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Titel: Wie man per definitionem den Antisemitismus am Leben erhält

Datum: 12. August 2019 um 11:00 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Strategien der Meinungsmache
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Beim „Antisemitismus-Streit“ innerhalb der britischen Labour-Partei ging es am Ende auch um die Frage: Wie ist Antisemitismus eigentlich definiert? Den Gegnern von Parteichef Corbyn kam da die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) sehr gelegen. Diese „Definition“ ist international umstritten – vor allem linke jüdische Verbände äußerten bereits massive Kritik. Auch in Deutschland gibt es kritische Stimmen. Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Rudolph Bauer hält die IHRA-Definition für einen fragwürdigen Beitrag zur deutschen Schuldabwehr historischer Verbrechen, wie er in einem Debattenbeitrag für die NachDenkSeiten unterstreicht.

Die Entscheidung von US-Präsident Trump, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, hat im Dezember 2017 in vielen europäischen Städten, u. a. in Berlin, Demonstrationen ausgelöst. Daraufhin sprach sich der damalige deutsche Bundesinnenminister de Maizière dafür aus, das Amt eines Antisemitismus-Beauftragten einzurichten. Ein entsprechender Beschluss des Deutschen Bundestages erfolgte am 18. Januar 2018. Besetzt wurde das Amt durch den Innen- und Heimatminister Seehofer am 1. Mai 2018. Schon früher, am 20. September 2017, hatte das Bundeskabinett die Entscheidung getroffen, sich die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) zu eigen zu machen (siehe Kasten).

Die Bundesregierung folgte mit diesem Beschluss einer Entschließung des Europäischen Parlaments (EP) vom 1. Juni 2017 “zur Bekämpfung von Antisemitismus”. Das EP forderte die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie deren Organe und Agenturen u. a. auf, “die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) anzunehmen und umzusetzen, um die Bemühungen der Justiz- und Strafverfolgungsbehörden um eine effizientere und wirksamere Ermittlung und strafrechtliche Verfolgung antisemitischer Angriffe zu unterstützen”.

Vorarbeiten für den Beschluss des Europaparlaments zur Übernahme der IHRA-Definition hatte eine “European Parliament Working Group in Antisemitism” geleistet. Als Sekretariat dieser Arbeitsgruppe fungierte der European Jewish Congress mit Berliner Büro und Hauptsitz in Paris, ins Leben gerufen vom europäischen Zweig des Jüdischen Weltkongresses. Die IHRA ist eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Berlin.

Unter Anwendung der IHRA-Definition wird der Antisemitismus-Vorwurf in jüngster Zeit vor allem gegen fortschrittliche Politiker erhoben, etwa gegen den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn in Großbritannien, gegen die Kongress-Abgeordnete Ilhan Omar in den USA oder gegen Ofer Cassif, Professor an der Hebräischen Universität und prominentes jüdisches Mitglied der arabischen Listenverbindung Hadash-Ta’al-Union. Es sind somit mehrere gewichtige Gründe, weswegen es angebracht ist, die justiz- und strafverfolgungsrelevante Antisemitismus-Definition der IHRA kritisch zu beleuchten – auch deshalb, weil der Beschlussfassung ihres höchst fragwürdigen Inhalts durch das EP und die Bundesregierung keine öffentliche und demokratische Debatte auf europäischer und nationaler Ebene vorausgegangen ist.

Die englische Fassung der IHRA-Definition lautet: “Antisemitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward Jews. Rhetorical and physical manifestations of antisemitism are directed toward Jewish or non-Jewish individuals and/or their property, toward Jewish community institutions and religious facilities.”

Ins Deutsche übersetzt (und die deutsche Übersetzung ist hier Gegenstand kritischer Anmerkungen) lautet die „Definition“: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

In erweiterter Form umfasst die Definition einen dritten Satz des folgenden Wortlauts: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

  1. Wahrnehmung statt Vorurteil

    Die Erklärung eines Begriffs dient zur präzisen Erläuterung und klaren Bestimmung seiner Bedeutung. Davon kann im Fall der von der IHRA vorgeschlagenen Arbeitsdefinition („working definition“) des Antisemitismus keine Rede sein. Als Definition – von lat. definitio, ursprünglich Umgrenzung – gilt im weitesten Sinne jede Art der Feststellung oder Festsetzung einer Zeichenverwendung: hier der Kennzeichnung „Antisemitismus“. Von einer Definition ist zu erwarten, dass sie bestimmten Maßstäben genügt und methodische Regeln befolgt, die je nach Zusammenhang unterschiedlich sein können. Sie soll vor allem verständlich sein, zweckmäßig, adäquat und begründet. Sie darf nicht irreführend und manipulierend sein.

