe gerade erst begonnen, über die Auswirkungen dieser Dilemmata nachzudenken. Ich glaube jedoch, dass ich Folgendes weiß: In einer Welt souveräner Staaten wird jeder das tun, was er muss, um seine Interessen zu schützen. Wenn die Handlungen einiger Staaten die Zukunft aller anderen gefährden, wird die Möglichkeit schwerwiegender Konfrontationen und möglicherweise schwerwiegender Konflikte zunehmen”, wagte Walt zu prognostizieren, zog es jedoch vor, auf friedfertige Verhandlungspotenziale zu setzen: „Das macht den Einsatz von Gewalt nicht unvermeidlich, aber es sind nachhaltigere, energischere und einfallsreichere Anstrengungen erforderlich, um dies zu verhindern.”

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron rief auf Twitter den Klima-Notstand aus. Er schrieb: „Unser Haus brennt. Buchstäblich. Der Amazonas-Regenwald – die Lunge, die 20 Prozent des Sauerstoffs unseres Planeten erzeugt – brennt. Es ist eine internationale Krise. Mitglieder des G7-Gipfels, lasst uns diese erste Notfallbestellung in zwei Tagen besprechen! #ActForTheAmazon“. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hüllte sich bisher in Schweigen.

Weltweit isoliert, wird Brasilien nach Bolsonaros Vorstellungen nun bedroht: “Das ist der Krieg, in dem wir uns befinden”, erklärt er.

Trump, Brasiliens Klimawandel-Leugnung, Demontage des Umweltschutzsystems und die Fahrlässigkeit der Europäischen Union

Der Zerstörungstrieb des Bolsonaro-Regimes entspringt zwei Szenarien: einem ausländisch motivierten und einem inländischen mit langer Vorgeschichte, die bis in die Sklavenhalter-Gesellschaft zurückreicht.

In weniger als 8 Monaten Regierungszeit mauserte sich die brasilianische Regierung jedenfalls zur Resonanzdose des aggressiven Kurses der US-Administration Donald Trumps gegen die Klima-Wissenschaften und die von ihr vorgewarnten Szenarien.

„Präsident Trump hat die Umweltvorschriften zurückgenommen, die USA sind aus dem Pariser Klimaabkommen ausgetreten, düstere Vorhersagen über die Auswirkungen des Klimawandels werden beiseitegeschoben und der Begriff ´globale Erwärmung´ wird nicht als Prognose, sondern als Pointe interpretiert, kommentierte die New York Times vom 27. Mai 2019 und fasste das Szenario der Umweltschutz-Demontage des Weißen Hauses folgendermaßen zusammen: „Jetzt, nach zwei Jahren, in denen er die Politik seiner Vorgänger dechiffriert hat, starten Herr Trump und seine politischen Beauftragten einen neuen Angriff. In den nächsten Monaten wird das Weiße Haus die während der Obama-Regierung eingeleiteten Bemühungen des Bundes zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen zum Abschluss bringen. Sie wird ihre Bemühungen ausweiten, um Trumps entschlossene Ansichten anderen Nationen aufzuzwingen, und auf seinem Rückzug vom Pariser Abkommen und seiner jüngsten Weigerung aufbauen, ein Kommuniqué zum Schutz der schnell schmelzenden arktischen Region zu unterzeichnen; es sei denn, es bliebe jeglicher Bezug zum Klimawandel unerwähnt.“

„Das vorrangige Angriffsziel der Regierung war die Nationale Klimabewertungsstelle, die seit 2000 etwa alle vier Jahre von einer Task Force zusammenarbeitender Organisationen erstellt wurde. In ihrem jüngsten Bericht verwendeten Regierungswissenschaftler computergenerierte Modelle, um zu prognostizieren, dass, wenn die Emissionen fossiler Brennstoffe weiterhin ungeprüft bleiben, die Erdatmosphäre beeinträchtigt werden und sich bis Ende des Jahrhunderts um bis zu 8 Grad Fahrenheit erwärmen könnte. Dies würde zu einem drastisch höheren Meeresspiegel, verheerenden Stürmen und Dürren, Ernteausfällen, Nahrungsmittelverlusten und schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen führen“, warnte die NY Times.

Indes erklärte Brasiliens Außenminister Ernesto Araújo in einem Blog, der Klimawandel sei zwar zuerst von Konservativen angesprochen, aber von der Linken monopolisiert worden; der Klimawandel sei also eine „Erfindung der Linken“. Sein Kollege, der wegen Begünstigung von Bergbauunternehmen vorbestrafte Umweltminister und Großgrundbesitzer Ricardo Salles, wurde von Bolsonaro ins Kabinett gerufen, weil er den skrupellosen Kurs des exportorientierten Agrobusiness fährt und für Amazonien harte “kapitalistische Lösungen” empfiehlt.

