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Titel: Rettet den Boden!

Datum: 22. August 2019 um 15:04 Uhr
Rubrik: Ressourcen, Umweltpolitik, Wertedebatte
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Die Böden unter unseren Füßen sind unsere Lebensgrundlage. Wir leben auf und von ihnen. Ein Millimeter fruchtbarer Boden kann dreihundert Jahre zum Aufbau benötigen. Waren die Landwirte vor der Industrialisierung noch darauf angewiesen, Humus aufzubauen, um die Böden lebendig zu erhalten, nutzt die moderne Landwirtschaftsindustrie den Boden nur noch als bloßes Substrat, in das die Überproduktion von Exkrementen der industriellen Fleischfabrikation als Dünger eingebracht wird. Die Gesundheit der Böden und der Menschen, die seine Früchte täglich essen, ist dabei vollkommen aus dem Blick geraten. Florian Schwinn fordert in seinem Buch „Rettet den Boden!“ dringend, eine Humuswende zur Rettung der Böden einzuleiten. Denn wenn die Böden erst einmal abgetötet sind, brauchen wir nicht mehr umzudenken – dann verliert auch die biologische Landwirtschaft der Zukunft den Boden unter den Füßen. Ein Auszug.

Unser derzeitiger Umgang mit dem fruchtbaren Boden der Erde ist ein Vernichtungsfeldzug. Wir betonieren, asphaltieren ihn zu, baggern ihn weg, planieren und versiegeln. Täglich gehen auch in Deutschland noch immer sechzig Hektar Land verloren. Um es anschaulich zu machen, der gängige Vergleich: Das sind knapp 150 Fußballfelder. Eigentlich wollte die Bundesregierung den Flächenfraß bis 2020 auf täglich dreißig Hektar begrenzen, was dann immer noch 74 Fußballfelder wären, die täglich draufgehen. Es bleiben aber mehr, denn diese selbstgesetzte Vorgabe ist eines der vielen nicht erreichten Umweltziele. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung geht davon aus, dass der Landverlust durch bauliche Versiegelung bis 2030 nur auf 45 Hektar pro Tag zurückgeht. Aber selbst wenn das ursprüngliche Ziel bis dahin erreicht würde, wären das immer noch dreißig Hektar zu viel. Denn, wenn uns schon die Welt groß genug erscheint, um sie immer weiter auszubeuten, das kleine Deutschland dürfte für jeden so überschaubar sein, dass leicht zu erkennen ist, dass die Ressource Land endlich ist und wir es uns nicht leisten können, jeden Tag dreißig Hektar zu verlieren.

Aber selbst da, wo kein Quadratmeter Fläche überbaut wird, geht Boden verloren. Denn die sogenannte moderne Landwirtschaft ist in ihrer industrialisierten Form an dem Vernichtungsfeldzug gegen das Leben beteiligt; auch sie sorgt dafür, die fragile Schicht fruchtbaren Bodens abzutöten und abzutragen, von der die Pflanzen und alle Landtiere leben – und also auch wir.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind wir derart flächendeckend weltweit gegen unsere eigenen Lebensgrundlagen – im Wortsinn – »zu Felde« gezogen. Tatsächlich ziehen wir uns selbst den Boden unter den Füßen weg. Auch das wieder wörtlich gemeint, denn unsere Form der Bodenbearbeitung tötet nicht nur das Leben im Boden, sondern sorgt auch für Erosion durch Wind und Wasser. Wie das endet, kann man sich in der Sahelzone anschauen, wo der Raubbau an den Böden zu dauerhafter Verwüstung geführt hat. Man muss dafür aber nicht nach Afrika fahren. Im Süden Spaniens lassen sich malerisch verfallene Fincas besichtigen, ehemals profitable Bauernhöfe, die jahrhundertelang die Menschen ernährten. Jetzt stehen sie in einer von tiefen Erosionsgräben durchzogenen, stetig wachsenden Wüste. Und auch die von Touristen gern besuchten Karstlandschaften des Balkans und Süditaliens sind Zeugen vergangenen Raubbaus. Der Wald, der dort einstmals wuchs, ist nie wiedergekommen.