    Die IHRA-Definition besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung. Antisemitismus ist jedoch keine Wahrnehmung, sondern ein Vorurteil, gleichbedeutend mit einer Falsch- oder Unwahrnehmung. Der Antisemitismus als Vorurteil pflegt Feindbilder, die sich einer rationalen Argumentation verweigern und deshalb die menschlichen Denk- und Handlungsmöglichkeiten einschränken. Kern der irrationalen Voreingenommenheit ist das Feindbild „Jude“, gepaart mit mörderischem Hass gegen „die Juden“ aus dem einzigen Grund, weil sie „Juden“ sind. Selbst dieses „Jude“-Sein unterliegt aus antisemitischer Sicht keiner begrifflichen Bestimmung und entspricht schon gar nicht dem Selbstbild der Betroffenen. Das antisemitische Vorurteil wird aus ideologisch motivierten Begründungen – etwa Rasse, Geschäftstüchtigkeit, Einfluss, Schmarotzertum und Weltherrschaftspläne – abgeleitet.

    Mit anderen Worten: Der Antisemitismus ist eine Grundeinstellung, die im Sinne einer festen Meinung oder Überzeugung zwar teilweise objektiv sein kann, aber vorurteilsbehaftet oder von Machtinteressen gestützt ist. Diese Grundeinstellung strukturiert formal die Apperzeption, beeinflusst sie inhaltlich und definiert sie. Sie ist immer auch subjektiv, ein interaktives Gemisch aus Affekten und Kognitionen. Letztere haben den Charakter von Rationalisierungen, die dazu beitragen, wo und wie auch immer entstandene Affekte zu übertragen auf die dafür scheinbar geeigneten, gegebenenfalls gesellschaftlich prädestinierten Personen oder Gegenstände. Entsprechend ist die jeweilige “Definition” äußerst beliebig.

    Als Wahrnehmung wird beim Menschen der Vorgang bezeichnet, sinnliche Reize aufzunehmen und zu verarbeiten. (In der englischen Fassung der IHRA-Definition ist die Bedeutung der Formulierung „perception“ nicht auf die Wahrnehmung sinnlicher Reize beschränkt; das Wort kann auch eine Idee, eine Vorstellung oder Auffassung meinen.) Der in der deutschen Übersetzung verwendete Terminus “Wahrnehmung” beschreibt ein Mit-den-Sinnen-Erfassen. Sinnlich erfasst wird z. B. ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, etwas Tast- oder Sichtbares. Die deutsche IHRA-Definition legt nahe, dass Juden wahrgenommen werden, d. h. dass man sie mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen erkennt, als würde es eine objektiv wahrnehmbare Qualität des Objekts der Wahrnehmung tatsächlich geben. Hier wabert womöglich ein rassistisches Vorurteil. Auch die Nazi-„Rassenlehre“ hat Juden auf äußerliche Merkmale reduziert. Eine Definition des Antisemitismus, die sich aus sinnlicher Wahrnehmung speist, ist im Kern selbst vorurteilsbehaftet.

    Wenn, wie im vorliegenden Fall, definitorisch nicht nur von Wahrnehmung die Rede ist, sondern zusätzlich von einer bestimmten (!) Wahrnehmung – also von einer schlechthin antisemitischen Überzeugung oder Grundeinstellung – dann stellt sich die Frage, wodurch die Wahrnehmung bestimmt ist, d. h. genau festgelegt, entschieden und gewiss. Darauf gibt die IHRA-Definition keine Antwort. Sie lässt offen, von welcher bestimmten Wahrnehmung die Rede ist. Insoweit ist sie ungenau und beliebig – also keine zweckmäßig brauchbare Definition mit intellektuell verbindlichem Anspruch.

  2. Juden und Nichtjuden

    Die Definition seitens der IHRA besagt, Antisemitismus sei eine bestimmte Wahrnehmung von Juden. Allein schon der Gebrauch des Genitivs ist uneindeutig und ambivalent. Es bleibt zunächst unklar, ob es sich um einen Genitivus objectivus handelt („Juden werden wahrgenommen“) oder um einen Genitivus subjectivus („Juden nehmen etwas wahr“).