Salles erhielt den Auftrag, einen Generalangriff auf das während der Regierungen der Arbeiterpartei (2003-2016) mühevoll aufgebaute staatliche Umweltschutz-System zu starten. Die nachgewiesene Erderwärmung ist zum Beispiel ein Thema, das Salles häufig als „akademisch” und „nicht vorrangig” beiseiteschiebt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen nahm der Minister die Einladung Brasiliens als zugesagten Tagungsort der für Anfang Dezember geplanten COP-25-Konferenz zurück, die nun in Chile stattfinden wird. Als klimadebattenfeindliche Maßnahme sagte Salles auch die vorbereitende Klimawoche der Vereinten Nationen in Salvador ab. „Wofür denn – etwa um auf unnützen Cocktailempfängen anzustoßen?“

Im Verlauf der ersten Regierungsmonate des Bolsonaro-Regimes beschnitt der Umweltminister sein eigenes Budget um 95 Prozent und feuerte den Geschäftsführer des seit Jahren erfolgreichen brasilianischen Klimaschutzforums. Die Entlassung von Alfredo Sirkis wurde zwei Wochen, nachdem er am Sitz des Industrieverbandes Rio de Janeiros (Firjan) eine Veranstaltung abgehalten hatte, bekanntgegeben. Auf dem Treffen hatten sich immerhin zwölf Gouverneure öffentlich gegen die globale Erwärmung ausgesprochen und den gemeinsamen Abbau der Treibhausgas-Emissionen vereinbart.

André Trigueiro – diplomierter Umweltexperte und Kolumnist der Mediengruppe O Globoverfolgte die institutionelle Demontage, die – angefangen bei der politischen Schwächung und Degradierung des Umweltministeriums selbst – insgesamt 15 Kernbereiche der staatlichen Umweltpolitik erfasst und außer Kraft setzt. Zum Beispiel gelang Bolsonaros Sohn – dem schwerer Korruption und der Zusammenarbeit mit der organisierten Kriminalität verdächtigten Senator Flávio Bolsonaro – eine Gesetzesvorlage, die fortan die verordnete 20-prozentige Wald-Mindestreserve für landwirtschaftliche Betriebe außer Kraft setzt.

Doch Jair Bolsonaro in Person ordnete an, das staatliche Institut für den Umweltschutz (Ibama) „mit einer Sichel niederzumähen”. Sodann schrumpfte die Anzahl der Umweltbehörden im Amazonasgebiet zwischen Januar und April um 70 Prozent und die Bußgeld-Einnahmen des Ibama brachen ein. Die Maßnahmen reichten von der Zerschlagung ganzer Behörden bis zur aggressiven Entlassung kompetenter, jedoch missliebiger Wissenschaftler und Beamter. Jüngstes Beispiel ist die Feuerung des langjährigen Direktors des Instituts für Weltraumforschung (INPE) und Ratsmitglied der Europäischen Gesellschaft für Physik, Ricardo Galvão. Die Entlassung sprach Bolsonaro selbst aus.

Rückblickend war Galvãos INPE der Nachweis gelungen, dass zwischen 2004 und 2012 die Abholzung Amazoniens um 83 Prozent dank der Radar-Überwachung gesenkt werden konnte, dass 95 Prozent der Rodungen illegal waren und als Umweltkriminalität behandelt werden mussten. Mit aktuellen Radarmessungen wies das INPE nun vor wenigen Wochen nach, dass die Waldzerstörung Amazoniens in den ersten 7 Monaten der Administration Bolsonaro um 50 Prozent zugenommen www.ihu.unisinos.br/78-noticias/591459-desmatamento-subiu-50-em-2019-indicam-alertas-do-inpe hat. Die Angaben lösten bei Bolsonaro einen Tobsuchtsanfall aus. Prompt bezeichnete er die Zahlen als „Fake News” und feuerte den renommierten Wissenschaftler Galvão mit der Begründung: „Nachrichten wie diese, die nicht der Wahrheit entsprechen, verursachen großen Schaden für das Image Brasiliens”. Experten befürchten nun, dass in Brasilien zum ersten Mal eine Zensur der Abholzung Amazoniens stattfinden wird.

Vor diesem eher perversen als traurigen Hintergrund fragt man sich, ob die Europäische Union bei der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit dem Mercosur blauäugig handelte oder gar zynisch beide Augen vor der rotzfrechen Vernichtung jeglicher Garantien für den Schutz der Umwelt und der Menschenrechte sowie angesichts der eiskalten Provokation der internationalen Gemeinschaft zum Abbau des Klimawandels zudrückte.

Titelbild: Araquém Alcântara


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