Wenn die flache Schicht fruchtbaren Bodens erst einmal fort ist, gelingt es uns kaum mehr, das Land wieder urbar zu machen. Die natürlichen Prozesse der Bodenbildung laufen in zeitlichen Dimensionen ab, mit denen wir Menschen nichts zu tun haben. Die Spanne eines einzigen Menschenlebens allerdings reicht uns, um die Fruchtbarkeit ganzer Landstriche auf Dauer zu vernichten. Denn die oberste Schicht der Erde, auf der und von der wir leben, hat zwar Millionen Jahre des Aufbaus gebraucht, ist aber doch nur eine Winzigkeit, die schnell wieder verloren sein kann.

Vergleicht man den Aufbau unseres Planeten mit dem eines Apfels – eine früher in der Schule gern gezeigte Vorstellung –, dann ist das Fleisch des Apfels der flüssige Kern der Erde, und die Apfelschale stellt die feste steinerne Erdkruste dar. Abgesehen davon, dass auch dieser Vergleich mal wieder hinkt, weil die Apfelschale im Verhältnis viel zu dick ist – wäre in diesem Bild der Staub auf der Apfelschale jene äußerste Erdschicht, die alles Landleben auf dem Erdball möglich macht. Wobei dieses »Häutchen« auf dem Erdball »eine im Vergleich gar nicht darstellbar dünne Staubschicht« wäre, wie schon 1922 Raoul Heinrich Francé feststellte, der Vater der modernen Bodenforschung.[1] Vielleicht hilft uns der hinkende Vergleich dennoch, endlich wieder zu bemerken, dass der feste Boden, auf dem wir zu stehen glauben, nichts ist als ein Stäubchen und dass unser Leben und das Überleben der ganzen Menschheit mit diesem Stäubchen hinweggefegt werden kann.

Was mit hinweggefegt wird, wenn der Boden im Sturmwind davonfliegt, was mit untergeht, wenn der Boden im Sturzregen abgeschwemmt wird, was unter Beton und Asphalt stirbt, das ist der vielfältigste Lebensraum der Erde. Nirgendwo ist das Leben so dicht gepackt wie in der obersten fruchtbaren Erdschicht. In einem einzigen Kubikmeter gesunden Oberbodens leben mehr Organismen, als es Menschen auf der Erde gibt. Wenn auf einer gut eingewachsenen, intakten Weide zwanzig Rinder grasen, die zehn bis fünfzehn Tonnen Lebendgewicht auf die Grasnarbe bringen, dann sorgen in und unter der grünen Pflanzendecke gut 250 Tonnen Bodenorganismen dafür, dass die Pflanzen und damit auch die Rinder da oben satt werden. All diese Asseln, Fadenwürmer, Springschwänze, Doppel- und Hundertfüßer, Algen, Pilze, Milben, Regenwürmer und Mikroorganismen arbeiten unermüdlich daran, in und auf diesem Boden Leben zu ermöglichen. Allerdings ist diese stark belebte und fruchtbare Schicht des Bodens an vielen Stellen weniger als einen halben Meter dick und entsprechend schnell zerstört. An anderen Stellen existiert sie fast gar nicht oder nur in Nischen.

In immer mehr Gebieten der Erde wird den kleinen und kleinsten Helferlein zudem das Überleben im Boden immer schwerer gemacht, weil wir Menschen wirtschaften, als wüssten wir gar nichts von ihnen. Wir ignorieren sie und ihre Funktion, ihre »Dienstleistung«[2] für uns.

Das fällt uns leicht, weil die meisten von uns inzwischen verlernt haben, auch nur zu sehen, ob es dem Leben im Boden gut geht. Wir erkennen den Unterschied gar nicht mehr zwischen einer Grünfläche, die hauptsächlich Entsorgungsplatz für Gülle ist, und einer intakten Weide. Ebenso wenig den zwischen einem totgefahrenen, totgespritzten und erodierten Acker, der nurmehr als Substrat genutzt wird, und einem lebendigen, aus sich selbst heraus fruchtbaren Ackerboden. Bestenfalls sehen wir noch den Unterschied zwischen einem wöchentlich gemähten Gartenrasen und der vom Gärtner bewusst gesäten Wildwiese. Wobei wir die artenarm gekürzte Halmsteppe schön finden und das wilde Durcheinander der Wiese nur dulden, weil uns immer wieder gesagt wurde, dass das so gut sei und so sein solle.