    Angesichts dessen, was heute auf insistierende Weise als „erweiterter Antisemitismusbegriff“ ins Feld geführt wird (davon ist später in Abschnitt 8.1 noch die Rede), könnte es sich um einen Genitivus subjectivus handeln: um eine Wahrnehmung des Antisemitismus, wie er durch Juden – möglicherweise ebenfalls auf vorurteilshaft verzerrte Weise – aufgefasst und erlebt wird. Aus dem Nachsatz geht allerdings hervor, was gemeint sein soll: nämlich das Wahrgenommen-Werden von Juden (Genitivus objectivus) – wobei die Bezeichnung „Juden“ nicht näher erläutert wird. Es bleibt den Lesenden überlassen zu deuten, ob „Juden“ sich auf die bekennenden Angehörigen der jüdischen Religionsgemeinschaft bezieht (orthodoxe Juden) oder auf liberale, nichtorthodoxe Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, Abstammung, Familienzugehörigkeit bzw. ob es sich um israelische Staatsbürger/innen handelt oder ob von den Getöteten des Genozids die Rede ist, denen von den Nazis rassistische Judenmerkmale zugeschrieben wurden.

    Sinnvoll wäre es, in der Definition deutlich zu machen, dass „den Juden“ im Rahmen des rassistischen Antisemitismus eine Sündenbock-Rolle aufgeladen wurde und wird für all das, was wirtschaftlich und gesellschaftlich aus dem Ruder und schiefläuft. Vergleichbares widerfährt „den Moslems“ im Rahmen des Antiislamismus oder „den Christgläubigen“ in Ländern mit Christenverfolgung. Der rassistische Antisemitismus lenkt in unangemessen ideologischer Weise ab von den realen Widersprüchen der politischen Ökonomie, indem er deren Ursachen individualisiert („der Jude ist schuld“) oder gruppenbezogen personalisiert („die Juden sind schuld“).

    Umgekehrt verhindert das Antisemitismusverdikt aber auch einen empirischen Zugang zur tatsächlichen Rolle und zum wirklichen Einfluss von Anhängern religiöser oder gesellschaftlicher Gruppen, zu denen nicht nur diejenigen gehören, die Adepten jüdischer Gemeinschaften sind oder ihnen nahestehen. Eine empirische Untersuchung etwa des katholischen Opus Dei ist kein antikatholischer Akt, eine Studie über die Mafia in den USA kein antiitalienisches Projekt. Es muss möglich und erlaubt sein, Macht- und Einflussstrukturen von Gruppen mit gesellschaftlichem oder religiösem Hintergrund zu analysieren.

  3. Antisemitismus ohne Antisemite

    Um mit der deskriptiven Kritik der IHRA-Definition fortzufahren: Sie besagt, es handle sich um eine Wahrnehmung, die sich gegenüber Juden ausdrücken kann. Kann sich eine Wahrnehmung überhaupt artikulieren? Ist eine Wahrnehmung fähig, sich zu äußern? Ein wahrgenommenes Geräusch beispielsweise drückt sich nicht aus. Es ist vielmehr selbst ‘Ausdruck’ und Ergebnis von etwas – beispielsweise eines vorbeifahrenden Zuges, eines Hilferufs oder einer Explosion. Es bedarf also einer Person (eines Subjekts), die etwas wahrnimmt und das Wahrgenommene dann wiedergibt: ausdrückt, formuliert, in Worte fasst.

    Eine Wahrnehmung, die sich gegenüber einer jüdischen Einzelperson oder der Personengruppe „Juden“ ausdrückt, bedarf einer Vermittlung (z. B. mit Hilfe von Medien oder der Propaganda) bzw. eines die Wahrnehmung mitteilenden Subjekts, in unserem Zusammenhang also des bzw. der Antisemiten. Würde sie unmittelbar erfolgen, ohne eine vermittelnde Instanz oder Person, wäre das ein abstruser Vorgang: ein Antisemitismus ohne Antisemiten. Einen abstrakten Sachverhalt auf dieselbe Weise wie einen konkreten Akteur als handelnd bzw. vermittelnd einzuführen, wie es der Wortlaut der IHRA-Definition andeutet, ist eine widersprüchliche Taschenspielerei, die eher vernebelt, als beizutragen zur Klärung.

  4. Das Phänomen beschwören, aber die Ursachen vernachlässigen

    Die an dieser Stelle in der Definition verwendete Kann-Formulierung, dass Wahrnehmung sich ausdrücken kann, impliziert verschiedene Bedeutungen. “Können” meint so Unterschiedliches wie: (a) fähig und in der Lage sein („laufen können“); (b) eine Sprache beherrschen („Hebräisch können“); (c) die Möglichkeit haben („ein Studium aufnehmen können“); (d) die Erlaubnis haben, etwas zu dürfen („mit Billigung der Eltern einen Freund besuchen können“); (e) möglich oder denkbar sein („etwas kann sich ereignen“).

    Gesetzt den Fall, dass – wie anzunehmen ist – Letzteres gemeint ist, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen oder Voraussetzungen die Möglichkeit eines Ereignisses oder einer Entwicklung in Realität umschlägt. Darüber gibt die IHRA-Definition keine Auskunft. Die sonstigen Bedeutungen lassen – falls sie denn gemeint sind – offen, wie die entsprechenden Fähigkeiten oder Möglichkeiten entstanden sind (und wie man ihr Entstehen oder ihre Ausbreitung verhindern kann).

    Das Fehlen einer Ursachenanalyse und die Ungenauigkeit der definitorisch unzweckmäßigen Ausdrucksweise haben zur Folge, dass der Gedanke einer Ursachenbekämpfung oder begründeten Prävention des Antisemitismus gar nicht erst aufkommt. Antisemitismus erscheint als eine Art Naturereignis oder naturgegebenes Gesellschaftsphänomen, deren Entstehung im Dunkeln bleibt, aber auch nicht interessiert (siehe dazu die Schlussabschnitte 8.2 und 8.3). Dieser Mangel – man könnte fast meinen, dass die Vernachlässigung der Ursachenforschung ein Zeichen dafür ist, am weiteren Fortbestehen des Antisemitismus interessiert zu sein, nicht an der Befreiung von ihm – bestätigt sich auch im Folgenden.

  5. Abscheu statt Untersuchung

    Antisemitismus, so heißt es gemäß IHRA-Definition, sei eine Wahrnehmung, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Gemeint ist offenbar eine Einstellung gegenüber „den Juden“, die sich nicht zuletzt als Hass zeigt. Hass wird in der Definition auf widersinnige Weise zum Ausdruck einer Wahrnehmung erklärt. Hass ist jedoch eine irrationale Emotion, die sich in Form von prinzipieller Antipathie auswirken kann. Freilich lässt sich nicht jede Form einer radikalen Demonstration von Protest und Widerspruch zurückführen auf Hass. Auch an dieser Stelle bleibt die Definition unbestimmt.

    Die intensiven negativen Gefühle des Hasses lösen bei den Hassenden Abneigung und Verachtung aus. Sie zeigen sich in der Praxis als feindselige und aggressive Haltung. Diese Einstellung hat nichts mit angeblichen Wahrnehmungen zu tun. Es handelt sich um eine emotionale Attitüde bzw. eine psychische Disposition, deren Genese nicht auf Wahrnehmungen zurückgeht, sondern auf ökonomisch verursachte, gesellschaftlich ausgelöste und psychodynamisch bearbeitete Beweggründe, die zu benennen (und zu bearbeiten) wären.

    Bei der Art von phänomenologischer Definition, wie sie von der IHRA vertreten wird, geht es definitiv nicht um Ursachenanalyse und -bekämpfung, sondern um die Horrifizierung des als Wahrnehmungsphänomen klassifizierten Definitionsgegenstandes, der sich beim rassistischen Antisemitismus als Hass äußert. Die tieferen Wurzeln des Antisemitismus bleiben im Dunkeln – und das sollen sie wohl auch, und zwar sowohl bei den Befürwortern des Antisemitismus als auch bei den Antisemitismus-Gegnern. Letztere begreifen ebenso wenig wie die Erstgenannten, dass es sich beim Antisemiten um ein gesellschaftliches Phänomen handelt.