Dabei könnten wir noch viel mehr der »Dienstleistungen« des Bodenlebens für uns in Anspruch nehmen als nur die Funktion, die fruchtbare Erde bereitzustellen, die wir seit dem Bioland-Vordenker Hans Peter Rusch »Mutterboden«[3] nennen. Sie speichert Wasser, verhindert Überflutungen, sie filtert es zu sauberem Grundwasser. Sie versorgt die Pflanzen. Sie klimatisiert das Land.

Wir könnten die Bodenorganismen sogar nutzen, um unseren größten Umweltfrevel zu reparieren: den Klimawandel. Bei ihrer vielfältigen Zersetzungsarbeit, der Umwandlung von Streu und Dung, von totem pflanzlichen und tierischen Material in organische Nährstoffe, entsteht Humus: organisches Material im Boden. Die Basis der aktuellen und zukünftigen Nährstoffe der Pflanzen und des Wasserreservoirs im Oberboden. Bei der Humusbildung lagern die Bodentiere und -pflanzen, die Pilze und Mikroorganismen auch Kohlenstoff im Boden ein; bei ungestört wachsenden Böden wie unter Wäldern und Weiden wird der Kohlenstoff dauerhaft im Boden gespeichert. Auch in intaktem Ackerboden wird Humus gebildet, wenn er nicht ständig gepflügt wird und nicht wochen- und monatelang ohne Pflanzendecke vor sich hin dämmert. Würden wir nun auf allen landwirtschaftlich genutzten Böden dieser Erde in jedem Jahr auch nur vier Promille mehr Humus wachsen lassen, dann wäre der gesamte jährliche Kohlendioxid-Ausstoß der Menschheit im Boden gespeichert. Bei der Klimakonferenz in Paris[4], bei der sich die Staaten endlich auf ein Klimaabkommen einigen konnten, hat Gastgeber Frankreich genau das vorgeschlagen: eine weltweite Vier-Promille-Initiative.

Das wäre einer der guten Gründe für die unbedingt nötige Humuswende: Die Landwirtschaft könnte vom Klimazerstörer zum Klimaretter werden. Welch grandioser Imagewandel! Der andere wichtige Antrieb für den radikalen Wandel muss aber das schlichte Überleben der Menschen sein – oder sagen wir ruhig: der Menschheit. Denn es geht ums Ganze, es geht darum, uns die wenigen fruchtbaren Böden dieser Erde so zu erhalten, dass wir von ihnen leben können. Und wenn wir es ganz toll treiben wollen, dann könnten wir sogar Leben zurückbringen in manche Böden und etwas von dem reparieren, was wir schon zerstört haben oder gerade noch zerstören. Auch das ist möglich. Wenn die Humuswende kommt.

Florian Schwinn: „Rettet den Boden! Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen“, Westend Verlag, 272 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Juni 2019

Titelbild: maradon 333/shutterstock.com und Hessischer Rundfunk. Montage: NachDenkSeiten


[«1] Francé: Leben im Boden, S. 9

[«2] Tatsächlich sprechen Ökologen von Ökosystem-Dienstleistungen, um zu benennen, welche Funktion bestimmte Biotope für uns Menschen haben. So als sei die Natur ein Gewerbeverband, der für uns arbeitet. Dahinter steckt die Idee, den Menschen ihre Abhängigkeit von der Vielfalt funktionierender natürlicher Lebensräume klarzumachen. Eine Idee, die bislang ohne Breitenwirkung blieb.

[«3] Der Begriff geht zurück auf den Arzt und Mikrobiologen Hans Peter Rusch. Er bezeichnet in seinem Hauptwerk »Bodenfruchtbarkeit« die Muttererde oder den Mutterboden als Organismus, in dem Humus kein Stoff sei, sondern »ein Ausdruck der tätigen Beziehung zwischen dem Mutterboden und allen anderen Organismen«.

[«4] Die 21. UN-Klimakonferenz von 2015, COP21, verabschiedete das »Übereinkommen von Paris« als Nachfolger des Kyoto-Protokolls von 1997.


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