  6. Die Adressaten des IHRA-Antisemitismus

    Der Antisemitismus gemäß IHRA-Definition richtet sich gegen … . Diese Aussage ist – von der irrigen Personifizierung des Generalbegriffs einmal abgesehen („der Antisemitismus richtet sich …“) – weitgehend korrekt. Gemäß der griechischen Vorsilbe „anti“ (d. h. gegen) besagt die Worterklärung, dass das antisemitische Vorurteil gegen etwas gerichtet ist, nämlich (und hier wird die Definition in gefährlicher Weise unübersichtlich sowie auf fatale Weise beliebig und manipulativ) …

    … gegen … Einzelpersonen … und/oder (gegen) deren Eigentum … sowie gegen … Gemeindeinstitutionen und … Einrichtungen. Die Definition des durch das Suffix “-ismus” in pönalisierender Absicht bezeichneten Begriffs benennt verschiedene Gruppen und Arten von Adressaten der antisemitischen Gegnerschaft, nämlich (a.) Personen, (b.) deren Eigentum (d. h. einen Rechtstitel) sowie (c.) Institutionen und (d.) Organisationen.

    1. Die personenbezogene Gegnerschaft richtet sich gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen. Diese Definition liefert keinen Anhaltspunkt zur Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einzelpersonen. Es bleibt ungeklärt und daher unbegreiflich, warum und auf welche Weise einzelne Nicht-Juden zur Angriffsfläche antisemitischen Hasses werden.
    2. Die sachbezogene Gegnerschaft gegen den Eigentumstitel, auf den sich „jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen“ berufen können, bleibt vage. Handelt es sich dabei um Sachbeschädigung, Zerstörung, Diebstahl, Raub oder die staatliche Konfiszierung von Eigentum? Ist angesichts der Beliebigkeit, die in der ungenauen Formulierung der Definition angelegt ist, nicht bereits auch die Kritik am Eigentum und an seiner Verwendung ein Zeichen von antisemitischer Gegnerschaft, etwa die Kritik an verschwenderischem Luxus oder an problematischen Investitionen, z. B. beim Bau von Atomkraftwerken, in die Rüstungsindustrie oder bei ethisch fragwürdigen Forschungsprojekten? Die Definition unterscheidet auch nicht hinsichtlich der Schwere sachbezogener Gegnerschaft und sie differenziert ebenso wenig, ob die Gegnerschaft von Individuen ausgeht, von einer Gruppe oder vom Staat.
    3. Die erwähnte Gegnerschaft gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen lässt erstens offen, ob sie von Privaten oder vom Staat ausgeht, und zweitens, ob jegliche Gegnerschaft gemeint sein soll (z. B. die Beschwerde von Nachbarn gegen den Kinderlärm einer Kita in jüdischer Trägerschaft).
  7. „Wort oder Tat“ statt „Wort und Tat“

    Die antisemitische Gegnerschaft äußert sich nach Maßgabe der IHRA-Definition in Wort oder Tat. Hier fällt ein gravierender Unterschied zwischen der englischen Fassung und der deutschen Übersetzung ins Auge. Im Englischen ist von „rhetorical and physical manifestations“ die Rede, im Deutschen hingegen von einer Gegnerschaft in Wort oder Tat.

    Die englische Version kann in der Weise verstanden werden, dass sich die antisemitische Gegnerschaft in doppelter Weise zeigt, sowohl rhetorisch (“in Worten”) als auch handelnd (“in Taten”). Die deutsche Übersetzung legt nahe, dass eine mündliche bzw. schriftliche Äußerung, die sich gegen die in der IHRA-Definition genannten Personen oder Institutionen richtet, in derselben Weise zu ahnden ist wie eine gegen sie gerichtete Handlung. Eine antisemitische Äußerung oder Gesinnung wird mit einem antisemitischen Akt gleichgesetzt.

    Das ist einer der Anlässe, um die in Deutschland grundrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit zu beschneiden bzw. eine entsprechende Meinungsäußerung dadurch zu unterbinden, dass ihr der Zugang zu öffentlichen Räumen verwehrt wird – wie es jüngst erneut der Fall war anlässlich der Verleihung des Göttinger Friedenspreises an den Verein “Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost” (zur Vielzahl anderer Beispiele siehe Johannes Feest: Israelkritik und Antisemitismusvorwurf. Veranstaltungsverbote als Problem der Meinungsfreiheit; in: Vorgänge 220, 56. Jg., 4/2017, S. 117-126). Auf diese Weise wird einer vordemokratischen Gesinnungsprüfung der Weg gebahnt, statt am Grundsatz der Rechtsprechung durch eine unabhängige Justiz festzuhalten.

  8. Fazit
    • 8.1 Brandmarkung statt Forschung, Maulkorb statt Aufklärung und Prävention

      Die Arbeitsdefinition der IHRA ist mangelhaft und daher unbrauchbar, ja sogar gefährlich. Ihr zufolge speist sich der Antisemitismus aus sinnlicher Wahrnehmung. Eine solche Erklärung ist strukturell selbst antisemitisch. Die IHRA ergeht sich „per definitionem“ in einem selbstwidersprüchlichen Autismus. Sie benennt weder die Träger, Vermittler und handelnden Akteure des Antisemitismus, noch erwähnt sie dessen gesellschaftliche und sozialpsychologische Entstehungszusammenhänge. Das Phänomen Antisemitismus wird horrifiziert, nicht definiert. Eine Definition würde es erlauben, die spezifische Erscheinungsform zu bestimmen und Abweichungen davon zu unterscheiden. Sie würde es erlauben, der Frage nach den Wurzeln und der Ausbreitung des Antisemitismus nachzugehen, um auf dieser Grundlage gegebenenfalls pädagogisch aufzuklären und vorzubeugen.

      Der Adressatenkreis antisemitischer Gegnerschaft wird nicht definitorisch eingegrenzt, sondern definitiv ausgeweitet, so dass heute in irreführender Weise auch der Staat Israel als Zielscheibe und Opfer des Antisemitismus figuriert: „als jüdisches Kollektiv“ (siehe den dritten Satz der IHRA-Definition: “Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“). Da der israelische Staat sich als „jüdischer Staat“ versteht, kann jeder Einwand gegen dieses Konzept zugleich als antisemitische Fundamentalkritik am Staat Israel verstanden und verurteilt werden.

      Während das antisemitische Vorurteil rassistischer Prägung sowohl jüdische Individuen als auch die gesellschaftliche Minderheit der “Juden” betraf und betrifft, wird mit Hilfe der IHRA-Definition die Regierung der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels in Schutz genommen und zum Tabu erklärt. Damit wird der auf solche Weise erweiterte Antisemitismusbegriff zu einem Instrument der Manipulation seitens derjenigen, die ein Interesse an der Immunität israelischer Regierungs-, Militär- und Besatzungspolitik haben – oder die, wie nicht zuletzt die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, ein Interesse haben an Waffenlieferungen nach Israel und an der militärischen Zusammenarbeit mit der israelischen Besatzungsarmee.

      Die staatliche bzw. religionsstaatliche Erweiterung des Antisemitismusbegriffs wird nicht sachlich begründet, sondern behauptet und – mit Verweis auf die rund sechs Millionen gemeuchelter Juden – in moralisierender Weise beschworen. Moral, Irrationalismus und Gewalt ergeben eine explosive Mischung, und das in tückischer Berufung auf die Getöteten in den Konzentrationslagern. Somit erlangen Antisemitismusvorwurf und -anschuldigung einen gefährlichen Stellenwert in der politischen Auseinandersetzung. Es entsteht ein neues Schmäh- und Feindbild, gegen das sich zur Wehr zu setzen als angebliches Beweismittel gilt: der „Antisemitismus“.

      Der Vorwurf des „Antisemitismus“ erweiterter Art hat – gewollt oder ungewollt – die Normalisierung des antisemitischen Rassismus zur Folge. Er dient einerseits der Verdrängung der wahren Ursachen, zu denen auch der Klassenwiderspruch zählt, und andererseits als paradoxe Verdächtigung zur Stigmatisierung, als ideologischer Maulkorb. Die IHRA-Definition gilt als Nonplusultra einer Begriffsbestimmung des Antisemitismus und blendet daher die Notwendigkeit von wissenschaftlicher Forschung, gesellschaftlicher Prävention, historischer Aufklärung und humanistischer Pädagogik im Hinblick auf den rassistischen Antisemitismus weitgehend aus. Doch wem nützt das?

    • 8.2 Widersprüche der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung werden verschleiert

      Der Gebrauch des Terminus Antisemitismus dient heute, wie die Erfahrung zeigt, nicht zuletzt der Entstellung und Brandmarkung von Kritik, vor allem der Kritik aus progressiver und pazifistischer Perspektive. Dabei gerät die entschiedene Verurteilung sowohl der rassistischen Instrumentalisierung des Antisemitismus in den Zwangsarbeitslagern und der Vernichtungsindustrie der NS-Diktatur bzw. der Wiederkehr faschistischer Regierungsmehrheiten in Europa in den Hintergrund. Nicht zuletzt vernebelt der auf dem erweiterten Begriffsverständnis fußende Antisemitismusvorwurf – wie auch schon der klassische Rasse-Antisemitismus – die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wie sie im gegenwärtigen Stadium des globalen Imperialismus erneut virulent sind.

      Die Ablenkungs- und Vertuschungsfunktion des rassistischen Antisemitismus auf der einen Seite und des ganz anders gearteten, “antideutsch” argumentierenden Antisemitismusvorwurfs gegen Kritik an Netanjahu und den Bankstern der Wallstreet andererseits erklärt, warum sich sowohl das Europaparlament als auch die Bundesregierung die irreführende IHRA-Definition zu eigen gemacht haben. Ausgestattet mit dem Instrument einer undemokratischen und manipulativen Begriffsdefinition, wurden in Deutschland von der Bundesregierung und einer Reihe von Landesregierungen Antisemitismus-Beauftragte berufen. Ihr skandalisierendes Wirken lenkt die Öffentlichkeit ab von den gesellschaftlichen Widersprüchen, politischen Konflikten und ökonomischen Krisen: u. a. von wachsender Armut und Verelendung, vom Vertrauensverlust unter den Verbündeten, von der europaweiten Refaschisierung und den Banken-“Rettungsschirmen” auf Kosten der Steuerzahler und Kleinen Leute.

    • 8.3 Ein Instrument zur Schuldabwehr und zur gesellschaftlichen Spaltung

      Ein weiterer Grund für die politische Nützlichkeit der IHRA-Definition ist zu nennen: Beide Formen des Antisemitismus – der rassistische, welcher „die Juden“ irrational angreift, ebenso wie der erweiterte, welcher zum Zweck der Verdrängung, Verdächtigung und stillschweigender Komplizenschaft instrumentalisiert wird – dienen der gesellschaftlichen Spaltung. Der rassistische Antisemitismus spaltete und spaltet die Gesellschaft in eine jüdische Minderheit und eine nicht-jüdische (“arisch-reinrassige”) Mehrheit.

      Der erweiterte Begriff des Antisemitismus spaltet die Gesellschaft ebenfalls: in die Minderheit derjenigen, welche sich der per Staatsraison proklamierten und von den jüdischen Kultusgemeinden in Deutschland unterstützten Tabuisierung israelischer Politik nicht beugen, und die große Mehrheit jener Deutschen, welche sich im kollektiven Unterbewusstsein Versöhnung und Entlastung versprechen von den seit Kriegsende verdrängten und nicht betrauerten Schuldgefühlen. Indem sie Israel als „jüdisches Kollektiv“ in der Tradition der Verfolgungsgeschichte von Juden im Dritten Reich zu verstehen meinen, entheben sie den israelischen Staat und die Politik der israelischen Regierung jeder Kritik und der Verantwortung für ihr Handeln gegenüber den entrechteten Palästinensern.

      So wie ihre Väter und Großväter behaupteten, von den Naziverbrechen nichts gewusst zu haben, so wollen sie von der politischen Realität im Nahen Osten nichts wissen und die dort herrschende Politik nicht zur Kenntnis nehmen. Was sich in Israel und Palästina täglich abspielt, entlastet sie von der eigenen historischen Schuld. Deshalb wird auch jeder Vergleich bereits im Ansatz als “antisemitisch” abgeblockt, und zwar sowohl aus deutscher als auch mehrheitlich aus israelischer und jüdischer Sicht.

      Ein solcher Vergleich, der durchaus keine Gleichsetzung bedeutet, gilt als schwerer Regelverstoß, weil er die verbrecherische Politik der Nazi-Vergangenheit und ihrer Folgen vor Augen führen würde. Die Sprachregelung und Begriffsakrobatik in Sachen Antisemitismus hilft den angeblichen Freunden Israels darüber hinweg, aus “Unfähigkeit zu trauern” (Alexander und Margarete Mitscherlich), nicht in der Lage zu sein, sich bewusst – nicht in schuldbehafteter Verdrängung – der historischen Erfahrung des Faschismus zu stellen und der Tatsache seiner Wiederkehr zu widerstehen.

Titelbild: Fidan Farajullayeva/shutterstock.com


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